10. März anno 1728
Neuer Schiffsjunge an Bord.
Im Morgengrauen Anker gelichtet.
48° 18’, Wind: NO 45°, 22 Knoten, Neumond.
John Blackk
K apitän Paulsgrave Williams brauchte erst mal ein kräftiges Frühstück, bevor er sich erneut auf die Suche nach dem Mädchen machte; gestern hatte er sie nicht wie erhofft in der Schneiderei angetroffen. Als ihm der korpulente Wirt seinen gebratenen Speck mit Eiern brachte, massierte sich Will erschöpft die Schläfe.
»Das ist wohl nicht Ihr Tag, Sir?«, brummte der Wirt und stellte geräuschvoll den Teller und einen Krug auf den Tisch.
»Nein, ganz und gar nicht; ich suche ein Kind, ungefähr dreizehn Jahre alt, mit auffallend grünen Augen.«
»Hm, gestern Abend war so einer da, er bezahlte mit einer seltenen Silbermünze, ich habe sie noch hier in der Schürzentasche.« Er fischte nach der Münze.
»Er? Ich suche ein Mädchen.«
Mit seinen dicken Fingern hielt ihm der Wirt schon das Silberstück vors Gesicht.
Will hätte sich fast am Speck verschluckt. »Beim Klabautermann – das ist eine Piece of Eight.« Er nahm sie und drehte die Seite mit dem Kreuz und der Prägung nach oben. »1688, die könnte von der Whydah stammen.«
Die Münze hatte sogar eine tiefe Kerbe quer über der Vorderseite: So teilten sich die Piraten ihre Beute oder vergewisserten sich, dass das Geldstück echt war. Gedankenversunken fuhr er mit einem Finger über den unregelmäßigen Rand und sah vor seinem inneren Auge den Piraten Samuel Bellamy ein letztes Mal an der Reling stehen, bevor die Whydah in ihr Unglück segelte.
»Die gehört mir, ich habe sie rechtmäßig erhalten.« Der Wirt zog Will unsanft die Münze aus der Hand, auf der drei tiefe Kratzspuren zu sehen waren. »Außerdem war das ein Junge und Ihr sucht ein Mädchen.«
In dem Moment kamen Will die abgeschnittenen Zöpfe in den Sinn, die er in der Truhe auf dem Dachboden gefunden hatte. »Es könnte auch ein Junge sein. Wissen Sie, wo er jetzt ist?«
»Wenn der Junge Glück hat und nicht absäuft, wird er in eineinhalb Jahren hier im Hafen wieder einlaufen. Seit dem Morgengrauen befindet er sich auf dem Roten Löwen .« Der Wirt machte eine kurze Pause, fuhr sich über sein lichtes Haar und sah Will prüfend an: »Richtung Indien.«
Will schlug mit der Faust auf den Tisch: »Verdammtes Balg. Na warte, wenn ich dich zwischen meine Finger bekomme.« Eilig stand er auf, sodass der Stuhl donnernd auf den Boden knallte, und warf ärgerlich ein paar Münzen auf den Tisch.
Der Wirt sah ihm kopfschüttelnd nach.
»Indien. Das Kind macht nichts als Ärger.« Will war aufgebracht. Wenn er nur ein paar Stunden eher hier gewesen wäre, hätte er die Göre jetzt. Doch die Behörde von Plymouth hatte ihn gestern festgehalten und stundenlang sein Schiff durchsucht. Bevor er zu der Schneiderei wollte, um das Mädchen zu suchen; seine bunt zusammengewürfelte Mannschaft war im Hafen aufgefallen.
Aufzufallen war in England eine gefährliche Sache. Ein Gesetz erlaubte es, Mitglieder der Unterschicht, die besser gekleidet waren, als es ein durch schnittliches Einkommen erlaubte, festzunehmen und vor Gericht zu stellen. Zum Glück hatte Will alle nötigen Papiere, um zu beweisen, dass er ein ehrbarer Mann mit sogar königlichem Blut war. Auch wenn es Will nicht behagte, seine schwarzen Freunde als Sklaven auszugeben.
Gestern hatte er schließlich noch das ganze Haus des Schneiders durchsucht, um einen Hinweis auf den Verbleib des Mädchens zu finden. Er entdeckte auf dem Dachboden auch die geöffnete Truhe mit der fauchenden Bestie, dem Kater, der die Kiste fast schon wie sein Eigentum verteidigte. Doch die Münzen und die Karte fehlten, hoffentlich waren sie nicht in falsche Hände geraten.
