16. April anno 1728
Kanarische Inseln, Telde.
27° 59’, Wind: NO 45°, 21 Knoten.
Samuel Bellamyk
Z wei Tage später legten sie an einer der Kanarischen Inseln an, um die letzten Vorräte für die lange Überfahrt zu den Westindischen Inseln aufzunehmen.
Larou saß auf der Rah und überprüfte das laufende Gut mit John Julian. Es war heiß, und sie hatten wie immer keine Hemden an. Inzwischen waren die beiden jungen Männer gute Freunde geworden.
»Ich muss kurz zu Amy, sie verlässt gerade das Schiff, nicht, dass sie Dummheiten macht.«
Larou sah von oben, wie sie sich umsah, um sich dann unbemerkt von Bord zu schleichen.
»Sag aber vorher dem Käpt’n Bescheid. Für unsereins ist die Insel nicht sicher, heute ist großer Sklavenmarkt in Telde, es wimmelt hier nur so von Sklavenhändlern«, warnte ihn John Julian.
Bis Larou von dem Mast heruntergeklettert war, hatte er Amy bereits aus den Augen verloren. Er überlegte kurz, ob er dem Käpt’n Bescheid sagen sollte. Aber eigentlich konnte sie noch nicht sehr weit sein. Rechts von ihnen lag nur noch die Tanner, also konnte sie nur nach links gelaufen sein.
Larou rannte die belebte Mole entlang, konnte Amy aber nirgends entdecken. Dann blieb er nur ganz kurz stehen, um sich zu orientieren, als er plötzlich von hinten von zwei riesigen Händen gepackt wurde.
»Da haben wir dich ja wieder, Bürschchen.« Der Mann hatte ein raues, gehässiges Lachen, sodass Larou eine Gänsehaut über den Rücken lief.
»Sie verwechseln mich, ich habe nichts getan.« Larou war der Verzweiflung nahe.
Ohne ihn loszulassen, gingen sie ein Stück durch die verwinkelte Hafenstadt und kamen an einen großen Platz vor der Mole mit Hunderten von gefangenen Afrikanern, die streng bewacht wurden. Das Jammern und Wehklagen ging Larou durch Mark und Bein.
»Käpt’n Potts, sie sind wieder vollzählig.«
»Passt nächstes Mal besser auf, Latif, sonst könnt Ihr Euren Kopf hinhalten«, mahnte Kapitän Gerald Potts.
Larou sah jetzt den Mann, den der Kapitän Latif nannte. Noch immer hatte er ihn fest im Griff. Latif war ein riesiger dunkelhäutiger Mann mit einem grimmigen Gesicht und einem kahlen Kopf.
»Wenn du dich ruhig verhältst, kannst du mit deinen Sprachkenntnissen eine bevorzugte Stelle auf dem Schiff bekommen. Knie dich zu den anderen.«
Etwa zwanzig Männer, alle ohne Hemden, knieten in einer Reihe.
»Seht Ihr nicht, ich gehöre zu den weißhäutigen Mauren, mein Volk bringt die Sklaven durch die Wüste an die Goldküste.«
Es war das erste Mal, dass Larou aussprach, was ihn schon längere Zeit quälte. Er selbst war nur mit einer Salzkarawane durch die Wüste gezogen, doch er kannte genügend Mitglieder seines Stammes, die sich am Sklavenhandel beteiligten, und jetzt sollte er selbst ein Sklave werden. Er schluckte schwer.
Doch Latif war damit offenbar nicht zu beeindrucken, er lachte gehässig und gab Larou einen heftigen Stoß, sodass er der Länge nach auf den Boden fiel. Daraufhin blutete Larous rechtes Knie, und in seinen Handflächen steckten kleine Kieselsteinchen.
Doch er achtete nicht auf den Schmerz, sondern stand so schnell auf, wie er gefallen war, und sprang dann mit voller Wucht gegen Latif. Jedoch waren sofort zwei andere Männer an Latifs Seite und zwangen ihn mit Gewalt in die Knie.
