Roter Löwe

26. März anno 1728

Porto Ingles angelaufen für Schiffsreparaturen.

15°08’ Wind: SSO 175.5°, 21 Knoten.

John Blackk

A ls Amy am anderen Morgen die Augen aufschlug, lag sie zugedeckt und richtig herum unter der Decke. Mitten im Zimmer schlief Kapitän Reers in einer Hängematte. Der Wellengang war noch stark, aber der Sturm hatte nachgelassen.

Die ganze Nacht hindurch hatten sich die Männer an der Bilgenpumpe abwechseln müssen. Es war immer mehr Wasser in den Bug eingedrungen, sodass man mit dem Abpumpen kaum mehr nachkam. Nun hoffte jeder, dass bald Land in Sicht kam, die Kapverdischen Inseln konnten nicht mehr weit sein.

Den Tag über waren alle mit Reparaturen und Aufräumen beschäftigt. Amy half in der Back beim Segelflicken. Anstatt einen Fingerhut zu benutzen, wie das der Schneider tat, nahm man einen Segelmacherhandschuh aus dickem Leder. Die Nadel wurde in einem Horn mit Talg aufbewahrt, damit sie nicht rostete. Das Segel bestand aus dicht gewebtem Hanf und Flachs; der Faden war grob, deshalb wurden Amys Finger trotz des Handschuhs wund.

An Bord herrschte eine angespannte Stimmung. Die Männer waren müde nach der harten Nacht, und man machte sich Gedanken um das weiter eindringende Wasser.

Doch als am nächsten Morgen die Sonne aufging, sah man bereits die braungrünen Hügel einer Insel, zuerst nur als winzigen Punkt.

Amy ging das alles viel zu langsam. Ständig fragte sie die Matrosen, wann sie endlich an Land wären.

Einige Zeit verbrachte sie hoch oben im Ausguck und schaute durch das Fernglas, ob man nicht schon irgendetwas erkennen konnte. Dabei suchte sie auch nach dem Schiff aus der Sturmnacht; aber es war nicht mehr aufgetaucht. Gilbert meinte, es sei bestimmt gesunken.

Ein Gedanke, der Amy eine unbehagliche Gänsehaut bescherte.

Am frühen Mittag rief Kapitän Reers Amy zu sich. Er hatte an dem Ruderstand eine Kiste befestigt.

»So, mein Junge, du darfst uns heute in den Hafen fahren, zeig mal, was du kannst.«

Amy freute sich über diese unerwartete Ehre. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie durfte den Roten Löwen steuern. Dann stand sie stolz auf der Kiste neben Kapitän Reers und schaute aus dem Steuerhäuschen auf das Kampanjedeck. Dabei befolgte sie die Anweisungen von Black, der von oben die Kommandos gab, und fuhr das Schiff mithilfe des Kapitäns sicher in den Hafen.

In dem kleinen Hafen von Porto Ingles lagen nur wenige Schiffe, eines davon wurde gerade mit Baumwolle beladen. Die anderen waren Fischerboote und eine größere Fregatte, die wohl auch vor dem Sturm Zuflucht gesucht hatte.

Es war kurz vor der Mittagszeit, als Amy das Schiff auf einem langen Steg verlassen konnte, um an Land zu gehen. Geradezu hart erschien ihr der feste Boden unter ihren Füßen nach den vielen Wochen auf dem schwankenden Schiff. Es kam ihr vor, als müsste sie erst wieder laufen lernen.

Auch die Atmosphäre der Insel beeindruckte sie und staunend sog sie alles in sich auf. Gleich links neben dem Hafen war ein breiter, weißer Sandstrand. Auf der rechten Seite stand eine Festung mit Kanonen, die die Stadt gegen Piratenangriffe schützen sollte.

Überall in den sandigen Straßen liefen Ziegen, Hühner und sogar Schweine umher oder lagen faul im Schatten von alten, knorrig verästelten Bäumen. Auch die Häuser sahen anders aus als in Plymouth, sie waren viel niedriger, bunter und bildeten eine lange Reihe.

In dem Dorf war gerade Markt, die verschiedenen Stände und Spielbuden zogen sich bis zum Hafen hinunter.

Die Mannschaft hatte für den heutigen Mittag frei bekommen, um sich vom Sturm und dem stundenlangen Pumpen zu erholen.

Amy wollte gleich auf den Markt und hoffte, dass Black mitkommen würde.

»Black, kommt Ihr mit mir auf den Markt?«

Der schmunzelte. »Einverstanden, aber nur, wenn du mit mir an den Strand zum Schwimmen gehst. Der Markt wird demnächst bei der glühenden Mittagshitze schließen und erst am frühen Abend wieder beginnen.«

Ein Strahlen huschte über Amys Gesicht. Sie würde den ganzen Tag alleine mit Black verbringen und außerdem lockte bei dieser brodelnden Mittagshitze das kühle Nass.

Gemeinsam mit Black schlenderte sie am Strand entlang. Sie suchten nach einer abgelegenen Bucht, wo sie ungestört schwimmen konnten. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Man sah Black an, dass er die Anstrengung der letzten Tage in seinen Knochen spürte.

Amy seufzte tief, auch ihr Onkel sah kurz vor seinem Tod so müde aus und sie überlegte, ob sie Black mit ihrer Frage nicht noch mehr belasten würde.

»Was hast du?, fragte Black besorgt.

»Schade, dass mich Onkel George nicht sehen konnte. Das war unglaublich, dass ich das Schiff in den Hafen steuern durfte.«

»Das dürfen bei Kapitän Reers alle neuen Schiffsjungen.« Er schwieg kurz, dann meinte er: »Der Tod deines Onkels geht dir nahe, stimmt’s?«

Amy nickte traurig.

»Das ist bestimmt schwer, wenn man ganz allein auf der Welt ist. Aber nun hast du die Mannschaft und den Roten Löwen, sie sind jetzt deine Familie und dein Zuhause.«

»Das hat Gilbert auch über Käpt’n Reers gesagt.«

Black lachte kurz auf. »So geht es uns Seemännern, das Meer macht einsam. Es ist für uns unmöglich, an Land zu leben, wir können nicht vergessen, wie es klingt, wenn die Takelage knarrt und der Wind in den Wanten singt.«

»Und das Gehen an Land fällt einem richtig schwer. Es fehlt das Schwanken des Schiffes.«

»Stimmt. An Land vermissen wir das Leben auf See, und auf dem Schiff verfluchen wir den Tag, an dem wir an Bord gegangen sind.«

Amy kicherte. »Genau das habe ich auch schon gedacht. Als Seemann seid Ihr bestimmt viel rumgekommen.« Sie senkte ihren Blick. Beide liefen barfuß und Amy beobachtete angestrengt, wie der Sand ihre braunen Füße mit einer weißen Staubschicht bedeckte.

»Oh ja, ich hab schon viel gesehen!«

»Wart Ihr auch auf den Westindischen Inseln?« Vorsichtig sah sie Black an. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, als er sagte: »Das ist kein guter Ort, dort wimmelt es von Sklavenhändlern und Piraten. Warum interessiert dich das?«

»Ach, ich hab mal von meinen Freunden gehört, dass es eine Piratin gab, die dort lebte. Mary Read, stimmt das?«

Black überlegte. »Mary Read und Anne Bonny. Sie segelten mit Calico Jack Rackham. Ihr Schiff wurde von einem englischen Kriegsschiff angegriffen. Man erzählt sich, dass die ganze Mannschaft betrunken unter Deck lag und nur Anne Bonny und Mary Read alleine gegen die Engländer kämpften.«

»Ach je, sind sie dabei umgekommen?«

»Nein. Sie wurden gefangen genommen und verurteilt.« Black lachte ironisch auf. »Es heißt, Rackham durfte Bonny vor seiner Hinrichtung noch einmal treffen, und sie sagte zu ihm: ‚Es tut mir leid, dich hier zu sehen, aber wenn du wie ein Mann gekämpft hättest, hätten sie dich nicht wie einen Hund hängen müssen‘.«

Amy schluckte schwer und fasste sich an den Hals, sie wollte nicht mehr wissen, was mit den Frauen geschah, denn das war zu offensichtlich.