Er hatte Mary schon damals gesagt, die Sache müsse geheim bleiben, aber sentimentale Frauen folgen nicht der Vernunft, sondern ihrem Herzen. Jetzt hatte er den Ärger und musste das Kind finden, bevor es zu spät war. Das hatte er auch diesem Drachen Elizabeth versprochen, die ihm die Tür geöffnet hatte und so gar nicht damit einverstanden war, dass er das Haus durchsuchte.
Als er mit großen Schritten zum Hafen lief und seine Mannschaft in Sichtweite war, brüllte er: »Männer, macht klar Schiff, wir laufen heute noch vor Sonnenuntergang aus. Richtung Indien.«
Den in die Jahre gekommenen Roten Löwen wür de er mit seiner schnittigen Marianne , die auf Schnelligkeit konstruiert war, sicher rasch einholen.
An die Reling gelehnt sah Amy zu, wie das Schiff mit der Morgenflut langsam aus dem Hafen gezogen wurde, begleitet vom Kreischen der aufgescheuchten Möwen. Graue Schleier lagen über der Stadt. Nur an der Mole herrschte so früh lebhaftes Treiben. Es war bitterkalt, sodass der Wind Tränen in Amys Augen trieb. Sie hauchte sich warmen Atem in die Hände, um die klammen Finger zu wärmen, und zog sich den Schal bis über die Nasenspitze hoch.
Im Hintergrund hörte sie die sonore Stimme des Kapitäns. Cornelius Reers gab lautstarke Kommandos, die die Mannschaft eiligst befolgte. Jeder wusste, was er zu tun hatte, und bald füllten sich die gesetzten Segel mit Wind, und das Schiff gewann an Fahrt.
Amy sah hinüber zur St.-Andrews-Kirche. Heute war dort Onkel Georges Bestattung. Alles Vertraute ließ sie hinter sich, sie befand sich auf einem Schiff und ihre Zukunft lag im Ungewissen. Vor ihrem inneren Augen sah sie eine junge, wunderschöne Frau, die ihre Arme ausbreitete und liebevoll ‚Amy‘ sagte. Würde sie wirklich ihre Mutter finden? Die Welt war so groß und sie war nur ein kleines Mädchen. Bei der Erkenntnis musste sie sich an dem kalten Holz der Reling festhalten, um wenigstens irgendwo Halt zu finden.
Eine Bewegung hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken. Es war der Kapitän.
»So ein Abschied ist immer schwer.« Kapitän Reers klopfte ihr tröstend auf die Schulter. »Aber es tut nicht lange weh. Wenn so viel Neues auf einen zukommt, dann vergisst man das Heimweh schnell.«
Amy sah zu dem drahtig-schlanken Kapitän auf, der in seiner maßgeschneiderten Kleidung sehr erhaben wirkte. Er lächelte ihr aufmunternd zu, sodass ihr ein wenig leichter ums Herz wurde.
»Komm, Robin, ich zeige dir alles.«
»Müsst Ihr nicht weiter Kommandos geben?«, fragte Amy erstaunt.
»Wenn der Wind beständig bleibt wie heute, muss an den Segeln wenig manövriert werden. Unser alter Löwe ist eine Galione. Eine Galione ist meist ein dreimastiges Schiff, das zu den schnellen und auch wenigen hochseetauglichen Kriegsschiffen zählt. Dieses Schiff stammt aus Holland und wurde 1597 gebaut.«
»So alt ist der Löwe schon? Das sieht man ihm gar nicht an.«
»Ein Schiff wird nur so alt, wenn ständig alles erneuert wird.« Er machte eine kurze Pause und tätschelte den Mast, als wäre es sein Lieblingspferd. »Mein Vater war der letzte Kapitän vor mir. 1693, nach seinem Tod, erbte ich im Alter von 23 Jahren sein Schiff. Seitdem sind wir unzertrennlich.«
Amy hörte ihm aufmerksam zu. »Sir, darf ich auch mal da hochklettern?« Sie zeigte auf den Ausguck des Großmastes, wo ein rothaariger junger Mann saß und durch ein Fernrohr schaute.
