Plymouth, 9. März anno 1728
Zweiter Tag im Heimathafen,
gesamte Ladung gelöscht.
50° 21’,Wind: NNO 22.5° 21 Knoten.
John Black
D ie Sonne schien durch die Zweige des Apfelbaums in den Garten der Schneiderei. Die ersten Primeln und Schlüsselblumen steckten die Köpfe aus der Erde. Der nahende Frühling war unübersehbar. Nur darauf achtete keins der drei Kinder, die auf einem Stapel Holzbretter saßen.
Tröstend legte Jakob seinen Arm um Amys Schulter. »Kannst ruhig weinen; als mein alter Herr starb, hab ich auch geheult wie ein Schlosshund.«
»Ich dachte, der hört überhaupt nicht mehr auf«, versicherte John und nickte nachdrücklich.
Amy musste fast ein bisschen lächeln bei so viel Fürsorge; normalerweise waren die beiden Nachbarsjungen eher schroff zu ihr. »Du hast echt geweint?« Sie zog geräuschvoll die Nase hoch.
»Klar, aber sag es niemandem weiter, sonst…« Jakob drohte mit der Faust und seine blauen Augen zogen sich zu kleinen schmalen Schlitzen zusammen.
»Mann, jetzt lass sie. Erzähl uns lieber noch einmal, wie dein Onkel starb«, bettelte John.
Amy spielte an einem ihrer dunkelblonden Zöpfe, es fiel ihr schwer, das Ganze noch einmal zu erzählen; aber sie wollte die Freunde nicht enttäuschen. »Der arme Onkel George hatte gestern Morgen Schmerzen in der Brust, ich kochte Bohnen mit Speck, und die schmeckten ausnahmsweise wirklich gut, da hatte er so komisch geatmet. Ich wollte eine Nachbarin zur Hilfe holen, aber er hielt mich fest und gab mir einen Schlüssel und sagte, die Truhe meiner Vergangenheit stehe auf dem Dachboden und ich könne mein wahres Leben mit einem Schiff erreichen. Dann hat er ganz komisch geröchelt … und dann war er tot.« Amys letzte Worte waren kaum mehr hörbar.
»Genauso war es bei meinem alten Herrn auch, ein Atemzug und dann war er tot, einfach so, und er ist nie wieder aufgewacht«, erklärte Jakob theatralisch. Es herrschte ein kurzes andächtiges Schweigen.
»Hast du schon gesehen, was in der Truhe ist?«, fragte John neugierig, und man sah es seiner sommersprossigen Nasenspitze an, dass er am liebsten selbst nachgeschaut hätte.
Amy schüttelte den Kopf.
»Du Spatzenhirn, die hat gerade andere Sorgen, vielleicht muss sie jetzt ins Heim«, schimpfte Jakob.
Bei diesen Worten schluchzte Amy noch mehr, ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
John boxte Jakob in die Seite. »Selber Spatzenhirn. Siehst du, jetzt heult sie, weil du das gesagt hast.«
Schuldbewusst wandte Jakob sich an Amy. »Ins Heim darfst du auf keinen Fall, wir brauchen dich als Königin, damit du uns – als John Hawkins und Francis Drake – zum Ritter schlägst, oder auch als die Frau von Robin Hood.«
Amy lächelte ihre beiden Kameraden dankbar an. Sie war das einzige Mädchen aus der Straße, das bei den Jungen mitspielen durfte. Wenn sie meist das Opfer von Piraten war, dem der Bauch aufgeschlitzt wurde. »Ich will auch hierbleiben. Meine Tante Ann, die verstorbene Frau von Onkel George, hatte noch Geschwister, vielleicht kann ich zu denen …«
»Ameeeliaaa«, erschallte eine schrille Stimme aus dem Haus.
»Wer heißt denn so?«, fragte Jakob.
»Ich. ‚Amy‘ hat meine Mutter mich genannt und ‚Amelia‘ ließ mich Tante Ann taufen. Als ich nach Plymouth kam. Aber wehe, du verrätst davon ein Sterbenswörtchen, dann …« Amy drohte mit der Faust, so wie es Jakob zuvor getan hatte.
