Vorwort

Gewalt wird in unserer Gesellschaft zu Recht geächtet. Schon ihre Erwähnung lässt erschauern und löst Abwehrreflexe aus. Gewalt muss bekämpft, sanktioniert, therapiert oder – noch besser – mit geeigneten Präventionsmaßnahmen verhindert werden.

Wie von allem Schrecklichen geht vom Phänomen der Gewalt aber auch eine Faszination aus. Es ist der Reiz des Risikos, des Verbotenen, des Bösen und der Ausübung von Macht, der viele in seinen Bann zieht. Wäre dem nicht so, wäre Gewalt in unserer Kultur wohl längst ausgerottet. Die Anziehungskraft, die Gewalthandlungen auf uns ausüben, wird allerdings selten thematisiert. Der Titel dieses Buches – »Faszination Gewalt« – mag deshalb befremdlich oder sogar provokativ erscheinen. Wir haben ihn aber mit Bedacht gewählt, denn das zwiespältige Verhältnis, das wir zur Gewalt haben, ist zugleich ihr wichtigster Nährboden.

Im Buch geht es zwar in erster Linie um Jugendgewalt. Diese ist aber nur eine von vielen Manifestationsformen der Gewalt in unserer Gesellschaft. Nicht nur Jugendliche üben Gewalt aus, nicht alle Jugendlichen sind gewaltbereit und Jungsein allein entschuldigt Gewalt nicht. Trotzdem ist es gerechtfertigt, auf die Jugendgewalt ein besonderes Augenmerk zu legen, denn sie hat ihr eigenes Gepräge, steht in einem sensibleren Bezug als andere Formen der Gewalt zu gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und ist durch geeignete Maßnahmen leichter beeinflussbar als andere Formen der Gewalt.

Wo Prävention ansetzen muss

Wiewohl Gewalt in unser aller Alltag präsent ist, prägen spektakuläre Einzelfälle von Schulamokläufen, Gruppenvergewaltigungen und brutalen Aggressionen gegen wehrlose Opfer das Bild, das wir von der sogenannten Jugendgewalt haben. Diese Ereignisse werden medienwirksam dargestellt, von Fachleuten aufgearbeitet und sind für die Politik oft handlungsbestimmend. Für die tatsächliche Situation der Jugendlichen sind sie jedoch irrelevant.

In der Regel handelt es sich um seltene Ereignisse, die – wie Erdbeben – immer und überall Vorkommen können. Bedeutsam für unser Leben sind aber alltägliche, wiederkehrende, oft kaum beachtete Gewalthandlungen. Auf diese sollten sich Präventionsprojekte ausrichten. Es kann völlig in die Irre führen, wenn Einzelereignisse die Gesellschaft derart hypnotisieren, dass sie, wie das legendäre Kaninchen vor der Schlange, handlungsunfähig wird. Für solche zwar seltenen, aber oft sehr tragischen und für die Opfer folgenschweren Gewalthandlungen muss die Gesellschaft eine Verblüffungsresistenz entwickeln. Sie muss befähigt werden, ohne Panik, mit Augenmaß zu reagieren und den Betroffenen wirksam zu helfen, stets die langfristigen Ziele im Auge behaltend. Gewaltprävention ist Weben am großen Tuch, da darf man sich durch das Reißen eines Kettfadens nicht aus dem Konzept bringen lassen. Wir hoffen, dass dieses Buch dem Leser oder der Leserin hilft, aufwühlende Einzelfälle richtig einzuordnen.

Interdisziplinäre Bekämpfung der Gewalt

Man kann nicht sagen, dass sich in unserer Gesellschaft niemand um die Jugendlichen kümmere. Gerade mit Kindern und Jugendlichen, die Probleme haben und Probleme machen, beschäftigen sich Fachleute aus sehr vielen verschiedenen Disziplinen, zum Beispiel aus der Pädagogik, sozialen Arbeit, Psychologie, Psychiatrie, Jurisprudenz und Kriminologie.

Dazu kommt, dass viele Instanzen in der Jugendarbeit tätig sind, wie Gemeinden und Städte, Schulen, Kirchen, politische Gremien, Sportvereine und kulturelle Einrichtungen. Schließlich engagiert sich auch das persönliche Umfeld der Jugendlichen, gerade die Eltern, die oft unberechtigterweise in eine Sündenbockrolle gedrängt werden, obwohl sie als »heimliche Experten« für ihre Kinder einiges zur Lösung der Probleme beitragen könnten.

Die Zuständigkeit der Akteure ist aber nicht scharf abgegrenzt. Das kann zu Friktionen führen, sodass sich Interventionen von verschiedenen Seiten schlimmstenfalls gegenseitig neutralisieren können. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist deshalb eine der wichtigsten Herausforderungen bei der Gewaltprävention und der Betreuung delinquenter Jugendlicher.