Larous Rücken wurde mit Palmöl bestrichen. Kurz darauf durchzuckte ein höllischer Schmerz seinen Körper, und der Geruch von verbranntem Fleisch lag in der Luft. Man brannte ihm ein Zeichen auf das rechte Schulterblatt. Der Schmerz ließ ihn fast ohnmächtig werden.
Was geschah nur mit ihm? Larou kam sich wie in einem schrecklichen Albtraum vor.
Dann wurden diejenigen, die ein Brandzeichen bekommen hatten, mit einer Peitsche auf das Schiff getrieben.
Larou warf mit Tränen in den Augen einen letzten Blick auf die Marianne , die einige Meter entfernt friedlich in der glühenden Mittagssonne zwischen den anderen Schiffen lag.
Jetzt würde er seine Freunde nie wiedersehen.
Sie waren nicht die ersten Sklaven, die auf das Schiff kamen. In dem stickigen Laderaum unter Deck saßen schon Hunderte von Sklaven, immer paarweise mit Fußfesseln aneinandergekettet. Die Gefangenen saßen reihenweise nebeneinander, sie hätten sich nicht hinlegen können, ohne aufeinanderzuliegen. Ein Tier hatte in einem Stall mehr Platz als diese vielen Menschen, es mussten Hunderte sein.
Eben war er noch ein glücklicher Junge gewesen, und von einem Moment zum nächsten war sein Leben zerstört. Wie sollte er dieser misslichen Lage jemals wieder entkommen?
Erst als Sam nach Amy rief, wurde John Julian bewusst, dass etwas nicht stimmte. Schnell kletterte er nach unten und erklärte Sam, was geschehen war. Dann wurde das ganze Schiff nach den beiden durchsucht.
Gerade als Sam sich mit einigen Matrosen auf die Suche an Land machen wollte, kam Amy ahnungslos über die Anlegebrücke auf das Schiff zurück.
Sam packte sie an den Schultern. »Wo warst du, verdammt noch mal?«
»Au, du tust mir weh«, jammerte sie. »Ich habe doch nur Black Sam, meine Ratte, von der Tanner geholt.«
Sams Gesicht verhärtete sich ärgerlich, sodass die Narbe blass auf seiner Stirn hervortrat.
»Eine Ratte geholt?« Sams Stimme schnappte fast über vor Empörung. »Weißt du, was du damit angerichtet hast? Larou ist verschwunden. Er wollte wissen, wo du dich hinschleichst. Verdammt. Und heute ist Sklavenmarkt.«
Amys Augen weiteten sich vor Schreck.
»Wir müssen ihn finden«, brachte sie flehend hervor.
»Wir sind gerade dabei, und du bleibst hier. John Julian, pass auf sie auf. Leg sie notfalls in Ketten.« Mit großen Schritten verließ Sam den Bootssteg.
»Warum ist er so wütend auf mich? Ich konnte doch nicht wissen, dass Larou mir nachgeht«, fragte Amy John Julian, den Tränen nahe.
»Du hast seine Wut nur abbekommen, weil er voller Sorge um Larou ist. Er weiß, was auf Larou zukommen wird, wenn er in die Hände der Sklavenhändler gefallen ist.«
»Woher weiß er das?«
»Von uns. Viele hier an Bord sind befreite Sklaven. Hast du noch nicht die Brandzeichen auf unseren Schultern bemerkt?«
Er drehte sich so, dass sie die zwei ineinandergeschlungenen Buchstaben auf seiner rot schimmernden Haut sehen konnte.
Amy war entsetzt. Das hatte sie nicht gewusst. Vorsichtig fuhr sie mit dem Finger über die Unebenheit.
John Julian zuckte zurück.
»Oh, Entschuldigung, ich wollte dir nicht wehtun.«
»Nein, es tut nicht weh, es ist nur die Erinnerung, die mich empfindlich macht.«
»Das tut mir leid, wie können sie euch das nur antun?«
»Sie sehen uns nicht als Menschen und behandeln uns schlimmer als Tiere.«
Amy schüttelte benommen den Kopf. Ihr war nicht bewusst gewesen, in welche Gefahr sie den armen Larou gebracht hatte. Hoffentlich würde Sam ihn finden, er musste ihn einfach finden.