»Und schon wieder sind wir bei den gruseligen Piratengeschichten.« Black sah Amy grinsend an. »Piraten haben es nicht anders verdient, als zu hängen, schließlich bringen sie viele ehrliche Seemänner in große Schwierigkeiten.«

»Das stimmt! Auch mein Onkel fluchte, wenn wieder ein Schiff mit kostbaren Stoffen ausgeraubt wurde und er somit weniger zu tun hatte«, erinnerte sich Amy.

»Er bestellte seine Ware aus Übersee?«

»Nein, aber seine Kunden. Oft stand ein wohlhabender Geschäftsmann in der Schneiderstube und klagte, dass seine Fracht nicht angekommen war und Onkel George konnte nur einen Anzug ändern, anstatt einen neuen zu nähen.«

»Da sieht man mal, an einem ausgeraubten Schiff hängen ganze Existenzen. Vom Schiffsinhaber bis zur Neffe des Schneiders. Alle leben davon, dass die Ware an ihrem Bestimmungsort ankommt.«

»Piraten sind zu verachten!« Amy spuckte auf den Boden, wie sie es von den Jungs kannte.

»Sollten uns mal welche überfallen, schlagen wir sie mit einer Ladung Kanonenkugeln in die Flucht. Peng!« Black klatschte laut in die Hände und deutete eine Explosion an.

Amy erschrak kurz und kicherte. »So machen wir das, Piraten können uns nicht ausrauben!«

Als sie um eine Wegbiegung kamen, lag vor ihnen ein weißer Sandstrand, umsäumt von Felsen und knorrigen Bäumen.

»Seht mal, Black, ist das nicht eine wunderschöne Bucht?«

Das Wasser lockte klar und frisch, und es schien mit dem Himmel wetteifern zu wollen, wer das schönere Blau hatte.

Doch dann wurde ihr bewusst, dass sie ja ein Mädchen war – nicht dass ihre Tarnung aufflog, wenn sie baden ging!

Black jedoch krempelte nur seine Hosenbeine nach oben und verkündete: »So können wir besser schwimmen.«

Amy lächelte erleichtert und machte es ihm, ohne zu zögern, nach. Das verlockende Wasser hatte gesiegt.

Sie zogen nur ihre Hemden aus. Nachdem Amy noch den Beutel mit der Zahnbürste vom Hosenbund gelöst hatte, sprang sie mit Black Richtung Meer. Der Sand war heiß und brannte unter ihren Füßen, sodass sie froh waren, das kühle Nass zu erreichen.

Amy blieb zögernd stehen, während Black sich in die Fluten warf. »Komm, Kleiner, es ist einfach herrlich.«

»Ich kann nicht schwimmen.«

»Wirklich nicht? Dann wird es aber Zeit. Hier kannst du noch stehen. Komm, ich bringe dir das Schwimmen bei.«

Vorsichtig watete sie zu ihm ins tiefere Wasser.

Black grinste. »Siehst du, das ist doch gar nicht schwer. Jetzt leg dich auf den Rücken, ich halte dich.«

Es war ihr überhaupt nicht geheuer, aber sie wagte nicht, Black zu widersprechen. Er legte seine Arme unter sie und so trieb sie, noch ein wenig ängstlich, auf seinen Armen im Wasser.

»Siehst du die Wolken da oben, sie sehen doch aus wie eine Schafherde.«

Amy schaute zum Himmel, aber sie sah nur ge wöhnliche Wolken und kreischende Möwen, die nach Futter suchten – aber keine Schafe, so sehr sie sich auch bemühte. Black stand da und grinste sie an, bis sie bemerkte, dass er sie gar nicht mehr festhielt. Vor lauter Schreck zappelte sie panisch und ging unter. Black zog sie wieder nach oben und sie musste kräftig husten.

»Hast du gemerkt, schwimmen ist gar nicht schwer.«

»Bäh, schmeckt das Wasser salzig. Robin von Norden von der Black Rose hat aber viel geheult.«

»Robin von Norden?«

Amy erzählte Black die Geschichte von Robert Miller, dem Smutje, sodass beide aus dem Lachen nicht mehr herauskamen. Es wurde ein lustiger Mittag. Dank Black machte sie die Erfahrung, dass das Wasser sie trug, wenn sie ruhig auf dem Rücken lag. So hatte Amy keine Angst mehr, das Schwimmen zu lernen. Es dauerte dann nicht mehr lange, bis sie es richtig gut konnte.

Nach dem Baden ließen sie sich müde unter dem Schatten der Bäume in den warmen Sand fallen und schauten den wenigen vorbeiziehenden Wolken zu.

»Black, habt Ihr in den Wolken vorhin wirklich Schafe gesehen?«

»Hast du das noch nie versucht, Formen in den Wolken zu erkennen?«

»Nein, das sind doch einfach nur Wolken.«

»Aber beim genauen Hinschauen entdecke ich meistens etwas. Siehst du die kleine Wolke über uns? Links sind zwei lange Ohren, ein Schnäuzchen …«

»Stimmt, Ihr habt wirklich recht. Das ist ein Hase – und da drüben … unsere Galionsfigur, der Rote Löwe

Eine Weile suchte sie den Himmel nach Motiven ab, bis Black herzhaft gähnte. Es dauerte nicht lange, und er schlief ein.

Amy wusste, wie müde er war, da er fast zwei Nächte lang kein Auge zugemacht hatte. Um ihn in Ruhe schlafen zu lassen, ging sie zur Brandung hinunter und spielte im Sand.

Wenn sie den sehr nassen Sand durch die Finger rieseln ließ, entstanden kleine Tropfen, die sich zu Türmchen aufträufeln ließen.

Als Black später aufwachte, hatte sie schon ein tiefes Loch gegraben und um sich herum eine Tropfenfestung gebaut.

Black schlich sich heran und bewarf sie mit Seebällen. Diese rundlich braunen filzigen Kugeln stammten von abgestorbenen Pflanzenteilen des Neptungrases und lagen am Strand verteilt. Sie eigneten sich hervorragend als Wurfgeschoss.

»Angriff, lasst uns die Burg stürmen!« Und weitere Geschosse folgten.

Amy sammelte in aller Eile die weichen Kugeln ein und feuerte damit zurück auf Black. Irgendwann nahm sie es nicht mehr so genau und warf auch Muscheln, Algen und Sand nach ihm.

»Na warte, das gibt Rache.« Black stürzte sich auf Amy und rieb sie mit Sand ein.

Beide waren voller Sand, Black warf sich Amy über die Schulter und trug den schreienden Schmutzfink ins Wasser. Dort ging die Schlacht weiter. So schnell gab Amy sich nicht geschlagen und bespritzte Black kräftig.

Mit der flachen Hand machte Black eine leichte Drehung und Amy bekam eine kräftige Ladung Salzwasser ins Gesicht, sodass sie den Boden unter den Füßen verlor. Sie wollte sich gerade auf ihn stürzen, als sie eine graue Flosse auf sich zukommen sah.

Amy hielt den Atem an, sie spürte, wie alles Blut von ihr wich, ihre Knie wurden weich, sie war unfähig, auch nur einen Laut hervorzubringen. Sie hatte die gefräßigen Tiere schon öfters neben dem Schiff schwimmen sehen. Wenn sie den Abfall ins Meer leerte, rissen sie ihr riesiges Maul auf und sie sah die Reihen scharfer Zähne blitzen. »Was sollen wir jetzt bloß machen?«, fragte sie mit tonloser Stimme.

Black stand ganz ruhig daneben und grinste. »Er wird uns nichts tun, Delfine haben schon manchen Menschen vor dem Ertrinken gerettet.«

Da sah sie erst, dass es gar kein Hai, sondern die spitze Schnauze eines Delfins war. Amy atmete erleichtert auf, zitterte jedoch noch am ganzen Körper. Delfine, die so lustig in die Luft sprangen. Ihnen sah sie immer gerne zu, wenn sie den Roten Löwen einige Zeit begleiteten.