Zögernd stand sie auf, verabschiedete sich von den beiden Jungen und ging zum Haus. Tante Elizabeth, die Schwester von Onkel George, die außerhalb von Plymouth einen Gutshof hatte und wegen des Todesfalls in die Schneiderei gekommen war, wartete ungeduldig an der Tür und musterte sie mit einem grimmigen Blick von oben bis unten. »Hast du kein Taschentuch?« Sie packte Amy am Ärmel und drehte ihn barsch um. »Sieh dir das an. Kein Wunder, dass meinem armen Bruder das Herz stehen blieb, Gott hab ihn selig.« Die füllige Dame bekreuzigte sich schnell und warf einen verzweifelten Blick gen Himmel.
Schuldbewusst zog Amy die Nase hoch.
»Oh nein, wie bring ich dir nur Manieren bei? Ich sagte George schon damals, Ann soll nicht das uneheliche Kind ihres Bruders aufziehen. Jetzt sind beide tot und an wem bleibt alles hängen …?« Sie schüttelte den Kopf, dass sogar der streng zurückgekämmte Haarknoten ins Schwanken geriet.
»Tante Ann hatte doch noch Geschwister, da kann ich bestimmt zu jemandem von denen.«
»Arm sind die. Die sind froh, wenn sie ihre eigenen hungrigen Mäuler stopfen können. Meinst du, sie legen Wert auf so eine wie dich. Und jetzt geh deine Hände waschen.«
Amys Lippen zitterten bei all den aufgestauten Gefühlen. Wie konnte Onkel George ihr das nur antun, sie einfach ganz allein auf der Welt zu lassen und dann noch mit so einer wie Tante Elizabeth? Kein Wunder, dass er seine Schwester nicht gemocht hatte.
Bevor Amy jedoch erneut in Tränen ausbrach, durchdrang unsanft Elizabeths Stimme ihre Gedanken. »Ich werde jetzt gehen und erwarte von dir, dass du hier aufräumst und dich nicht draußen mit den verlausten Jungen herumtreibst. Pack deine Sachen zusammen, du wirst morgen mit zu mir kommen. Hoffentlich hat dieses Mädchen nicht auch Läuse.« Den letzten Satz murmelte sie nur leise vor sich hin.
Ehe Amy etwas erwidern konnte, fiel die Haustür ins Schloss. Sie sollte also in Zukunft bei Tante Elizabeth leben? Das war zu viel für sie. Amy ließ sich auf einen Stuhl in der Küche plumpsen und wartete darauf, dass jetzt ganz viele Tränen flossen. Am besten so viele, dass sie hier in der Küche auf der Stelle ertrank. Es kam jedoch keine einzige Träne, sie ärgerte sich nur ungeheuerlich über Tante Elizabeth und wollte auf keinen Fall zu ihr mitkommen.
Da sah sie ihn − auf dem Küchentisch lag der kunstvoll verzierte Schlüssel zur Truhe. Sie musste unbedingt schauen, was darin war. Vielleicht ein Hinweis, wo ihre Mutter lebte? Amy wusste nicht viel über ihre Eltern, nur dass ihre Mutter sehr jung war und sie nie über den Tod von Amys Vater hinwegkam; und dass sie auf einer kleinen Insel lebte.
Eilig lief sie die Stufen zum Speicher hinauf und öffnete die Tür. Ein modriger Geruch stieg ihr in die Nase. Amy sah sich auf dem dämmrigen Dachboden zwischen all dem Gerümpel um. Schließlich, nach einer ganzen Weile, entdeckte sie eine schmiedeeisern verzierte Truhe unter dem kleinen Dachfenster.
Ihr Herz begann heftig zu pochen. Mit zittrigen Fingern steckte sie den Schlüssel in das Schloss. Er passte, ließ sich aber nur schwerfällig umdrehen. Beim Anheben des Deckels quietschten die Scharniere, was die unheimliche Stille des Dachbodens durchdrang, sodass sich Amy erschrocken umsah. Außer dem Staub, der im Sonnenlicht tanzte, war jedoch nichts zu sehen. Wer sollte auch hier sein, sie war ja ganz alleine, Tante Elizabeth würde so schnell nicht wiederkommen.
Neugierig wagte sie einen Blick in die Kiste, über dem Inhalt lag schützend ein Leinentuch.