»Die Whydah , Sams Flaggschiff, war ein Sklavenschiff, auf dem sechshundert Sklaven unter Deck transportiert werden konnten. Als er damals die Räume mit den angebrachten Fußfesseln sah und unsere Geschichten darüber hörte, wusste er, für wen und für was er kämpfte. Es war sein Ziel, den Unterdrückten ein freies Leben zu ermöglichen, in dem die Hautfarbe und die Herkunft keine Rolle spielen würden.«
»Es tut mir so leid für euch. Und der arme Larou, jetzt sehe ich ihn nie wieder«, schluchzte Amy.
John Julian legte einen Arm um sie. »Das wird nicht geschehen, wir werden ihn finden. Und es ist nicht deine Schuld, dass die Menschen so sind. Frag mal deinen Vater, warum er Pirat wurde und was er erlebt hat, dann wirst du ihn verstehen.«
»Ich glaube, er wird nie wieder ein Wort mit mir reden. Er hasst mich bestimmt.«
Gegen Mittag kam Will mit einem ängstlichen Jungen zurück. Vom Alter und den Haaren her hatte er Ähnlichkeit mit Larou, nur seine Haut war deutlich dunkler.
»Das ist Saeed, er ist heute Morgen den Sklavenhändlern entwischt. An seiner Stelle wurde Larou gefangen.«
Als Amy das hörte, wurde ihr übel. Sie fühlte sich so benommen, dass sie nicht einmal mehr weinen konnte.
Traurig zog sie sich mit Black Sam ins Krähennest zurück. Dort saß sie mit Jako, der mit hüpfenden Bewegungen auf sich aufmerksam machen wollte, aber Amy nahm ihn nicht einmal wahr. Sie hatte die Arme um ihre Knie geschlungen und den Blick in die Ferne gerichtet.
Irgendwo da draußen war Larou, und sie war schuld, ihretwegen musste er jetzt leiden. Nur durch ihre Schuld war er zum Sklaven geworden.
Ein rosa Schnäuzchen mit schwarzen Barthaaren schaute aus Amys Hemd heraus, »Black Sam, da haben wir ja was angerichtet! Mir ist schon ganz schlecht vor lauter Sorge um Larou!«
John Julian hatte Amy nicht aus den Augen gelassen und konnte Sam gleich sagen, wo sie war, als dieser erfolglos von der Suche nach Larou zurückkam. Sam kletterte zu ihr hoch. Hier oben spürte man den Wind noch heftiger, die Inseln waren bekannt für ihre starken Winde. Sogar der Kakadu musste sich kräftig festhalten, um nicht weggeweht zu werden, doch er schien Amy in ihrem Kummer nicht alleine lassen zu wollen.
Besorgt sah er auf das Häufchen Elend nieder, das liebevoll seine Ratte streichelte. Sein Herz zog sich zusammen, weil er so streng zu ihr gewesen war. Entschlossen setzte er sich neben sie.
»Es tut mir leid, Amy, ich wollte vorhin nicht so streng sein, ich habe mir nur entsetzliche Sorgen um Larou gemacht.«
»Mir tut es leid. Ich wollte doch nur kurz auf die Tanner, um Black Sam zu holen« Schuldbewusst setzte sie die Ratte neben sich, die sich vor Sam hinter dem Masten versteckte. »Oh Sam, was wird jetzt aus Larou? Wir müssen ihm helfen. Wie können wir ihn befreien? Als Piraten könnt ihr doch so etwas. Oder?«
Dicke Tränen kullerten aus ihren grünen Augen.
Bis jetzt hatten sie so viele Gefahren überstanden, doch nie hatte er seine Tochter weinen sehen. Sam seufzte. Vater zu sein, war nicht einfach. Vorsichtig fasste er sie an den Schultern und drehte sie zu sich. Dann hob er mit dem Zeigefinger ihr Kinn an, um in ihre tränenverschleierten Augen sehen zu können. Dann fragte er langsam und betont: »Du meinst, das Sklavenschiff kapern, wie Piraten?«
Sie zuckte mit der Schulter. »Hast du eine bessere Idee?«
Sam legte den Arm um Amy und drückte sie tröstend an sich. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, sie sagte endlich du zu ihm, auf diesen Moment hatte er gewartet.