Kapitän Reers erwiderte mit einem rauen Lachen: »Das wirst du noch früh genug tun. Wir sind nur dreißig Mann; da müssen alle zusammenhalten.«
In diesem Augenblick schlingerte das Schiff, und der Kapitän konnte Amy gerade noch auffangen, sonst wäre sie gestürzt.
»Bevor du aber auf den Ausguck hinaufsteigst, musst du dich erst an das Schwanken des Schiffes gewöhnen. Durch den Winddruck und die Wellen gibt es immer wieder mal unerwartete Schiffsbewegungen.«
Amy kräuselte verlegen die Nase und murmelte: »Danke, Sir.«
Kapitän Reers stieg mit ihr auf das niederste Außendeck hinunter und erklärte weiter: »Das hier nennt man Kuhl oder Hauptdeck. Hier kann man sich aufhalten, wenn man keine Wache hat. Da ist auch unser Beiboot, außerdem vier von insgesamt zwanzig Kanonen.«
»Müsst Ihr damit oft schießen?«
»Nein, schon lange nicht mehr. Da unser Schiff alt ist und wir nur Tee geladen haben, liegt der Löwe nicht tief im Wasser. Wir sind deshalb keine lohnende Beute. Wenn wir feuern, dann meistens Salutschüsse. Sobald man einen fremden Hafen anläuft, zeigt man durch das Entladen der Geschütze, dass man in friedlicher Absicht kommt.«
»Kann ich auch mal eine Kanone abschießen?«
»Das können nur geübte Männer, weil es beim Abfeuern einen starken Rückstoß gibt.« Amüsiert zwirbelte er seinen Bart nach oben und führte sie weiter.
»Hier neben dem Tor steht ein Fass mit Süßwasser. Davon kann man trinken und sich waschen. Man schöpft sich einen Eimer voll und gießt es in die Schüssel, die hier in der Vertiefung des Waschtisches hängt.«
Neben dem Fass stand ein Tischchen, das an der Wand befestigt war. Der Tisch hatte ein kleines Geländer, worauf eine Seife, ein Kamm und ein in Leder gehülltes Rasiermesser lagen, die alle angebunden waren. Darüber hing ein teilweise blinder Spiegel.
Kapitän Reers fuhr fort: »Und ganz wichtig, falls es brennt, auch zum Feuerlöschen. Deshalb sind die Eimer hier angebunden.«
»Damit sie bei starkem Seegang nicht ins Meer fallen?«
»Genau, außerdem könnten sie jeden schwer verletzen, wenn sie bei Wellengang über Deck geschleudert werden. Aus diesem Grund sind auch die Kanonen vertäut.«
Kapitän Reers berührte sie an den Schultern. »Komm, lass uns mal an den Bug gehen.«
Damit gingen sie durch das zweiflügelige Tor und gelangten in eine große Kammer. »Hier in der Back arbeiten der Segelmacher und der Zimmermann, überdies lagern hier auch Ersatztaue, Segel und Werkzeuge.«
Langsam durchquerten sie den Raum, der weder oben noch unten feste Decken hatte, nur Gitter.
»Durch diese schmale Tür kommen wir in den vordersten Teil des Schiffes, den Bug. Dort befindet sich die Latrine. Die Gitter hier oben und unten nennt man Gräting. Solche Grätings gibt es überall auf dem Schiff. Sie dienen der Belüftung der unteren Decks«, dozierte der Kapitän weiter, während sie durch die schmale Tür gingen, »oder wie hier am Bug dazu, dass das Spritzwasser wieder abfließen kann.«
»Hier ist es ja noch stürmischer«, stellte Amy fest und wich der Wasserflut einer Woge aus, die sich am Bug des Schiffes brach.
»Tja – windig und feucht; es wird erst angenehm, wenn wir in wärmere Gefilde kommen. Jetzt zeige ich dir noch, von wo aus der Löwe gesteuert wird. Der Steuermann hat einen Kompass und sagt dem Ruderführer, wie er das Ruder stellen muss, um das Schiff auf dem rechten Kurs zu halten. Aber das wirst du gleich alles selbst sehen.«
Während ihres Rundgangs auf dem Schiff redete Kapitän Reers zwischendurch immer wieder mit Mannschaftsmitgliedern, denen sie auf ihrem Weg begegneten, und stellte ihnen dabei Robin vor.