Als sie es wegnahm, kamen Jungenkleider zum Vorschein. Ein weißes Spitzenhemd, eine beige Weste, eine braune Kniehose aus festem Leinenstoff, ein passender Gehrock, ein schwarzer Dreispitz und ein rot gemustertes Tuch, das sie sich gleich um den Hals band. Seufzend setzte sie sich auch den Hut auf. Einmal so angezogen zu sein wie ein Junge, in praktischen Hosen ungehindert auf Bäume klettern zu können und mit John und Jakob Piraten zu spielen, oder noch besser, sie könnte Robin Hood sein und nicht nur Marian, die Frau von Robin Hood – das wäre ein richtiges Abenteuer. Jungen durften so viel mehr als Mädchen.
Plötzlich wurde sie sanft von einer kleinen, feuchten Schnauze angestupst. Der rot getigerte Kater schlängelte sich unter ihrem Arm hindurch, stellte sich mit beiden Vorderpfoten auf die Kiste und sah neugierig hinein.
»Oh Henry, schön, dass du mich gefunden hast. Was meinst du, soll ich diese Kleider anziehen?«
Der Kater sah sie mit seinen grünen Augen an und gab ein liebenswürdiges »Miau« von sich, das wohl »Ja« hieß.
Achtlos warf Amy das Trauerkleid auf die schmutzigen Dielen. Dann schlüpfte sie in die Jungenkleider. Sie waren ein bisschen zu groß, aber das machte nichts. Großartig. Amy drehte sich und hüpfte umher, sodass die Holzdielen nur so knackten – bis ihr der verstorbene Onkel wieder in den Sinn kam. Sich zu freuen, gehörte sich in dieser Situation nicht.
Bei einem Griff in die Jackentaschen fand sie eine geschnitzte Flöte, die beim Hineinblasen quietschende Töne von sich gab.
»Wem die wohl gehört hatte?«, überlegte Amy laut und steckte die Flöte zurück in die Tasche.
Dann beugte sie sich erneut über die Truhe, legte einige Babykleider und eine gestickte Decke zur Seite, um dann aber enttäuscht feststellen zu müssen, dass sich außer dem roten Samt, mit dem die Kiste ausgeschlagen war, nichts mehr darin befand.
Dabei hatte sie so viel Hoffnung gehabt, einen Hinweis von ihrer Mutter zu finden. Tante Ann hatte ihr erzählt, dass ihre Mutter irgendwo auf den Westindischen Inseln lebte und dass sie Amy im Alter von zwei Jahren nach England geschickt hatte – weil sie hier anscheinend besser versorgt wäre. Was Amy nie so ganz verstanden hatte. Denn obwohl sie Tante Ann und Onkel George mochte, wäre sie viel lieber bei ihrer Mutter geblieben. Und jetzt war die Truhe leer, und Amy wusste genauso viel wie zuvor.
»Henry, was soll ich jetzt machen?« Amy seufzte schwer, sie fühlte sich allein und verlassen von allen, die sie jemals geliebt hatte.
»Miau«, ertönte es aus dem Inneren der Kiste. Henry spielte mit einem Faden, der langsam eine Naht im roten Samt auflöste. Amy erkannte, dass diese Stelle nachträglich zugenäht worden war. Sanft schob sie Henry beiseite und löste mit ihren abgenagten Fingernägeln den Faden so weit, dass ihre Hand durch die Öffnung der Naht passte.
Langsam tastete sie sich nach innen, bis sie auf etwas Hartes stieß. Vorsichtig zog sie es heraus. Es war ein Säckchen, voll mit Gold- und Silbertalern. Staunend ließ sie die Münzen durch die Finger gleiten.
»Oh, ein richtiger Schatz. Schau mal, Henry, wir sind reich.« Der Kater bekam einen Kuss auf die Katerstirn und wurde so fest gedrückt, dass er ein gequältes Maunzen von sich gab und sich mit den Vorderpfoten von ihrer Brust abstieß.
»Lass uns schnell nachschauen, was da noch drin ist.«
Wieder steckte sie ihre Hand durch das Loch und fand noch ein kleines Messer, verziert mit einer goldenen Einlegearbeit im Griff, und – eine Landkarte. Die Karte aus vergilbtem Papier war sorgsam in eine Hülle aus geöltem Leder eingepackt, die sie wohl vor Nässe schützen sollte.
Mit ehrfürchtigem Staunen faltete Amy die Karte auf. Das Papier knisterte.
Auf der Karte entdeckte sie ein großes Meer und einen halbmondförmigen Landstrich, vor dem sich unzählige kleine Inseln befanden. Eine von ihnen war markiert. Und etwas war mit verschnörkelter, unleserlicher Schrift danebengekritzelt.