»Wir könnten der Fregatte folgen, bis die Sklaven in West Indien verkauft werden, und Larou ganz legal ersteigern, aber ob er das so lange durchsteht? Das Leben an Bord eines Sklavenschiffes ist grausam. Täglich sterben Menschen, es gibt unzählige Krankheiten, und wenn sie nicht körperlich krank werden, dann doch ihre Seele, und es dauert lange, bis sie heilt, oft auch niemals.«
»Ich will nicht, dass er so lange leiden muss. Weißt du noch, wie man Schiffe überfällt?« Flehend sah sie ihn an.
Sam kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Ich kann mich dunkel daran erinnern. Aber du willst doch bestimmt nicht, dass dein Vater sich gegen das Gesetz des Königs stellt? Dem König wird es gar nicht gefallen, wenn wir ihm einen Sklaven wegnehmen.«
»Sind das wirklich Gesetze des Königs, dass man Menschen einfangen und verkaufen darf?« Amy kniete sich hin und sah ihn gespannt an.
»Er verdient damit viel Geld, alles andere ist dem König egal.«
»Dann mag ich den König nicht mehr. Woher nimmt er sich das Recht, einfach Menschen zu verkaufen? Wir müssen Larou so schnell wie möglich befreien.« Amy war völlig aufgebracht. Dann stand sie so schnell auf, dass Jako erschrocken aufkreischte und wild mit den Flügeln flatterte.
»Siehst du, sogar Jako ist bereit zum Kampf. Verflucht sei König George II., wenn er solche hirnlosen Gesetze macht.«
»Pst, du fluchst wie ein Pirat, das gehört sich für Gesetzestreue nicht.« Er zwinkerte ihr zu.
Sie legte den Kopf schief und sah ihn treuherzig an. »Vati? Darf ich noch deine Piratentochter sein?«
»Du warst immer meine Piratentochter.« Liebevoll wischte er die Tränen von ihren Wangen und drückte sie an sich.
Von unten ertönte ein Pfiff. Will gab ihnen ein Handzeichen, dass sie herunterkommen sollten.
Alle Männer versammelten sich an Deck. Will läutete einmal die Schiffsglocke, um für Ruhe zu sorgen.
»Der Junge hier ist Saeed, ich habe ihn gefunden, als ich auf der Suche nach Larou war. Saeed ist vom Sklavenmarkt abgehauen, und er würde gerne bei uns bleiben. Seid ihr alle damit einverstanden?«
Alle hoben die Hand, nur Amy nicht.
»Amy, du nicht?«, fragte Will.
Amy hatte nicht damit gerechnet, dass sie auch gefragt wurde.
»Ich will, dass Larou wiederkommt. Aber dieser Junge, er kann natürlich auch bleiben.«
»Larou ist unser nächster Punkt. Von Saeed habe ich erfahren, dass die Sklaven auf der Winchester auf den Westindischen Inseln verkauft werden. Ich habe unseren Bootsmann Richard Caverley zum Erkunden des Schiffes ausgeschickt. Caverley, was hast du herausgefunden?«
Richard Caverley, ein kräftiger, großer Mann Anfang vierzig mit schwarz meliertem Haar und pockennarbigem Gesicht, erklärte: »Die Fregatte Winchester wird morgen früh auslaufen, ihr Ziel ist Nassau auf den Bahamas. Das Batteriedeck ist bewaffnet mit zwanzig Zweiunddreißigpfündern und das Oberdeck mit achtzehn Neunpfündern. Der Kapitän heißt Gerald Potts, es ist seine zweite Fahrt als Kapitän, und er gilt als sehr ehrgeizig. Es ist fraglich, ob er sein Schiff kampflos aufgeben wird. Die Mannschaft besteht aus über fünfzig erfahrenen Männern. Darunter sind auch einige afrikanische Aufseher, wobei man nicht sagen kann, auf wessen Seite sie stehen.«
Will übernahm wieder das Wort: »Wer ist dafür, Larou zu befreien?«
»Der Bengel ist keinen Schuss Pulver wert! Sollen wir deswegen unser Leben riskieren?«, rief Chester Longmore von der Tanner dazwischen.