Schließlich gingen sie zurück durch eines der drei Tore und am Großmast vorbei, wo das Achterdeck begann. Dort stand ein massiver Tisch, auf dem Seekarten ausgebreitet lagen. Vor dem Besanmast führte ein Niedergang, so bezeichnete man die schmalen Treppen auf einem Schiff, zum höhergelegenen Achterdeck empor. Unmittelbar hinter dem Besanmast befand sich der Steuerstand. Hier stand der Rudergänger während seiner Wache auf einem Podest und konnte durch einen flachen Schlitz das vor ihm liegende Achterdeck und die Back überblicken. Hinter dem Steuerstand befand sich eine prächtig verzierte Holzwand, die über die komplette Breite des Decks verlief. Durch die wuchtige Tür mit einer bleiverglasten Scheibe gelangte man in die Kapitänskajüte.
»Unseren Rudergänger Black kennst du ja«, stellte Kapitän Reers fest. Amy nickte nur und sah interessiert zu, wie der Seemann das Schiff steuerte. Sie war viel zu klein, um aus der Lücke hinauszuschauen.
»Hallo Robin, wie gefällt dir unser Löwe? «, fragte Black.
»Großartig, Sir. Am besten haben mir die Kanonen gefallen.«
»Das glaube ich, die faszinieren alle kleinen Jungs. Aber nur bis zum ersten Einsatz – dann haben sie die Hosen voll.«
Die beiden Männer lachten, und auch den Steuermann, der ein Deck weiter oben stand, hörte man lachen.
»Ich habe keine Angst, Sir«, widersprach Amy.
»Gut. Ich erinnere dich daran, wenn es so weit ist.« Black zwinkerte ihr zu.
»Wenn du den Niedergang hochkletterst, lernst du unseren Steuermann Stephen Holbeck kennen.«
Als Amy ein Deck höher den Kopf hinausstreckte, nickte ihr ein älterer Mann mit tiefen Falten und schlohweißem Haar zu.
»Willkommen auf dem Löwen, Robin, hier bist du auf dem Kampanjedeck. Das Achterschiff ist ausschließlich für den Aufenthalt des Kapitäns und der Steuerleute bestimmt; die Matrosen dürfen es nur auf Befehl betreten. Hinter uns befindet sich die Offizierskajüte, wo du heute Nacht geschlafen hast, und darunter die des Kapitäns.«
Amy sah sich um. Es gab so viel Neues für sie. Würde sie sich die ganzen Bezeichnungen jemals merken können?
»Komm, Kleiner, ich zeige dir die Kombüse«, rief der Kapitän von unten hoch. »Schließich bist du nicht hier, um meine Mannschaft von der Arbeit abzuhalten, sondern du bist jetzt ein Schiffsjunge!«
Amy kletterte schuldbewusst den Niedergang wieder hinunter, doch der Kapitän schmunzelte.
»Kombüse – so nennt man auf einem Schiff die Küche, und den Koch nennt man Smutje«, erklärte Reers, während sie weiter in die Tiefe des Schiffes hinabstiegen. »Jetzt befinden wir uns auf dem Batteriedeck, und die Kombüse ist noch ein Deck weiter unten, im Orlopdeck.«
Je weiter sie nach unten kamen, desto unheimlicher fand Amy das Schiff. Zwei Männer standen an der Bilgenpumpe, mit der sie eingesickertes Wasser aus dem Schiff abpumpten.
»Und, Männer, alles in Ordnung?«, fragte der Kapitän.
»Käpt’n, es könnte etwas weniger Wasser sein«, gab der Zimmermann zur Antwort. Sein Gesicht, durch Pockennarben verunstaltet, war zur Hälfte von einem grau melierten Bart verdeckt.
»Ist das gefährlich mit dem Wasser, Sir?«, fragte Amy neugierig.
»Nein, wir beobachten alles und reparieren es gleich, nur deshalb kann ein Schiff so alt werden wie der Löwe . Das sind übrigens unser Zimmermann William Butten und unser Vollmatrose Eduard Trevor.«
Der Matrose mit der großen Nase grinste sie breit an, wobei man eine Zahnlücke sehen konnte.