»Verflixt, warum kann ich das nicht lesen?
Henry, ob Onkel George wohl meinte, dass hier, auf dieser Insel, meine Mutter lebt? Aber wie kann ich nur dahinkommen? Eines weiß ich jedenfalls sicher: Ich will nicht zu Tante Elizabeth, die kann ich nicht leiden.« Amy äffte Tante Elizabeth übertrieben nach: »Ameeeeliaaaa, wie du nur wieder aaaussiehst. Aber ich habe es George ja gleeeich gesagt, dass du uuunmöglich bist, und alles bleibt immer an miiir hängen.« – Nein, zu Tante Pingelig wollte sie auf keinen Fall.
»Henry, du weißt doch, was mein allergrößter Traum ist: ein Schiffsjunge zu sein, so wie mein Vater es war, als er so alt war wie ich. Henry, ich werde Schiffsjunge und ich werde zu diesen Inseln fahren.« Entschlossen stemmte sie die Fäuste in die Hüften. »Zum Glück bin ich nicht so ein stupsnasiges, blond gelocktes Mädchen. Und genügend Geld habe ich auch.« Sie knabberte am Nagel ihres Zeigefingers und überlegte: »Nur … ein richtiger Junge hat nicht so lange Haare.«
Gesagt – getan. Ohne zu zögern, schnitt sie sich mit dem Messer ihre langen Zöpfe ab und warf sie in die Kiste. Dann riss sie sich aus dem Leinentuch der Truhe einen Streifen ab und band sich damit einen kurzen Zopf im Nacken. Sie war fest entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
»Siehst du, Henry, so schnell wird man ein Junge.« Schweren Herzens schloss Amy die Haustüre. Henry saß hinter der Tür und miaute jämmerlich, was ihr unendlich leidtat.
Aber was sollte sie machen? Sie musste ihn zurücklassen.
Amy fühlte sich auch etwas unbehaglich, weil sie morgen bei der Beisetzung des Onkels nicht dabei sein konnte – aber wenn sie wirklich als Schiffsjunge die Meere befahren wollte, um ihre Mutter zu suchen, musste sie sich schnell aus dem Staub machen. Tante Elizabeth würde es ihr keinesfalls erlauben, als Junge verkleidet ihre Mutter zu suchen.
Krampfhaft umklammerte sie die Flöte in ihrer Jackentasche. Ihr Vater war auch ein willensstarker Mensch gewesen, das hatte Tante Ann ihr erzählt. Und weil die Familie arm gewesen war, hatte Amys Vater sehr früh als Schiffsjunge auf einem Kriegsschiff angeheuert. Als seine Tochter wollte sie genauso mutig sein wie er.
Den Hut tief ins Gesicht gezogen, eingemummt in Onkel Georges Schal, damit niemand sie erkannte, lief sie zügig die Straße an den Fachwerkhäusern entlang, hinunter Richtung Hafen. Am liebsten hätte sie Jakob und John noch Lebewohl gesagt, aber sie befürchtete, dass ihr die beiden Jungen ihr Vorhaben ausreden könnten.
Am Ende der schmalen Straße, am großen Kastanienbaum, begegnete ihr ein älterer, elegant gekleideter Herr. Sein Gesicht war von einem tiefen Bronzeton. Solch eine wettergegerbte Haut konnte nur ein Seemann haben. Er schwang locker einen Spazierstock und am kleinen Finger seiner rechten Hand steckte ein auffallender Siegelring. Die Diamanten, die den Stein umrahmten, funkelten in der Sonne. »Junger Mann, weißt du, wo der Schneider wohnt?«, fragte er höflich.
Amy vermied es, dem Fremden direkt ins Gesicht zu sehen, sie starrte auf den Ring, der ihr irgendwie bekannt vorkam. »Vorletztes Haus, links«, brummelte sie in den Schal und lief eilig weiter. Puh, die erste Probe war bestanden, er hat sie für einen Jungen gehalten. Aber was wollte ein so edler Herr von ihrem Onkel? Er trug Schuhe aus feinstem Leder. Trotz der eleganten Kleidung wirkte er furchteinflößend. Amy war froh, dass sie nicht zuhause war und ihm dort die Tür geöffnet hatte. Vom Hafen her wehte ihr ein salziger Duft entgegen. In diese Richtung musste sie gehen.Als die ersten Masten der Schiffe in Sicht kamen, vergaß sie den mysteriösen Mann. Interessiert beobachtete Amy das rastlose Treiben der Seeleute am Hafen. Sie liebte den frischen, salzigen Geruch, auch wenn es, je nach Windrichtung, ein bisschen nach Fisch und Teer stank.