Der Delfin kam schnatternd näher. Er schwamm um sie herum und ließ sich sogar streicheln. Spielerisch sprang er in die Luft und stieß einen schrillen Pfiff aus. Dann verschwand er wieder, um kurze Zeit später hinter ihnen aufzutauchen und sie mit seiner Schwanzflosse nass zu spritzen.

»Black, er will mit uns spielen« stellte Amy fasziniert fest.

»Sieht ganz so aus – halt dich mal an seiner Flosse fest, vielleicht zieht er dich.«

Und wirklich, der Delfin zog sie.

Robin lachte so gelöst, dass Black keinen Blick von ihm lassen konnte. Es freute ihn, mit dem Jungen unbeschwerte Stunden zu erleben. Robin nahm ihn, so wie er war, fragte nicht nach dem Gestern oder nach dem Morgen, sondern genoss einfach den Augenblick. So sollte er auch leben können, im Hier und Jetzt, und aufhören, sich ständig um seine Vergangenheit zu sorgen. Irgendwann würde sein Gedächtnis vielleicht zurückkehren und womöglich hatte er sich ganz umsonst diese Sorgen gemacht.

In all den Jahren nach dem Unfall war er immer ein zutiefst ehrlicher und gerechter Mann gewesen. Er hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen oder wäre in Versuchung gekommen, etwas Unrechtes zu tun. Er würde lieber sein letztes Hemd hergeben, als jemanden zu berauben oder gar zu töten. Also konnte er wohl kaum zu der Piratenbande gehört haben, das wurde ihm jetzt mit einem Mal klar.

Dieser Gedanke gab ihm den Mut, der ihn die ganzen letzten Jahre verlassen hatte. Aber dank Robin entdeckte er das Schöne am Leben. Durch seine Augen spürte er, wie es sich anfühlte, noch ein unbeschwertes Kind zu sein. Er konnte durch ihn ein Stück Kindheit wiedererleben, was ihm völlig entschwunden war.

Hungrig kamen sie am frühen Abend in Porto Ingles an. Die Straßen waren voller fremd aussehender Menschen, die nach der Hitze des Tages ihre Häuser verließen.

Amy genoss es, neben Black an den Ständen entlang zu schlendern, beide in ihren inzwischen fast trockenen Kniehosen, die weißen Hemden locker in die Hosen gesteckt. Ihre roten Halstücher trugen sie als Sonnenschutz auf dem Kopf, Black hatte Amy das Tuch genauso gebunden wie seins.

Sie versuchte, genauso lässig zu gehen wie Black, was ihr aber nur leidlich gelang.

Sie gingen von einem Marktstand zum anderen, und Amy konnte sich nicht sattsehen. Es gab Stände mit Körben, Stoffen, Hüten, aber auch welche mit Obst und Gemüse und Säcken voller Gewürze. Ein unbekannter Duft lag in der Luft, der sich ständig wandelte, und über dem Ganzen lag ein Stimmengemurmel aus fremden, exotischen Sprachen, die Amy noch nie gehört hatte.

An einem Grill aßen Black und Amy gebratenen Fisch, der nach dem spärlichen Not-Essen an Bord eine Köstlichkeit war.

Anschließend versuchten sie, an einer Bude auf Äpfel zu schießen. Es war nicht einfach, und Amy zielte dreimal daneben.

Black dagegen traf schon beim ersten Mal und biss genussvoll in seinen roten Apfel, der ihm als Lohn gereicht wurde.

»Schmeckt er?«, schmollte Amy.

»Ja, ausgezeichnet. Willst du mal beißen?« Er hielt ihr den angebissenen Apfel hin.

»Nein, danke.« Amy verschränkte die Arme und drehte sich trotzig weg.

»Erinnere mich daran, dass ich dir das Zielen beibringe, wenn wir wieder auf dem Löwen sind.«. Damit drückte er ihr den Apfel in die Hand und holte ihr mit einem gekonnten Schuss auch einen Apfel.

»Danke, Sir«, schmatzte Amy.

Black lächelte.

Kauend sahen sie eine Weile einer jungen Frau zu, die in einem weißen Kleid auf einem Seil tanzte. Graziös bewegte sie sich von einem Ende zum anderen, in der Hand hielt sie einen ebenfalls weißen Schirm, ganz aus Spitze. Als sie in der Mitte ankam, machte sie einen Spagat. Das Seil schwang bedenklich zur Seite, und ein erschrockenes Raunen ging durch das Publikum. Doch dann erhob sie sich lächelnd wieder und lief mit einer Leichtigkeit auf dem Seil weiter, als wäre es das Einfachste auf der Welt.

»Black, könnten wir nicht ein Tau von Reling zu Reling spannen? Seiltanzen würde ich viel lieber lernen, als auf Äpfel zu schießen.«

Bei dieser Vorstellung musste Black herzlich lachen. »Soll ich dir etwa Seiltanzen beibringen, womöglich noch mit einem weißen Schirmchen aus Spitze?«

Jetzt musste Amy auch lachen – Black mit einem Schirm auf dem Seil! »Ihr habt recht – Käpt‘n Reers würde denken, wir hätten einen Sonnenstich bekommen!«

Langsam färbte sich der Himmel, die Sonne ging unter. Die letzten Strahlen tauchten das Meer mit der Insel in ein betörendes Licht. Das Markttreiben, die Bäume und Häuser hoben sich vor dem orangerot glühenden Himmel dunkel ab, es sah aus wie ein Gemälde, so schön war die Aussicht. Dazu ertönten fremde Klänge von Flöten und Trommeln und verzauberten die Marktbesucher mit berauschenden Rhythmen.

Als sie bereits wieder Richtung Hafen schlenderten, bemerkten sie am Ende des Marktes eine Fakir-Vorstellung. Zu wilden Trommeln wirbelten sechs junge Männer mit nackten Oberkörpern und schwarzen Pluderhosen durch die Luft, stellten sich zu einer menschlichen Pyramide auf, und der Kleinste an der Spitze machte noch einen Handstand oben drauf.

Aber das Faszinierendste für Amy war der Feuerschlucker: ein Junge mit gebräunter Haut, langen dunklen Locken, die zu einem festen Zopf gebunden waren, und einem strahlenden Lächeln. Er war höchstens zwei, drei Jahre älter als Amy. Der junge Fakir jonglierte mit vier Fackeln und konnte riesi ge Flammen spucken. Mit dem Feuer erhellte er die beginnende Nacht. Es zischte und knisterte, der Geruch von Petroleum lag in der Luft. Amy war gefangen von den tanzenden Flammen vor ihren Augen und von den Trommeln, die ihre Sinne benebelten. Wie konnte ein Mensch Feuer spucken, ohne dabei zu verbrennen? Am Ende löschte er auch noch das Feuer der Fackeln direkt in seinem Mund.

Als die Aufführung zu Ende war, klatschten alle begeistert und Amy am lautesten.

Der Feuerspucker ging nun mit einem offenen Beutel durch die Zuschauermenge. Jetzt konnte sie ihn aus der Nähe betrachten: Er hatte eine wohlgeformte Nase und mit schwarzer Farbe umrandete grünbraune Augen, die sie interessiert und mit einer Spur von Traurigkeit anblickten. Um seinen Hals hing ein Lederband mit einem großen Amulett.

Amy fischte aus ihrer Tasche eine silberne Münze. Sie schaute den Jungen bewundernd an und war zum ersten Mal sprachlos.

Auch Black legte eine Münze dazu.

»Vielen Dank, hat dir unsere Vorstellung gefallen?«, fragte der Junge in gebrochenem Englisch und sah Amy dabei direkt in die Augen.

»Oh ja, sehr, hast du dich dabei nicht verbrannt?«

»Nein, heute nicht. Nur die Härchen an den Ar men verbrennen.« Er zeigte ihr seinen haarlosen, leicht vernarbten Arm. Man konnte noch den Geruch der verbrannten Haare riechen.

»Kann ich auch Feuer spucken lernen, wie machst du das?«, fragte Amy interessiert.