»Hier am Besanmast fängt das Kanonendeck an, hier werden abends über den Kanonen die Hängematten zum Schlafen aufgehängt.«
Trevor rief von der Pumpe herüber: »Zwischen Gilbert und mir ist noch ein Platz für eine Hängematte frei. Da bist du auch weit genug weg von Butten, der schnarcht nämlich wie ein Walross.«
Erst hörte man sein unterdrücktes Lachen, dann ein plötzliches »Aua.«
Butten hielt dagegen: »Schlaf lieber weit weg von Trevor. Wenn der seine Stiefel auszieht, verlassen sogar die Ratten das Deck.«
Der Kapitän lachte und führte die verdutzte Amy weiter in die Tiefe des Schiffs, wo schmauchende Talgkerzen in eisernen Wandlaternen spärlich den Weg zur Kombüse erhellten. Dann standen sie schließlich in der schlecht beleuchteten, schwankenden Schiffsküche.
Geschirrgeklapper erfüllte den Raum. Links befanden sich die Teller und Schüsseln in Regalen, die mit Querstreben gesichert waren, damit sie nicht herausfallen konnten. Außerdem baumelten etliche Töpfe von der Decke. Auf der rechten Seite hingen ein großes Stück Speck, Zwiebeln und Rüben herunter. An der gegenüberliegenden Wand des Niedergangs stand ein großer Herd, dessen Rauchfang bis oben in den Kuhl reichte. Eine schmale Tür führte in den bis unter die Decke gefüllten Vorratsraum.
»Und das ist unser Smutje Robert Miller. Er ist einer der besten Schiffsköche, das kannst du mir glauben, denn ich habe schon viele erlebt.«
»Aye, aye, Käpt’n, bringst du mir eine Hilfe? Du bist also der neue Schiffsjunge? Hier, nimm das Messer und schäl die Kartoffeln.«
»Ja, Sir.« Nach einem fragenden Blick zum Kapitän begann Amy sofort mit dem Schälen.
»Ein Schiffsjunge, der weiß, wie man Kartoffeln schält – das lob ich mir«, staunte der Smutje.
»Nach dem Tod meiner Tante habe ich den Haushalt gemacht, so gut ich halt konnte, während mein Onkel gearbeitet hat. Am Anfang habe ich oft was anbrennen lassen, aber zuletzt ging es schon recht gut.«
Amy merkte gleich, dass es gar nicht so einfach war, auf einem schwankenden Schiff Kartoffeln zu schälen. Sie musste gut auf ihre Finger aufpassen, denn die Bewegungen des Schiffs waren unberechenbar.
Der schwere Kessel hing frei über dem Feuer, so blieb er trotz aller Schwankungen im Lot, und der Teekessel hatte eine Extrakerbe, die genau in eine Vertiefung des Herdes passte.
Der Smutje Robert Miller war ein älterer Mann mit schütterem Haar, einer Knollennase und einem breiten Grinsen. Und er war immer zu Späßen aufgelegt.
»Robin, kann ich dich jetzt mit unserem Seebären Miller alleine lassen?«, fragte Kapitän Reers.
»Wir werden es uns in dieser düsteren Höhle schon gemütlich machen, nicht wahr, Junge?«
Amy nickte tapfer, denn hier war es wirklich nicht allzu behaglich.
»Und lass dich nicht erschrecken, unser Smutje spinnt gern Seemannsgarn.« Der Kapitän entfernte sich lachend.
»Kennst du die Geschichte vom jungen Smutje Robin van Norden?«, fragte Miller.
Amy schüttelte den Kopf.
»Als Robin van Norden auf der Black Rose anheuerte und feststellte, dass seine Kombüse tief im Rumpf des Schiffes lag, schlotterten ihm die Knie vor Angst, denn bei jedem Ächzen und Stöhnen fürchtete er, die Black Rose würde sinken. So stand er in seiner Kombüse am Herd und heulte jeden Tag vor Heimweh, sodass er die Suppe nie salzen musste.«
Amy lachte herzlich. »Was für ein Angsthase. Auch wenn ich Robin heiße – die Suppe müssen wir schon mit richtigem Salz würzen.«
»So ist es recht, denn sollte das Schiff wirklich untergehen, dann sehen wir das sofort an den Ratten, die den Vorratsraum verlassen, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her. Aber wir haben dann noch viel Zeit, nach oben zu kommen.« Der Smutje grinste breit, sodass auf seinen fülligen Wangen Grübchen zum Vorschein kamen.