Heute lagen etliche Segelschiffe an den Anlegestellen. Mit großen Augen staunte sie jedes Mal über die Takelung der Segel, ein Gewirr aus unzähligen Tauen. Vor manchen Schiffen standen Fuhrwerke, beladen mit Kisten und Fässern, die darauf warteten, tief in den Schiffsrumpf verladen zu werden. Kreischende Möwen lauerten im Rundflug, ob Leckerbissen für sie abfielen.
Beeindruckt beobachtete sie die Männer aus aller Welt in ihrer sonderbaren Kleidung und mit jenem schwankenden Gang, der vom langen Aufenthalt auf einem Schiff zeugte.
Amy sog die salzige Luft tief ein – heute war es ein anderes Gefühl, hier zu stehen, als früher: Sie empfand Angst, gemischt mit Abenteuerlust, Trauer wegen Onkel Georges Tod und große Ungewissheit, was alles auf sie zukommen würde. Dabei hielt sie die Flöte in ihrer Tasche fest umklammert. Und plötzlich überkam sie der Drang, umzukehren und nach Hause zurückzulaufen.
Aber nein, sie konnte nicht mehr zurück – besser, sie suchte sich jetzt gleich ein Schiff aus, auf dem sie als Schiffsjunge anheuern konnte. Amy zog den Schal enger um sich. Sie fröstelte, denn trotz des Sonnenscheins war die Seeluft Anfang März noch sehr kalt.
Black, ein düsterer Seemann mit scharfkantigen Gesichtszügen, stand an der Reling. Er hatte schwarze Locken, die zu einem losen Zopf zusammengebunden waren, und trug einen Dreispitz. Einen Fuß auf den unteren Teil der Brüstung gestellt, schaute er nachdenklich auf Plymouth. Immer wenn er hier war, spürte er, dass hier ein Teil seiner Vergangenheit liegen musste. Vor einigen Jahren hatte er bei einem Schiffsunglück sein Gedächtnis verloren. Bei manchen Ereignissen oder Städten kamen immer wieder Bruchstücke der Erinnerung hoch, die er jedoch nicht einordnen konnte.
Ob er früher wohl auch so ein Junge gewesen war wie der kleine Kerl, der da an der Mauer lehnte?
»Hey, Black, fass mal mit an, du kannst auch heute Nacht noch von schönen Frauen träumen.« Eduard, ein kleiner, hagerer Seemann, dem ein Schneidezahn fehlte, riss Black aus seinen Gedanken.
Seufzend wandte sich Black wieder seiner Arbeit zu. Vielleicht war es ja besser für ihn, seine Vergangenheit nicht mehr zu kennen. Das Wenige, das er über sich wusste, könnte schon reichen, um am Galgen zu baumeln …
Morgen früh, mit den ersten Sonnenstrahlen, würden sie nach Indien auslaufen, deshalb blieb jetzt keine Zeit für irgendwelche Gedanken, die zu nichts führten.
Später, auf dem Weg zur Schenke, bemerkte er den Jungen wieder. Einen kurzen Moment sah Black in dessen moosgrüne Augen.
»Hast du Fernweh, Grünschnabel?«, fragte er mit einer tiefen, angenehmen Stimme.
»Ich bin kein Grünschnabel, aber ich wäre gerne Schiffsjunge.«
Amy hatte den Mann von dem Schiff mit einem prächtigen Löwen als Galionsfigur kommen sehen. Er war größer als die anderen Seemänner und trug eine Wolljacke, die wohl einmal schwarz gewesen war, ein weißes, schlichtes Hemd und graue Kniehosen. Um den Hals hatte er ein rot gemustertes Halstuch gebunden – genau wie sie.
Ein paar dunkle Strähnen hatten sich aus seinem Zopf gelöst. Sie fielen ihm über die Stirn und verdeckten nur teilweise eine lange blasse Narbe am Haaransatz, die vom Scheitel bis zur Schläfe verlief.
»Was sagen denn deine Eltern dazu?« Prüfend sah er sie an.