»Es braucht ein bisschen Übung, bis man Feuer spucken kann. Zuerst aber muss man die Furcht vor dem Feuer überwinden.«

»Ich habe keine Angst. Gibt es morgen wieder eine Vorstellung?«

»Ja, morgen ist unser letzter Tag, dann ziehen wir weiter.«

»Black, das müssen wir uns noch einmal ansehen.«

Black grinste und nickte. »Wenn wir Zeit haben, kommen wir wieder her.«

»Wo geht ihr dann hin?«, wollte Amy von dem Jungen wissen.

»Wir ziehen weiter, wohin der Wind uns treibt.«

»Und wo ist dein Zuhause?«

»Mein Zuhause ist überall dort, wo wir gerade sind.« Mit seiner Hand beschrieb er einen ausladenden Bogen.

»Euch gehört die ganze Welt?!«, stellte Amy fasziniert fest.

»Nur sind wir nicht überall willkommen.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern.

Eine ältere Frau rief dem Jungen etwas in einer fremden Sprache zu.

»Es gibt Essen. Meine Tante sagt, dass ihr gerne mitkommen könnt, sie lädt euch zum Essen ein. Übrigens, ich heiße Larou.«

»Oh ja, Black, lass uns mitgehen, bitte.« Sie schaute ihn so flehend an, dass Black es ihr nicht abschlagen konnte.

»Wenn es deinen Leuten nichts ausmacht, kommen wir gerne. Ich bin John Black und der kleine Quälgeist hier heißt Robin Tailor.«

Larou sah von einem zum anderen und schnalzte mit der Zunge. »Ach, und ich dachte, ihr seid Vater und Sohn.«

Black drückte Amy an sich. »Robin ist für mich der Sohn, den ich mir immer gewünscht habe. Auch wenn wir nicht den gleichen Namen tragen!«

Genauso hatte Amy sich ihren Vater immer vorgestellt. Sie war gerührt und blickte bewundernd zu Black auf.

Nicht weit entfernt, zwischen niedrigen Büschen, befand sich der Lagerplatz. Zehn Zelte standen im Halbkreis, in der Mitte brannte ein Lagerfeuer, über dem an einem eisernen Dreibein ein dampfender Topf hing. Die Gauklertruppe von etwa zwanzig Personen saß bereits am Feuer.

Als die drei ankamen, wurden sie freundlich begrüßt, und die Tante reichte Larou sein Gewand. Er zog sich ein langes weißes Hemd an, das an beiden Seiten bis zur Hüfte geschlitzt war, sodass man die verzierte Seitennaht der Pluderhose noch sehen konnte. Um den Kopf banden Larous geschickte Finger einen dunklen Stoff zu einem Turban. Jetzt sah er genauso aus wie die anderen Männer, die um das Feuer saßen. Zuletzt legte er sich noch eine reich verzierte Lederscheide um.

Larou deutete seinen neuen Freunden an, sich zu setzen.

Amy staunte über seine Verwandlung: Eben war er noch ein schlaksiger, großer Junge gewesen, jetzt wirkte er wie ein erwachsener Mann. Das machte Amy etwas befangen.

Eine junge Frau, ebenfalls in ein dunkles Gewand mit aufwendig besticktem Oberteil gehüllt, geschmückt mit großen Ohrringen, einer breiten Kette und vielen Armreifen, teilte Schüsseln und Brote aus. Es roch nach Hammelfett und Knoblauch. Sie lächelte Amy und Black freundlich an. Amy hatte noch nie eine schönere Frau gesehen: Sie hatte ein ovales Ge sicht mit kunstvoll geflochtenen Haaren, die Brauen waren tiefschwarz nachgezogen, dazwischen und auf den Wangen waren rötliche Tupfen gemalt.

Aus dem großen Topf, der über dem Feuer hing, wurde jetzt das Essen ausgeteilt. Bis auf das Fleisch schmeckte es Amy ganz gut, trotz der ungewohnten Zutaten und starken Gewürze. Zu trinken gab es vergorene Kamelmilch oder Pfefferminztee. Amy und Black bevorzugten jedoch den, wenn auch stark gesüßten, Pfefferminztee. Zum Nachtisch gab es schmackhafte Datteln.

Black unterhielt sich mit Larous Onkel, der etwa in Blacks Alter war und neben ihm saß. Die beiden schienen sich gut zu verstehen.

Es war eine milde Nacht. Am Himmel funkelten unzählige Sterne, die Grillen zirpten, bis sie von der zauberhaften Musik einer Frau, die auf einer Art Geige aus einem ausgehöhlten Kürbis spielte, übertönt wurden. Das Instrument hatte nur eine einzige Saite, dazu benutzte sie einen kleinen Bogen aus Holz. Jetzt setzte sich ein Mann zu der Frau und sang zu ihrer Musik.

Es waren für Amy unbekannte Klänge, die sich wehmütig und fast wie von einer verstimmten Geige anhörten. »Larou, worüber singt der Mann?«

»Über unsere Heimat und die Sehnsucht danach. Einst fiel die Urmutter vom Himmel. Zu dieser Zeit gab es nur das Meer, und die Schildkröte kam der Himmelsfrau zu Hilfe. Auf der Schildkröte war es ihr aber auf die Dauer zu unbequem. Dann kam eine Bisamratte. Diese holte Schlamm vom Meeresgrund und bedeckte damit den Panzer der Schildkröte als Polster für die Urmutter. So entstand das erste Land.«

»Das ist sehr schön. Dann weißt du also, wo deine Heimat ist?«

»Wir zogen mit der Karawane durch die Wüste, der Wind war unser Begleiter, die funkelnden Sterne unsere Wegweiser. Die glühende Sonne und die eisigen Nächte konnten uns nichts anhaben. Die Wüste war unser Zuhause – bis wir vertrieben wurden.«

»Warum hat man euch vertrieben?«, wollte Amy wissen.

»Fremde Männer kamen in unser Land und wollten, dass wir ihre Sitten und ihren Glauben annehmen. Ich war zum ersten Mal mit einer Karawane unterwegs, als unser Lager überfallen wurde. Nur meine Tante und ein paar Mädchen haben überlebt, die weiter weg Holz gesammelt hatten. Jetzt haben wir keine Heimat mehr, keinen Ort, an dem wir willkommen sind. Wir wollen als freies Volk anerkannt werden und nach unserer Tradition leben dürfen.« Larous Augen schimmerten sehnsüchtig im flackernden Feuer.

»Unterscheiden sich eure Traditionen so sehr von unseren?«

Ein Strahlen huschte über sein Gesicht. Dann schnalzte er mit der Zunge. »Oh ja, wir sind das älteste Volk der Erde. Die Kinder der Echsen, die einst zwischen Menschen und Göttern vermittelten. Ein Sprichwort sagt: ,Die Eidechse kannst du mit der Hand fangen, doch ist sie in den Palästen der Könige.‘«

Amy staunte. »Woher weißt du das alles?«

»Es sind die Geschichten und Lieder, die beim Lagerfeuer weitergegeben werden.«

»Und was ist bei euch noch anders?«

Larou schwieg für einen Moment und sah auf das knisternde Feuer. »Bei euch bestimmt der Mann über die Frau. Es ist der Vater, der den Fortbestand seiner Linie sichert. Bei uns ist es die Mutter. Frau und Mann sind Freundin und Freund für das Herz, den Geist und die Augen. Ohne die Frau vertrocknet das Herz des Mannes wie ein Baum ohne Wurzeln. Das Zusammenleben von Frau und Mann ist bei uns anders als bei den meisten anderen Völkern. Jedes junge Mädchen darf sich seinen Herzensfreund wählen. Wenn sie einen anderen heiratet, ändert sich die Beziehung zwar, aber sie können trotzdem noch Zeit miteinander verbringen.«

»Und das erlaubt ihr Mann?«

»Ihm bleibt nichts anderes übrig, denn der Mann wohnt in dem Zelt seiner Frau. Würde sie ihn vor die Tür setzen, würde er dastehen wie ein Taugenichts.« Larou wandte den Blick vom Feuer ab, sah Amy an und musste lachen, als er in ihr skeptisches Gesicht blickte.