»Unser Kater Henry brachte immer Mäuse in unsere Küche. Manchmal haben sie noch gelebt, und ich habe sie gepflegt, bis es ihnen besser ging. Oder sie sind gestorben, dann habe ich sie beerdigt.« Ein kurzer Anflug von Trauer huschte über ihr Gesicht, weil sie an Onkel George erinnert wurde.
»Ah, dann hast du also keine Angst vor Ratten?«
»Nein.« Sie leerte die Kartoffeln in den Kessel und rührte um.
»Du hast keine Angst und bist der schnellste Küchenjunge, der mir jemals unter die Augen gekommen ist. Da hoffe ich mal, dass du uns lange erhalten bleibst und nicht vom nächsten Sturm über Bord gefegt wirst.«
»Vielleicht fischt mich ja die Black Rose auf, dann haben sie endlich einen brauchbaren Schiffskoch.«
Miller lachte so laut, dass es durch das ganze Schiff hallte. »Ich sehe schon, mit dir wird es nicht langweilig.«
Dann, immer noch schmunzelnd, kratzte er sich am Kopf. »Was haben wir denn heute für einen Tag?«
Amy überlegte kurz. »Heute ist Mittwoch.«
»Ah, gut. In der Vorratskammer stehen Fässer mit Sauerkraut, davon machst du die Schüssel voll. Jeden Mittwoch und Samstag gibt es auf Befehl vom Käpt’n Sauerkraut. Er schwört darauf, und es gab bei uns an Bord noch nie Skorbut – nicht mal bei wochenlanger Flaute.«
Amy rümpfte die Nase. Igitt, Sauerkraut, das mochte sie gar nicht, wie es überhaupt vieles gab, was ihr hier nicht sonderlich behagte. Doch sie erinnerte sich daran, dass sie jetzt ein Schiffsjunge war und keine Prinzessin.
Kurz vor der Zwölf-Uhr-Schicht teilten sie das Essen aus. Das Mittagessen wurde an einem langen Tisch auf dem Großdeck eingenommen. Die Männer, die noch Schicht hatten, kamen später dazu.
Das Essen schmeckte ganz gut, nur das Sauer kraut fand Amy scheußlich, aber der Smutje achtete darauf, dass sie es aufaß. Beim Essen lernte Amy auch den Rest der Mannschaft kennen. Es waren raue Gesellen, die nicht gerade freundlich wirkten und Amy ständig neckten oder herumkommandierten.
Nach einer kurzen Mittagspause stand der siebzehnjährige Gilbert Winslow vor Amy, ein sommersprossiger, blauäugiger Junge mit rotem Haar, und grinste sie frech an: »Du bist also der neue Schiffsjunge, ich bin Gilbert und bin froh, dass ich dir jetzt die leidvollen Aufgaben überlassen darf.«
»Ich heiße Robin.«
»Ich weiß. Der Käpt’n hat mir den Auftrag gegeben, dir meine Aufgaben zu zeigen, die ich als Schiffsjunge zu machen hatte.«
»Ich bin bereit.«
»Gut, dann komm mit. Fangen wir mit einer besonders beliebten Arbeit an.«
»Das Deck schrubben?«
Gilbert lachte schallend auf. »Kluger Junge. Gut, fangen wir oben an, aber erst brauchen wir Wasser.«
Mit einem Eimer, der an ein langes Seil gebunden war, holte Gilbert Wasser aus dem Meer. »Beim Hochziehen musst du aufpassen, dass dir das Seil nicht die Finger aufschürft, wenn die Gischt daran zerrt.«
Mithilfe eines Sandsteinklotzes kratzte man mit losem Sand und Wasser den Schmutz weg. Amy machte es genauso, wie Gilbert es ihr zeigte.
»Weißt du, wie das Deck hier heißt?«, fragte Gilbert.