»Ich habe keine Eltern, und mein Onkel, bei dem ich bis jetzt gelebt habe, ist gerade gestorben.« Sie wischte sich mit dem Ärmel der Jacke über die Nase.
Der Seemann reichte ihr ein Taschentuch. »Du hast wohl keins, du kannst meins haben. Wie alt bist du denn?«
»Danke, Sir. Bald Dreizehn. Fährt das Schiff an vielen Inseln vorbei?« Sie zeigte auf den roten Löwen, die Galionsfigur des Schiffs, von dem er gekommen war. Dann putzte sie sich geräuschvoll die Nase und steckte das Taschentuch in ihre Hosentasche.
»Wir segeln sogar an sehr vielen Inseln vorbei, bis wir in Indien sind.«
Amy strahlte – Indien. Von da war es bestimmt nicht weit bis Westindien. Was für ein großer Irrtum das war, ahnte sie nicht und fragte deshalb hoffnungsvoll: »Das ist gut, kann ich als Schiffsjunge mitfahren?«
»Wie heißt du?«
»Am … – äh, Robin. Robin Tailor, Sir.« Gerade noch rechtzeitig war Amy eingefallen, dass sie jetzt ja ein Junge war. So erfüllte sich ihr Wunsch schneller, als sie dachte, einmal Robin Hood zu sein. Ein Glück, dass ihr so schnell der Name eingefallen war. Krampfhaft umklammerte sie die Flöte in ihrer Tasche und hoffte, dass der Seemann ihr wirklich abnahm, dass sie ein Junge war.
Der Seemann grinste, wobei man eine Reihe weißer Zähne sah. »Ah, Robin Tailor, ich heiße John Black, aber alle sagen nur Black.« Er reichte ihr die Hand. »Robin, ein Schiffsjunge zu sein, ist nicht ein fach, die Arbeit ist hart und Seeleute sind ein raues Volk.«
»Sir, das macht mir nichts, ich will alles lernen. Hauptsache, ich werde Schiffsjunge.«
Black nickte ernst. »Also gut, ich werde sehen, was ich für dich tun kann. Hast du Hunger?«
Amy nickte. »Ja, Sir.«
»Dann lass uns zur Schenke gehen, dort sind auch der Kapitän und ein Teil der Mannschaft.«
Zusammen gingen sie den Pier entlang in Richtung Hafenschenke. Amy konnte kaum seinen großen Schritten folgen und ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Hoffentlich merkte niemand, dass sie in Wahrheit ein Mädchen war. Sie wollte unbedingt mit auf das Schiff.
In der voll besetzten Schenke stand die Luft. Ein Dunst aus Rauch, abgestandenem Ale und verschwitzten Männerkörpern hing über allem.
Amy musste blinzeln, bevor sie in der dicken, verrauchten Luft etwas erkennen konnte.
»Aye, aye, Käpt’n, ich hab einen kleinen Grünschnabel gefunden, er will bei uns als Schiffsjunge anheuern«, begrüßte Black einen grauhaarigen Mann mit hochgezwirbeltem Schnurrbart, der an einer Tabakpfeife zog. Seine Kleidung war edel, entsprach aber noch der Mode des vorigen Jahrhun derts mit üppiger Spitze und hohen Aufschlägen an den Ärmeln.
Der Kapitän musterte Amy von Kopf bis Fuß aus seinen blauen, von vielen Fältchen umkränzten Augen. »Ich bin Kapitän Cornelius Reers. Mhh, einen Schiffsjungen könnten wir gut gebrauchen, Gilbert ist langsam zu alt dafür. Aber ist er nicht ein bisschen zu klein? Zart wie ein Mädchen, da reicht ein Windhauch und er fliegt uns auf und davon.«
Amy wurde blass. War ihre Tarnung aufgeflogen?
»Mit ein paar Gewichten an den Beinen wird es schon gehen. Und er wächst ja noch«, schmunzelte Black. Die Matrosen, die mit am Tisch saßen, lachten.
Amy fiel ein Stein vom Herzen. Mit feuerroten Ohren stand sie da. Ihr wurde klar, dass es nicht einfach werden würde auf einem Schiff voller ungehobelter Männer. Tapfer schluckte sie ihre Angst hinunter und grinste spitzbübisch.
»So brauche ich schon nicht viel Platz und auch nicht viel zu essen. Außerdem bin ich flink und geschickt«, übertönte sie die Lautstärke, die in der Schenke herrsche.
Jetzt grölte die Meute vor Lachen.