»Dann ist die Frau bei euch mehr wert als der Mann?«, fragte sie ungläubig.

»Die Frau ist das Wesen, aus dem das Leben entsteht. Wir beschützen und ehren sie. Wir achten darauf, dass sie sich wohlfühlt, und dafür bekommen wir ihre Liebe. Sanftheit zu zeigen, ist für die Männer unseres Stammes keine Schwäche, sondern Stärke, denn in der Wüste können nur starke Menschen überleben.«

Black, der ebenfalls zugehört hatte, nickte anerkennend. »Ich habe schon viele verschiedene Völker kennengelernt. Aber das war das Schönste, was ich je gehört habe.«

»Ich auch. Am liebsten würde ich euch alle mit auf den Roten Löwen nehmen, dann habt ihr wieder ein Zuhause.« Amy war begeistert von ihrer Idee.

»Ein schöner Gedanke, aber dafür ist der Löwe leider zu klein«, bemerkte Black.

»Meine Sippe möchte wieder zurück in die Wüste gehen, aber ich träume schon lange davon, mehr von der Welt zu sehen. Sobald sich die Gelegenheit ergibt, werde ich alleine weiterziehen.«

»Dann kommst du eben alleine mit uns nach Indien«, schlug Amy vor.

Larou lachte. »Das ist wirklich sehr nett von dir, nur zieht es mich in die andere Richtung, nach Virginia, wo mein Bruder lebt.«

»Komm, Robin, wir müssen uns jetzt verabschieden. Die Mannschaft trifft sich noch in der Spelunke, und wir sollten davor noch auf das Schiff«, ermahnte Black Amy.

Missmutig stand Amy auf. Bevor sie sich verabschiedete, stellte sie Larou noch eine Frage: »In welchem Zelt wohnst du?

»Gleich vorne links.« Er deutete darauf.

»Gehört das deiner Frau?«

»Ich bin erst 15, da habe ich noch keine Frau.«

»Hast du denn eine Herzensfrau?«

»Robin, du bist mal wieder zu neugierig. Das geht dich nichts an, lass uns jetzt gehen«, warf Black ungeduldig ein.

Larou wurde ernst. »Schon gut, die Fragen stören mich nicht. Nein, unser Volk ist nicht wie früher, wir können nicht mehr alle unserer alten Traditionen fortführen.« Dabei tippte er ihr auf die Nase.

»Das tut mir leid.« Amy sah zu Black. »Kann ich nicht noch hierbleiben?«

»Das wäre schön, Ihr könnt ihn später abholen«, half ihr Larou sogleich.

Black gab sich geschlagen. »Also gut, in zwei Stunden hole ich dich – und frag dem armen Jungen keine Löcher in den Bauch – und Finger weg vom Feuer.« Er drohte scherzhaft mit dem erhobenen Zeigefinger und zwinkerte Larou zu, was Amy aber nicht davon abhielt, Larou, sobald Black gegangen war, zu fragen, ob er ihr nicht doch das Feuerspucken beibringen könnte.

»Was ich mache, ist gefährlich. Mein Vater starb, weil er sich am Petroleum verschluckt hatte. Er wurde krank, und das Atmen fiel ihm immer schwerer, bis er gar keine Luft mehr bekam. Deshalb wollte ich eigentlich nicht mehr Feuer spucken, aber weil ich es am besten von allen kann, muss ich es leider weiter tun, denn damit bekommt man die meisten Zuschauer und Geld zum Leben.«

»Das tut mir leid.« Voller Sorge sah sie ihn an. »Dann könntest du ja jeden Tag sterben.«

Larou lächelte wieder. »Nein, ganz so schlimm ist es nicht, es gibt nur ein paar Regeln, die ich beachten muss.«

»Und was musst du beachten?«

»Ganz wichtig ist, bevor ich beginne, Feuer zu spucken, den Mund mit Milch auszuspülen, damit der Geschmack des Petroleums nicht ganz so stark ist.«

»War das Milch, was du bei der Vorstellung im mer getrunken und zwischendurch wieder ausgespuckt hast?«

»Ja, da hast du aber gut aufgepasst.«

Amy lächelte verlegen. »Ich wollte es auch unbedingt lernen, aber seit ich das mit deinem Vater weiß, möchte ich es lieber nicht mehr versuchen. Aber wissen will ich doch, wie es möglich ist, eine so große Flamme zu spucken.«

Larou nahm sein gefülltes Teeglas. »Ich zeig es dir. Beim Feuerspucken musst du immer auf die Windrichtung achten und dass du weit genug von den Zuschauern entfernt stehst. Auch sollte man keinen Bart haben, und die Haare müssen zurückgebunden sein. Erst musst du den Mund mit Milch ausspülen, und dann nimmst du einen großen Schluck Petroleum.« Er trank sein Teeglas leer, sodass seine Wangen reichlich mit Wasser gefüllt waren, und atmete kräftig durch die Nase ein. Dabei zeigte er auf seine Lippen, die starr und strichförmig aufeinandergedrückt und leicht nach innen gerollt waren. Dann schaute er Richtung Feuer und pustete kraftvoll das Wasser wieder heraus. Ein feiner, gewaltiger Sprühnebel rieselte auf das zischende Feuer.

Larou schaute sie lachend an. »Wenn das jetzt Petroleum gewesen wäre, dann wäre es uns mächtig heiß geworden.«

Amy war beeindruckt.

»Das kannst du aber gut. Und wie schluckst du das Feuer?«

»Schlucken sollte man das Feuer niemals, dass würde wohl keiner überleben. Es gibt einen Trick, aber du darfst ihn niemandem verraten.«

Amy nickte und flüsterte: »Ich schwöre, ich werde es niemandem erzählen.«

Jetzt nahm Larou einen kleinen Stock aus dem Feuer, der an einem Ende brannte. »Man muss den Kopf ganz weit nach hinten neigen, dann führt man die Fackel mit gestrecktem Arm zum Mund. Pass gut auf.« Er führte es vor, und in dem Moment, als die Flamme die Lippen passiert hatte, machte er hörbar »Charb« und umschloss den Stock mit den Lippen.

»Du hast die Flamme ausgehaucht«, empörte sich Amy.

Larou lachte. »Ja, genau. Das ist der Trick dabei. Trotzdem muss man aufpassen, weil der Stock sehr heiß ist, damit man sich die Lippen nicht verbrennt.«

»Von wem hast du das alles gelernt?«

»Wir haben das früher zum Zeitvertreib gemacht oder bei Festen, wenn wir uns mit anderen Gruppen unseres Stammes getroffen haben.«

Die Zeit verging wie im Flug. Als es schließlich auf Mitternacht zuging und Amy zu gähnen anfing, begann sie sich allmählich Sorgen zu machen.

»Black hätte mich schon längst abholen müssen, ich werde lieber nach ihm suchen.« Sie wollte schon aufstehen und sich verabschieden, als Larou ihr vorschlug: »Du kannst hierbleiben, in der Taverne hat er bestimmt die Zeit vergessen. Er wird bald kommen.«

»Hm, nein, ich gehe lieber. Auf Black kann ich mich verlassen, und er würde niemals die Zeit vergessen. Irgendetwas stimmt nicht.«

»Warte, ich komme mit. Ich sage nur den anderen Bescheid, falls er doch noch kommt und wir weg sind.«

Es war nicht weit bis zur Taverne. Von fern hörte man das Stimmengewirr und Lachen aus den offenen Fenstern, einige Männer sangen Seemannslieder.

Als Larou die Tür öffnete, schlug ihnen eine dicke Rauchwolke entgegen. Eduard Trevor und der Smutje Robert Miller saßen noch am Tisch und tranken Wein. Es war eindeutig nicht ihr erstes Glas.

Von ihnen erfuhren sie, dass Black schon vor einer Stunde gegangen war. Er hatte wohl mit drei fremden Männern am Nebentisch gesessen und Karten gespielt, aber die drei Männer waren kurz nach Black auch gegangen.