Deshalb ist auch dieses Buch ein Gemeinschaftswerk von zwei Autoren aus unterschiedlichen Fachgebieten: der Kinderund Jugendpsychiatrie einerseits und der Erwachsenenpsychiatrie andererseits. Die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Disziplinen wird der Situation der straffälligen Jugendlichen in besonderer Weise gerecht, denn straffällige Jugendliche befinden sich in der Regel an der Schwelle zum Erwachsenenalter. Erwachsen im entwicklungspsychologischen Sinn wird man nicht punktgenau mit dem 18. Geburtstag. Vielmehr handelt es sich um einen Prozess, der mit der Pubertät beginnt und oft erst um das 25. Lebensjahr herum abgeschlossen ist. Es ist deshalb hilfreich, sich der Problematik der Jugendgewalt zugleich von der Seite der Psychiatrie des Kindesals auch des Erwachsenenalters zu nähern.

Gewaltprävention ist ein Dauerauftrag für die Gesellschaft

Arbeit mit straffälligen Jugendlichen ist zu einem bedeutenden Teil Beziehungsarbeit. Interventionen können nur auf dem Boden einer guten Beziehung gedeihen. Gute Beziehung ist aber nicht gleichbedeutend mit Nachgiebigkeit und Anbiederung. Es braucht vielmehr eine geschickte Regulierung von Nähe und Distanz, eine richtige Mischung von Verständniszeigen und Grenzensetzen. Das hat einerseits etwas mit Professionalität, andererseits aber auch mit Lebenserfahrung zu tun.

Fachwissen, wie es in diesem Buch vermittelt wird, ist vor allem dort wichtig, wo es um schwerwiegende Verhaltensauffälligkeiten und um psychische Störungen geht. 90 Prozent aller Schwierigkeiten, denen Eltern und Lehrpersonen im Alltag begegnen, können sie mit ihrem gesunden Menschenverstand beziehungsweise mit ihrer Berufserfahrung lösen. Wir müssen uns davor hüten, einfache Probleme zu verkomplizieren und die Jugend als Ganzes zu pathologisieren.

Wir arbeiten gerne mit Jugendlichen, denn diese Arbeit ist spannend und sowohl fachlich als auch menschlich herausfordernd. Arbeit mit Jugendlichen ist aber ergebnisoffen, wir wissen im Voraus nie, ob sie von Erfolg gekrönt ist. Selbst wenn das gewünschte Ergebnis eintritt, können wir den Erfolg nicht für uns beanspruchen, denn es gibt zu viele Einflussfaktoren, deren Wirkung wir nicht kennen.

Deshalb eignet sich die Arbeit mit Jugendlichen nicht für Narzissten, die sich in erster Linie selbst verwirklichen wollen. Jugendarbeit und vor allem Gewaltprävention eignen sich auch nicht als Wahlkampfthemen für Politiker, denn schnelle Resultate innerhalb einer Legislaturperiode können nicht erwartet werden. Vielmehr ist Gewaltprävention ein Dauerauftrag für unsere Gesellschaft, zu dem möglichst viele Akteure ihren Beitrag leisten sollten.

Jugendgewalt in seiner Komplexität erfassen

Wir haben das vorliegende Buch aus wissenschaftlicher Perspektive, aber allgemein verständlich geschrieben. Es vermittelt einen Überblick über das aktuelle Wissen zum Phänomen der Jugendgewalt. Adressaten sind interessierte Eltern, Lehrpersonen, Sozialarbeitende, Jugendanwälte, Sozialpädagoginnen, Psychologinnen, Psychiater und Politikerinnen. Es ersetzt aber weder einschlägige Fachliteratur für die vertiefte Auseinandersetzung mit einzelnen Themen (zum Beispiel Jugendstrafrecht, Neurobiologie der Pubertät, Umgang mit Sexualstraftätern etc.) noch das Erfahrungswissen von Eltern, Lehrpersonen und Jugendarbeitern.

Wir verzichten bewusst auf holzschnittartige Vereinfachungen, allgemeingültige Rezepte und pauschale Schuldzuweisungen. Jugendgewalt ist ein zu komplexes Phänomen, als dass es ausschließlich auf Gewalt verherrlichende Computerspiele, das Versagen der Eltern oder soziale Probleme zurückgeführt werden könnte. Deshalb gibt es auch keine griffigen Mittel, mit denen wir die Gewaltbereitschaft eines (zum Glück kleinen) Teils der Jugendlichen ein für alle Male aus der Welt schaffen können. Zielführend sind hingegen einige langfristig wirksame Maßnahmen zur Gewaltprävention und maßgeschneiderte Programme für gewaltbereite Jugendliche.

Josef Sachs

Volker Schmidt