»Setz dich, Junge – ich sehe schon, du bist nicht auf den Mund gefallen. Das gefällt mir. Und jetzt lang mal tüchtig zu, so gutes Essen wirst du nun lange nicht mehr sehen.«
Der Kapitän deutete ihr an, sich zu setzen.
Eine junge Frau mit dunklem Haar brachte das Essen an den Tisch. Das Interesse an Amy war sofort verflogen, die Männer hatten nur noch Augen für die Kellnerin. Diese ließ jedoch alle gekonnt abblitzen; nur zu Black war sie nett. Er war auch einer der Jüngsten am Tisch, obwohl seine Haare bereits mit grauen Fäden durchzogen waren.
Amy aß nur eine kräftige Suppe, sie war viel zu aufgeregt, um mehr zu essen. Außerdem fiel es ihr schwer, so lange still zu sitzen. Jetzt gähnte sie herzhaft. Vor lauter Aufregung hatte sie nicht mehr daran gedacht, wie müde sie eigentlich war, denn in der vergangenen Nacht hatte sie kaum geschlafen.
Black bemerkte es.
»Bist du müde, sollen wir auf das Schiff gehen?«
»Da ist es bestimmt besser als hier.«
»Das wirst du bald merken.« Black winkte den Wirt zu sich, um zu bezahlen.
Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Amys Kopf schmerzte von dem Rauch und Gestank, nicht mal die würzige Seeluft, die sie tief einatmete, half. Doch all das nahm sie gerne in Kauf, denn endlich würde sie auf ein Schiff gehen; ihr großer Traum ging in Erfüllung.
Ihre Schritte erklangen dumpf, als sie über den Anlegesteg an Bord gingen. »Ich freue mich so, auf ein Schiff zu kommen.«
»Freu dich nicht zu früh, die meisten bereuen es schon nach wenigen Stunden. Heute Nacht kannst du in der Offizierskabine schlafen. Die meisten Männer werden erst im Morgengrauen an Bord kommen.«
Staunend stand Amy vor dem Großmast des Schiffs und schaute nach oben.
»Wie hoch der ist. Warum sind da so viele Seile?«
»Das heißt Taue auf einem Schiff. Aber komm – geh jetzt erst mal schlafen, ab morgen wirst du alles lernen.«
Sie folgte ihm in die Kabine, in der sich zwei Stockbetten, die fest mit dem Schiff verbunden waren, befanden, außerdem eine große Truhe an der Wand, ein Tisch mit Karten, Zirkel, Lot und Kompass.
»Da oben rechts kannst du schlafen.«
Sie legte ihren Hut und ihre Jacke auf die Truhe, stellte die Schuhe davor und kroch unter die Decke. Es dauerte nicht lange, bis sie durch das gleichmäßige Schaukeln des Schiffs eingeschlafen war.
Black saß am Schreibtisch und lauschte seinem Atem. Er hatte sich seine letzte Nacht an Land et was anders vorgestellt. Die dunkelhaarige Schönheit würde bestimmt noch auf ihn warten; aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Er schenkte sich ein Glas Wein ein und saß noch lange da und überlegte, warum ihn der Junge so rührte. Vielleicht erinnerte er ihn an jemanden – oder daran, dass er womöglich selbst Frau und Kinder hatte? Er fuhr sich mit den Fingern über die Narbe an der Stirn und fluchte leise; sein Leben war wie ein Gefängnis in einer dunklen Kammer, ohne eine greifbare Erinnerung. Mit einem Zug trank er das Glas leer, schnappte sich seine Jacke und verließ das Schiff.
Von Weitem beobachtete Black, wie die Schankmaid einen gefüllten Eimer ins Meer leerte und kurz darauf von einem torkelnden Kerl angepöbelt wurde. Die junge Frau verlor das Gleichgewicht und wäre fast ins Meer gestürzt, hätte sie der Wüstling nicht festgehalten.
»Du Widerling, lass mich sofort los!« Der Wind trug ihre schrille Stimme zu ihm.
»Stell dich nicht so an, Mädchen, gib mir lieber einen Kuss!«, lallte der Seemann.
Mit wenigen Schritten eilte Black der Maid zur Hilfe, mit einem Hieb streckte er den Mann zu Boden.