Auf weitere Hilfe der beiden konnte Amy nicht hoffen, sie waren zu betrunken und konnten froh sein, wenn sie den Weg zum Schiff noch fanden.

Ratlos standen Amy und Larou vor der Taverne.

»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte Amy.

»Warte hier in der dunklen Ecke, damit dich niemand sieht, ich höre mich kurz um.«

Um die Schenke herum herrschte reges Treiben. Im Laufe des Tages hatten noch mehrere Schiffe angelegt, und die Matrosen feierten ausgiebig nach den langen Wochen auf See mit viel Alkohol und willigen Frauen in der Hafenschenke. Grölend liefen sie durch die Straßen, hier und da hörte man sie streiten oder lachen.

Amy stand hinter einem Busch an einer Hauswand. Ein schmaler Käfer mit langen, wippenden Fühlern krabbelte an der Mauer nach oben. »Ja, wer bist denn du? Du siehst aber nett aus.« Sie hielt ihre Hand hin, ließ den Käfer darauf laufen, bis sie einen Mann bemerkte, der dicht an ihr vorbeiging.

Sie erkannte ihn im Halbdunkeln gleich an seiner Körperhaltung und dem Spazierstock wieder. Sein mit Diamanten umfasster Siegelring blitzte auffällig in dem Licht auf, das aus dem Fenster der Taverne darauf fiel. Selbst hier auf der Insel, wo es so heiß war, trug er eine Perücke.

Warum war er hier, was tat er hier? War es Zufall – oder suchte er sie etwa? Amy hielt den Atem an, bis er an ihr vorbei war. Gott sei Dank hatte er sie nicht bemerkt. Sie setzte rasch den Käfer auf ein Blatt des Busches und hoffte zitternd, dass Larou mit Black bald auftauchen würde.

Es war heiß, Will holte mit seinen langen Fingern aus der mit Gold umsäumten Tasche ein Tuch heraus und betupfte sich die Stirn. Für einen Augenblick blieb er stehen, er war vorsichtig, damit seine Perücke nicht verrutschte. Will trug sie immer, sie war aus dem Haar seiner Mutter nach seiner Vorstellung angefertigt worden und sie musste nicht einmal gepudert werden, da die Haare seiner Mutter schneeweiß waren.

Will atmete tief durch, sah kurz zum funkelnden Sternenhimmel hoch und lief langsam weiter, den Spazierstock lässig unterm Arm geklemmt. Er brauchte keinen Stock, aber mit einer leichten Drehung am Griff kam daraus ein Florett zum Vorschein. Er kannte die Insel und ihre Gepflogenheiten nicht und im Gebüsch hatte es verdächtig geraschelt. Er wollte lieber vorsichtig sein.

Wenn er doch nur endlich das Mädchen finden würde. Mit Kindern konnte Will noch nie gut umgehen, aber dieses Mädchen brachte ihn zum Wahnsinn.

Ein wenig plagte ihn bei dem Gedanken sein schlechtes Gewissen. Obwohl er ein angesehener, wohlhabender Mann war, hatte er vor Jahren seine Frau und seine beiden Kinder verlassen, um das Leben eines Piraten zu führen. Er ließ ihnen zwar regelmäßig reichlich Geld zukommen; trotzdem war ihm bewusst, dass er seine Familie im Stich ließ. Auch er selbst hatte seinen Vater früh verloren und wusste, wie es sich anfühlte. Aber er war nicht für ein biederes Familienleben geschaffen, es nahm ihm die Luft zum Atmen. Es engte ihn ein, sodass er dankbar war, damals Samuel kennengelernt zu haben. Will lächelte beim Gedanken an Sam. Vom ersten Augenblick an hatte er sich von Sams Abenteuerlust angezogen gefühlt. Er gab ihm einen Großteil seines Vermögens für die verrückte Idee, das Gold der gesunkenen spanischen Silberflotte zu bergen. So wurde nach kurzer Zeit aus der Abenteuerlust eine richtige Berufung; sie raubten Schiffe aus und wurden so zu Piraten.

Will schüttelte den Kopf, als könnte er so die Vergangenheit abschütteln. Es gab Wichtigeres zu tun, als alten Zeiten nachzutrauern.

Als seine Mannschaft vor ein paar Tagen den Roten Löwen endlich gesichtet hatte, war ein Sturm aufgekommen und sie hatten ihn aus den Augen verloren. Nur der Knappheit der Vorräte war es zu verdanken, dass sie mit den letzten Sonnenstrahlen hier an Land gegangen waren – und da lag der Rote Löwe am Kai. Von dem Kind aber fehlte bis jetzt jede Spur, aber spätestens morgen früh würde er das Mädchen in seine Finger bekommen, da war er sich sicher.

Will hatte inzwischen den Hafen erreicht. Er sah auf die am Ankerplatz liegenden Schiffe. Auf allen Schiffen war es ruhig, nur auf einem herrschte betriebsame Unruhe. Die Mannschaft von der Fregatte Tanner würde doch nicht so leichtsinnig sein und bei Dunkelheit auslaufen?

»John Julian, bist du das?«, fragte er einen Mann, der, wie es aussah, im Schatten eines Baumes schlummerte. Die Frage war unnötig, weil er den Indianer schon an seinen ungewöhnlichen, markanten Umrissen erkannt hatte.

»Aye Käpt‘n, ich hab alles im Blick. Das Mädchen ist bis jetzt nicht aufgetaucht, aber vor ungefähr einer Stunde traute ich meinen Augen nicht, da ging ein Mann wie unser alter Käpt‘n von der Whydah die Molle entlang. Was hieß ‚ging‘ – er wurde von Matrosen genötigt, auf die Tanner zu gehen. Sie legen gleich ab und wollen nach Boston.« Die tiefe Stimme des Miskito-Indianers klang unheilverkündend.

»Glaub mir, John Julian, mir geht es an fast jedem Hafen so, immer sehe ich Sam. Die ersten paar Jahre verfolgte ich diese Männer und jedes Mal stellte ich fest: Ich hatte mich getäuscht. Wir müssen akzeptieren, dass Sam tot ist. Er hat uns für immer verlassen.«

»Hast du die Fregatte Tanner gesehen, wir hatten sie damals mit Sam vor Petit Goave bei Haiti ausgeraubt. Dies kann doch alles kein Zufall sein, die Geister wollen uns was sagen.« John Julians Stimme klang schaurig.

»Genug mit deinen Gruselgeschichten, lass uns schlafen gehen. Der Rote Löwe wird nicht vor morgen Abend auslaufen, sie müssen ihr Schiff erst gründlich überholen. Morgen früh werde ich gleich mit dessen Käpt‘n reden und dann haben wir das Mädchen.«

John Julian löste seinen starren Blick von der Tanner und folgte seinem Käpt’n. Er war sich jedoch sicher, dieses Schiff würde Unheil bedeuten.

Amy war erleichtert, als Larou zwanzig Minuten später zurückkam. Er nahm sie an die Hand und rannte mit ihr los. Atemlos erzählte er ihr, was er wusste: »Ich habe meinen Leuten Bescheid gesagt, sie haben sich umgehört. Also – Black wurde von drei Männern gegen seinen Willen auf ein Schiff ge bracht. Das Schiff wird jeden Augenblick auslaufen, wir müssen uns beeilen.«

Amy packte das blanke Entsetzen, sie musste Black helfen, er war wie ein Vater für sie. Sie wollte ihn nicht auch noch verlieren.

Die beiden erkannten gleich den Dreimaster. Auf der Fregatte Tanner herrschte reges Treiben, das Schiff wurde tatsächlich zum Auslaufen bereit gemacht.

»Larou, ich muss mit, und du sagst Kapitän Reers vom Roten Löwen Bescheid, was passiert ist, hoffentlich kann er uns helfen.«

»Robin, das ist zu gefährlich.«

»Mach dir keine Sorgen, ich kenne mich gut auf Schiffen aus und ich weiß, wo ich mich verstecken kann. Aber vielleicht braucht Black meine Hilfe, ich muss zu ihm.«

»Du bist verrückt«, stöhnte Larou verzweifelt, half ihr aber, an den Tauen zum Schiff hinüberzuklettern. Wie gut, dass der Mond gerade von Wolken verdeckt wurde.