»Poopdeck – und normalerweise dürfen hier keine Matrosen hin, nur auf ausdrücklichen Befehl des Kapitäns; das hat mir heute schon der Steuermann erklärt.«
»Stephen Holbeck?«
»Genau der, ist er sehr streng?«
»Er ist etwas brummig und achtet gewissenhaft darauf, dass niemand unaufgefordert auf das Achterdeck kommt. Ansonsten ist Holbeck aber ganz in Ordnung.«
»Das ist gut. Und wie findest du Black?«
»Er behandelt alle gleich und macht keinen Unterschied zwischen Offizieren und Matrosen. Vor längerer Zeit hat er ein schweres Schiffsunglück überlebt und dabei sein Gedächtnis verloren.«
»Hat er deshalb die Narbe auf der Stirn?«
»Ja, sie stammt von damals.«
»Und er kann sich an gar nichts mehr erinnern?«
Gilbert hörte für einen Moment auf zu schrubben und zog die Schulter hoch. »Mhhh – er weiß zwar noch, wie man ein Schiff steuert, aber wer er vor dem Unfall war, daran kann er sich nicht mehr erinnern. Aber genug geredet. Lass uns weitermachen und komm bloß nicht auf die Idee, den armen Black danach zu fragen; er redet nicht gern darüber.«
»Nein, das würde ich doch nie machen.«
»Eisberg backbord voraus!«, erschallte Trevers Stimme vom Ausguck.
Die Mannschaft ließ ihre Arbeit liegen und bestaunte von der Reling aus den riesigen Eisberg.
Gilbert und Amy gingen nach Backbord an die Reling und sahen zu, wie der Eisberg durch die Wellen trotz seiner gewaltigen Größe schwankte. Es war ein beeindruckender Anblick. Das Eis funkelte in der späten Nachmittagssonne; gelegentlich brachen Stücke davon ab und fielen mit einer hohen, spritzenden Fontäne ins Wasser.
»Wo kommt der Berg so plötzlich her?«, wollte Amy wissen.
»Der hat sich von Grönland gelöst und es dauert lange, bis so ein riesiger Eisblock schmilzt, so treibt ihn der Wind gen Süden … Beim Klabautermann – wir haben Glück, ihm bei Tage zu begegnen, denn nachts könnte so ein Berg locker unser Schiff zertrümmern.«
»Bricht dann nicht eher das Eis kaputt?«, lachte Amy.
Gilbert sah sie ernst an: »Jedes Schiff muss einen großen Abstand zu einem Eisberg halten, weil der größte Teil des Eises unter Wasser liegt und man nicht erkennen kann, wie viel. Man sieht nur die Spitze des Eisbergs.«
Amy hauchte sich fröstelnd in ihre vom Wasser aufgeweichten Hände. »Das ist ja richtig gefährlich, hoffentlich begegnen wir dann keinem mehr! Du, Gilbert, ist dir auch kalt?«
»Daran bin ich gewöhnt, aber du, hast du keine wärmere Jacke?«
Amy schüttelte den Kopf. »Nein, nur den Schal von Onkel George.« Liebevoll strich sie darüber.
»Warte, ich komme gleich wieder.«
Kurze Zeit später kam Gilbert mit einem dicken Wollpullover und einer Mütze zurück.
»Das habe ich von meiner Großmutter; der Pullover ist mir zwar zu klein geworden, aber ich will beides wieder zurückhaben, pass also gut darauf auf.«
»Danke Gilbert, ich werde gut darauf achten.«
Über Amys Gesicht huschte ein Lächeln. Sofort zog sie sich die geliehenen Sachen über. Da ihre Jacke etwas zu groß war, passte sie sogar über den dicken Pullover. Endlich konnte sie so etwas wie Wärme fühlen. Den Schal zog sie sich wieder bis zur Nasenspitze hoch, so waren nur noch ihre Finger und Füße kalt. Wie gut es Gilbert doch hatte, sie hätte auch gerne eine Großmutter, die für sie strickte.
Nachdem alles sauber war, gab es Abendbrot, und danach half Amy dem Smutje wieder, bis die Dämmerung hereinbrach.
Schließlich schleppte sie sich erschöpft in den unteren Teil des Schiffes und ließ sich in ihre Hängematte fallen. Das Schwanken war zwar angenehm, aber obwohl sie müde war, konnte sie nicht gleich einschlafen. Der Tag war aufregend, aber auch anstrengend gewesen, außerdem tat ihr alles weh. Ihre Lippen waren vom rauen Wind aufgesprungen und die Kleider feucht von der Gischt. Ihre Hände waren vom Deckschrubben zerschunden, und das eiskalte Salzwasser, das man dazu benutzte, brannte in den Wunden. Sie sehnte sich nach der warmen Stube von Onkel George und dem Schnurren von Henry; sie vermisste beide sehr und weinte sich leise in den Schlaf.