Der Kerl rappelte sich torkelnd auf. Black packte ihn am Kragen, zog ihn auf die Beine und sah ihm drohend in die listigen Augen. »Verschwinde und lass dich hier nie wieder blicken!« Der Fremde, der viel kleiner und schmächtiger als Black war, schluckte schwer, nickte und eilte davon, bis ihn die Dunkelheit verschluckte.
»Danke, dass Ihr mir geholfen habt, doch das wäre nicht nötig gewesen.« Sie richtete ihre Schürze, die im Eifer des Gefechts verrutscht war, und hob den Eimer auf.
»Das sah aber ganz anders aus, der Kerl hätte dich fast ins Meer geworfen.« Lässig lehnte Black sich gegen ein Fass.
»Was glaubt Ihr, dass sowas das erste Mal war?«, fragte sie keck, sie schien ihm nicht besonders dankbar für seine Rettung zu sein.
»Vermutlich nicht. Ich hoffe, ich hab dir jetzt nicht deine Kundschaft vertrieben?« Er verzog einen Mundwinkel zu einem Grinsen.
Sie lachte ironisch auf. »Auch ich habe meinen Stolz und lass mich nicht von jedem anpöbeln!« Sie sah ihn abschätzend an. »Ihr seid bestimmt auch nicht hier, um die klare Nachtluft zu genießen, und ich muss zugeben, Ihr seid mir allemal lieber als dieser stinkende Kerl!«
Black griff nach ihrem Handgelenk und zog sie an sich. »Heute ist meine letzte Nacht an Land und ich fühlte mich magisch von deinen dunklen Augen angezogen!« Wie füreinander geschaffen schmiegte sich ihr Körper an seinen. Ihre Hände legte sie um seinen Nacken und spielte mit seinen Locken, sie lächelte ihn verführerisch an.
»Wie ist dein Name?«, flüsterte er rau, bevor ihr Mund sich auf seinen senkte.
»Kate«, hauchte sie und knabberte an seiner Unterlippe.
»Kate, wie schön!« Black zog sie fest an sich, ihn durchdrang eine flammende Leidenschaft, als ihre Zunge seinen Mund eroberte. Sanft streichelte er über die freie Schulter bis zum Brustansatz. Sie seufzte und einen Moment sahen sie sich in die Augen, in ihre warmen, sanften Augen. Obwohl sie bestimmt kein leichtes Leben hatte, hatte sie was Unschuldiges an sich. Es war ihm ein Rätsel, denn er bevorzugte keinen bestimmten Frauentyp, es war ihm egal, ob sie blond, rot- oder schwarzhaarig war, nur in ihren Augen musste etwas Weiches und Zärtliches sein und es gefiel ihm, wenn sie nicht zurückhaltend war. Doch schon im nächsten Augenblick fühlte es sich falsch an, was er machte. Schwer ächzend löste er sich von ihr und fuhr mit dem Handrücken über seinen Mund.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie betroffen.
»Es liegt nicht an dir, du bist wundervoll …« Er sah sie sehnsuchtsvoll an, doch es war ihm unmöglich, nüchtern mit einer Frau zusammen zu sein, und das eine Glas Wein war entschieden zu wenig. Ihn plagten jedes Mal Schuldgefühle, die er sich nicht erklären konnte.
»Doch Ihr solltet bei Eurer Frau und Eurem Sohn sein, anstatt Euch hier mit mir rumzutreiben?«
Bedauernd zuckte er mit der Schulter. »Ich habe keine Familie!«
Erstaunt sah sie ihn an. »Und wer war der Junge?«
»Welcher Junge?«
»Mit dem Ihr heute Abend hier ward, ich habe euch bedient.«
»Ach, das war nur unser neuer Schiffsjunge.«
»Und ich dachte, er sei Euer Sohn.«
»Wie kommst du darauf?« Black suchte in ihren schönen Augen die Antwort.
»Es war nur so ein Gefühl, sonst nichts.« Kate zog bedauernd die Luft ein. »Dann werde ich schlafen gehen, es war ein harter Tag.«
»Warte, ich will dir noch etwas geben.«
Kate schüttelte schwach mit dem Kopf. »Lasst nur. Ihr habt mir heute den Glauben zurückgegeben, dass es noch anständige Kerle gibt. Schließt mich in Eure Gebete ein, dass ich einmal so einen Mann wie Euch finde.« Kate gab ihm einen Kuss auf die Wange und ging, bis auch sie von der Dunkelheit verschluckt wurde. So wie alles in seinem Leben.