»Pass gut auf dich auf, kleine Meeresprinzessin. Ich werde euch irgendwie helfen, das verspreche ich dir.«

»Du weißt …??« Amy sah ihn entsetzt an.

»Deine Verkleidung ist gut, aber deine Augen haben dich verraten.«

»Und du lässt mich trotzdem gehen, obwohl ich ein Mädchen bin?«

»Gerade deshalb. Bei uns gibt es ein Sprichwort: ‚Eine Frau tut immer, was sie will.‘« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und kletterte lautlos zurück.

Amy berührte die Stelle auf ihrer glühenden Wange und sah ihm verdutzt nach. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als sie ihn gehen sah. Hoffentlich würde sie Larou bald wiedersehen.

Erst die unfreundliche Stimme des Kapitäns, der seiner Mannschaft Kommandos zubrüllte, riss sie aus ihren Gedanken. Schon an seiner Stimme erkannte sie, dass er ein unangenehmer Mensch war.

Vorsichtig sah sich Amy um, offenbar hatte sie noch niemand bemerkt. Auf der Tanner herrschte nicht die Ordnung wie bei Kapitän Reers, was für Amy gut war, denn so gab es genug Möglichkeiten, sich zu verstecken.

Die Anker wurden gelichtet, die benötigten Segel gesetzt – die Tanner verließ langsam den Hafen. Amy war gerade noch rechtzeitig gekommen, um unbemerkt aufs Schiff zu gelangen.

Nachdem die Fregatte weit genug von der Küste entfernt war, kroch sie im Schutz der Dunkelheit näher an die Männer heran, die sich um den Großmast versammelt hatten.

Der Kapitän, in dunkler Kleidung und mit einem Dreispitz, stand schwankend auf dem Poopdeck und lachte lauthals. »Männer, wir werden fette Beute machen. Ein Toter ist zum Leben erwacht, haha. Der Robin Hood der Piraten ist auferstanden – und er wird uns zu seinem Schatz führen.«

Jetzt erst sah Amy Black, der gefesselt am Großmast stand. Die Männer hatten ihn übel zugerichtet. Er blutete aus der Nase und sein linkes Auge war geschwollen. Voller Verachtung blickte er zum Kapitän hinauf.

»Hast du mir nichts zu sagen, Samuel Bellamy?« Der Kapitän der Tanner ging langsam und mit festem Schritt auf ihn zu.

Mit der Messerspitze hob er das Kinn seines Gefangenen an und blickte Black überlegen in die Augen. Black jedoch hielt seinem Blick stand.

Amy hätte vor Entsetzen fast laut geschrien. Doch geistesgegenwärtig schlug sie sich noch rechtzeitig die Hand vor den Mund. Dann fing sie aus lauter Verzweiflung an, an ihren Fingernägeln zu kauen.

»Was für ein Pech, dass Ihr mich beim Kartenspielen nicht erkannt habt, was? Ihr dachtet wohl, Ihr hättet eine Glückssträhne, doch ich habe Euch extra gewinnen lassen.« Jetzt lachte der Kapitän noch mehr, und mit einem gekonnten Messerschwung schnitt er den Beutel von Blacks Gürtel ab. Ein Matrose hob ihn eiligst auf und gab ihn dem Kapitän. Dieser warf den Beutel einige Male hoch, sodass man die Münzen klirren hören konnte.

Der Zorn stieg in Black hoch. Nicht, dass er wirklich wusste, was für ein Interesse dieser elende Kerl an ihm hatte, aber er erkannte in diesem Kapitän mit einem Mal Thomas Checkley von der Gerichtsverhandlung in Boston wieder, die nach dem Schiffsunglück stattfand, das er überlebt hatte. Allerdings war das fast elf Jahre her, und er hatte den verwahrlosten Mann nicht gleich erkannt.

Checkley hatte sich damals als seriöser Seemann ausgegeben, dem bei einem Piratenangriff übel mitgespielt worden war. Er hatte in dieser Verhandlung gegen sechs Piraten ausgesagt, die damals am Überfall beteiligt gewesen waren und sich an Land hatten retten können. Mit seiner Aussage hatte er diese Männer schwer belastet.

Auch Black war ein Überlebender dieses Schiffsunglücks gewesen, aber er war schwer verletzt von einem Fischer gerettet worden. In jener Nacht waren zwei Schiffe gekentert. Eines davon war ein Piratenschiff, das andere ein Handelsschiff. Black hatte bei seiner Suche nach Erinnerung immer gehofft, dass er nicht an Bord des Piratenschiffes gewesen war. Die jetzige Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag – er war also doch einer dieser Piraten gewesen.

»Jetzt seid Ihr kleinlaut, aber damals, als Ihr unser Schiff gekapert habt, habt Ihr noch herzzerreißende Reden gehalten. Was ist aus Eurem losen Mundwerk geworden, Samuel Bellamy , Piratenkapitän der Whydah ; und wo habt Ihr Eure Mannschaft gelassen? Haben sie alle den Boden unter ihren Füßen verloren?«

Die Meute brach in ein schadenfrohes Gelächter aus – bis Black fragte: »Was wollt Ihr von mir?«

Wieder lachten alle, als hätte Black einen Scherz gemacht.

»Was wir wollen? Sollen wir Eurem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen?« Der Kapitän hielt das Messer dicht an Blacks Hals. Doch Black verzog keine Miene.

»Und – könnt Ihr Euch wieder erinnern?«, blaffte ihn der Kapitän an.

Black schwieg, seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, in seinem Kopf schwirrte es wild durcheinander. Noch immer konnte er sich an nichts erinnern – aber jetzt kannte er wenigstens seinen echten Namen, Samuel Bellamy . Er hatte wieder eine greifbare Vergangenheit, und die behagte ihm so gar nicht. Doch der Einzige, der ihm mehr darüber hätte erzählen können, stand gerade hämisch grinsend mit einem Messer vor ihm.

Blacks Schweigen dauerte Checkley viel zu lange. Langsam wurde er ungeduldig.

»Elender Hund. Man sagt, bevor die Whydah sank, habt Ihr einen Schatz vergraben. Könnte er vielleicht auf Beef Island sein? Dort habt Ihr Euch doch so gerne herumgetrieben.« Seine Stimme wurde lauter. »Entweder Ihr sagt uns, wo sich der Schatz befindet, oder wir bringen Euch vor das Admiralitätsgericht in Boston. Dann könnt Ihr Hochzeit feiern mit des Seilers Tochter.«

»Aber dann wird Euch das Gericht gleich mitverurteilen und Euch Schmuggler ebenfalls aufhängen. Und ich werde dann mein Geheimnis mit ins Grab nehmen«, erwiderte Black verächtlich. Dieses hier war kein gewöhnliches Handelsschiff, das war ihm gleich aufgefallen, als er gesehen hatte, dass die Matrosen bis auf den letzten Mann schwer bewaffnet waren.

»Bringt ihn runter in die Arrestzelle und bindet ihm eine Fußfessel um. Jeden Tag bekommt er eine Ration Wasser und ein Stück trockenes Brot, sodass er gerade halbwegs am Leben bleibt. Dann werden wir sehen, wie lange er noch vergessen hat, wo er den Schatz vergraben hat. Bis wir in Boston sind, haben wir noch ein paar Wochen Zeit.« Sein gehässiges Lachen war noch weit zu hören.

Zwei Matrosen brachten Black in den Laderaum, tief unten im Rumpf des Schiffes, wo es entsetzlich nach Bilgenwasser und verdorbenem Fleisch stank.

Black fühlte sich genauso, wie er sich vor zehn Jahren gefühlt hatte. Das hatte sich erst an jenem Tag geändert, an dem Eduard Trevor ihn in einer Spelunke vor vier wild gewordenen Matrosen gerettet hatte. Davor war ihm sein Dasein so sinnlos und leer erschienen, ohne jede Erinnerung an sein bisheriges Leben, sodass er die Zeit mit Trinken und Spielen in Spelunken verbrachte. An besagtem Abend hatte er Streit mit gleich vier Matrosen. Eduard war ihm zu Hilfe gekommen. Er war es auch gewesen, der ihn auf das Schiff von Kapitän Reers gebracht hatte, nachdem er von Blacks Geschichte erfahren hatte. Das war das Beste, was Black hatte passieren können.

Zehn gute Jahre war er inzwischen an Bord des Roten Löwen , bis ihn jetzt seine Vergangenheit wieder eingeholt hatte.

Nachdem zwei Männer ihn in den dunklen Laderaum gebracht hatten, ging ihm nur ein entsetzlicher Gedanke durch den Kopf: Er sollte der Piratenkapitän der Whydah gewesen sein? Dann hätte er über fünfzig Schiffe ausgeraubt?

Damals bei der Gerichtsverhandlung nach dem Schiffsunglück hatte er viel über den Anführer der Piraten gehört. Er sei ein kalter, habgieriger und grausamer Mensch, der angeblich ohne Skrupel und Gewissen war. Einer, der kaltblütig Schiffe ausraubte und unschuldige Matrosen zwang, ebenfalls Pira ten zu werden. Und dieser Anführer sollte er selbst gewesen sein?

Es erschien ihm absurd, es passte nicht zu ihm.

Was hatte er denn die letzten Jahre für schlechte Eigenschaften an sich entdeckt? Er war eine Kämpfernatur, die nicht so schnell aufgab, darüber hinaus liebte er seine Freiheit und Unabhängigkeit. Mit Sicherheit war er waghalsig, gelegentlich impulsiv und ganz selten aufbrausend – aber nur, weil er Ungerechtigkeiten hasste. Außerdem konnte er sich durchsetzen und verlangte viel, war aber auch bereit, selbst bis zum Umfallen zu schuften.

Reichte all das dafür aus, ein grausamer Pirat zu sein?

Vielleicht war er aus Not, gezwungenermaßen, an Bord eines Piratenschiffes gewesen, weil er ein hervorragender Steuermann war, aber niemals als Kapitän der Piraten.

Plötzlich wurde Black durch ein scharrendes Geräusch aus seinen Gedanken gerissen; er konnte jedoch nichts erkennen, sosehr er seine Augen auch anstrengte.

»Black, seid Ihr hier?«, klang Amys zaghafte Stimme aus der Dunkelheit.

»Robin?? Was in drei Teufels Namen machst du hier, geh sofort zurück an Land.«

Jetzt hörte er eine Zunderbüchse und das Geräusch von Feuerstein auf Stahl, und dann sah er Robin im schwachen Schein einer Kerze.

»Mach sofort die Kerze aus, sie könnten das Licht durch die Grätings sehen«, zischte er ihr zu.

»Über uns ist nur ein Laderaum, und dort sind nur Kisten. Ich bringe Euch etwas zu essen, der Koch an Bord soll miserabel sein«, versuchte Amy zu scherzen, dabei verzog sie entsetzt ihr Gesicht, als sie Blacks Wunden bei Kerzenschein sah.

»Smutje.«

»Entschuldige: Smutje. Habt Ihr Hunger?«

»Robin, wie kommst du auf das Schiff?«

»Ich bin am Seil hinübergeklettert.«

»Tau, das heißt Tau.«

»Ja, am Tau.«

»Was machst du hier?«

»Soll ich Eure Fessel lösen?«

»Lieber nicht, sonst werde ich dir den Hals umdrehen.«

»Black, jetzt seid mir bitte nicht böse, ich wollte Euch nur helfen«, erwiderte Amy schuldbewusst, tröpfelte etwas Wachs auf den Boden vor Black und stellte die Kerze in das noch warme Wachs hinein.

»Wie stellst du dir das denn vor? Dass wir beide eine Meuterei anfangen und das Schiff kapern?«

»Ich dachte, Ihr seid Pirat, Sir.«

Ein schmerzvoller Ausdruck erschien auf Blacks Gesicht. »Du hast alles mitgehört?«

Amy nickte.

»Schande über mich. Robin, ich bin keinen Deut besser als diese Schmuggler da oben. Du hättest mir nicht folgen dürfen. Spring über Bord, schwimm an Land, aber bleib bitte nicht hier. Du kannst mir nicht helfen. Geh von Bord, solange du kannst!«

»Aber Larou sagt Kapitän Reers Bescheid. Er wird uns bestimmt helfen!«

Black schnaubte ärgerlich durch. »Das hättest du nicht tun sollen. Außerdem habe ich Reers alles über mich erzählt, was ich wusste. Er hat mich trotzdem in seine Mannschaft aufgenommen. Ich habe Käpt’n Reers versprochen, sollte sich herausstellen, dass ich was mit den Piraten zu tun habe, werde ich den Löwen verlassen, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Also brauchst du auf deren Hilfe nicht zu hoffen.«

Als Amy widersprechen wollte, schnauzte er sie unbeherrscht an: »Verschwinde jetzt, ich will dich nicht mehr sehen!«

Damit blies er die Kerze aus und kickte sie mit dem freien Fuß weg. Er war aufgewühlt, seine Wunden schmerzten und er wusste nicht einmal, wie er mit sich selbst fertigwerden sollte. Wie sollte er in dieser Lage, als Gefangener, auch noch auf ein Kind aufpassen?

Amy wich erschrocken zurück, noch nie hatte sie ihn so außer sich erlebt. Verwirrt stolperte sie den langen Gang entlang, öffnete die Tür, schloss sie dann von innen wieder. Wo sollte sie auch hin? Hier unten war der sicherste Platz. Hier gab es die besten Möglichkeiten, sich zwischen den Kisten zu verstecken. Zurück an Land konnte sie nicht mehr, das Schiff war schon viel zu weit weg, außerdem war es mitten in der Nacht.

Warum war Black nur so hart zu ihr? Sie wollte ihm doch nur helfen und konnte nicht glauben, dass Black ein grausamer Pirat war. Ein Kloß steckte in ihrem Hals. Nein, sie durfte jetzt nicht weinen. Sie war doch jetzt ein Junge. Ärgerlich wischte sie die verräterischen Tränen weg.

Amy wusste nicht, wie lange sie so dagesessen hatte, als sie ein leises Rufen hörte: »Robin!«

Sie antwortete nicht.

»Ich weiß, dass du hier bist, komm her!«

Widerwillig kroch sie im Finsteren zu Black.

»Es ist zu gefährlich hier, wenn du einschläfst, werden dich die hungrigen Ratten, die überall sind, anfressen. Wenn du müde bist, schlaf bei mir, ich passe auf dich auf.«

»Soll ich Euch jetzt vielleicht die Fessel lösen?«, fragte sie kaum hörbar. Black war mit einem Fuß an einer längeren Kette gefesselt, die am Boden befestigt war.

»Mit deinen Zähnen?«, kam die ironische Antwort.

»Nein, aber mit einem spitzen Messer lässt sich das Schloss vielleicht knacken.«

»Du hast ein Messer?«

»Ja, sicher verstaut.« Sie hatte das kleine Messer aus der Truhe in dem Leinensäckchen, in dem sich auch ihre Zahnbürste befand, im Inneren ihrer Hose befestigt.

»Mach mal die Kerze wieder an.«

Amy kroch über dem Boden und tastete nach der Kerze, die sie schnell wiederfand. Als sie sie angezündet hatte, nahm Black ihr das Messer ab und sah es sich im Kerzenschein an.

»Alle Achtung, ganz schön gefährlich, was du so mit dir rumträgst. Damit könnte ich das Schloss aufbekommen, aber das versuche ich erst, wenn ich einen Plan habe. Inzwischen ist es zu spät, über Bord zu springen.« Damit wollte er Amy das Messer wieder zurückgeben.

»Behaltet es, Ihr könnt bestimmt besser damit umgehen.«

Darauf schob sich Black das Messer in den Schaft seines Stiefels.