»Genau, wir könnten alle dabei draufgehen. Und das für einen Sklaven. Außerdem haben die viel mehr Kanonen als wir«, bemerkte der Bootsmann Hopkins.
»Larou ist ein feiner Kerl, außerdem verdient es kein Mensch, monatelang wie ein Tier im Rumpf des Schiffes gefangen gehalten zu werden. Wir würden damit allen einen Gefallen tun, nicht nur Larou«, meldete sich John Julian zu Wort.
Allgemeines Gemurmel entstand, die ehemalige Mannschaft der Tanner hatte nur zögerlich zugestimmt, Saeed aufzunehmen, doch sie waren nicht bereit, ein Schiff zu überfallen.
Erneut erklang die Schiffsglocke und die Mannschaft verstummte. »Wer dafür ist, Larou zu befreien, der hebe die Hand«, befahl Will.
Das waren bange Minuten für Amy, denn sie wollte unbedingt, dass Larou befreit wurde. Nervös kaute sie an einem Fingernagel.
Ein Mann nach dem anderen gab Handzeichen, manche zögerlich, andere redeten noch miteinander, von den neuen Mannschaftskameraden stimmten nur wenige zu.
»Und du, Amy, willst du nicht, dass Larou be freit wird?«, fragte Sam mit hochgezogenen Augenbrauen und nahm ihr den Finger aus dem Mund.
»Doch, doch natürlich.« Schnell hob sie die Hand. Vor lauter Aufregung hatte sie doch fast vergessen, zuzustimmen. Jetzt war es unentschieden.
»Denkt daran, ihr wärt in Larous Lage, wolltet ihr dann nicht auch gerettet werden?«, fragte Will stirnrunzelnd.
Ein stämmiger Afrikaner, dessen Gesicht unheimlich tätowiert war und der Mahdi genannt wurde, sprach mit Saeed, der daraufhin seine Hand hob. »Saeed will auch Larou retten« übersetzte Mahdi.
»Er hat doch noch nicht mal auf den Kodex geschworen, genauso wie das Mädchen!«, raunte die raue Stimme von Brian Norris übers Deck.
Jetzt hoben zaghaft Jack Barry und Bill Crackston, die nebeneinander standen und zuvor miteinander geflüstert hatten, die Hand.
»Darauf kommt es nicht mehr an, wir haben die Mehrheit und Larou wird befreit!«, lächelte Will zufrieden, wurde aber gleich wieder ernst. »Männer, ich werde mit den Offizieren und Sam einen Plan austüfteln. Sollte einer von euch eine Idee haben, meldet euch. Ach, Sean, würdest du schauen, ob wir noch irgendwo auf der Marianne einen zweiten Jolly Roger haben? Wenn wir schon ein Schiff um seine Beute bringen, dann wenigstens unter der richtigen Flagge. Danach komm wieder zurück.«
Sean Kelly war ein Geistlicher, der bei einem Überfall gefangen wurde, als Will noch mit La Buse gesegelt war. Sean war auf dem Weg nach Indien gewesen, um dort zu missionieren. Will war sofort von Seans Ähnlichkeit mit Sam überwältigt gewesen. Nur war er im Ganzen viel schmächtiger und jünger als Sam. Mit der Zeit wurde Sean Wills engster Vertrauter.
Da meldete sich Sam noch einmal zu Wort: »Will, Moment, mir fällt da gerade etwas ein.« Sam fuhr sich durch die dunklen Haare, als könnte er so seine Gedanken besser sortieren. »Mir kommt da eine Idee. Will, kann ich mich bei deiner Garderobe bedienen?«
»Was meins ist, ist auch deins, nimm dir, was du brauchst.« Will kannte Sams angestrengten Gesichtsausdruck, er war genauso wie früher, wenn er einen Plan für einen Überfall ausheckte. Innerlich musste er grinsen, sein alter Freund war wieder in Höchstform.
Sam stürmte in die Kabine, wusch sich, putzte sich die Zähne und zog sich eiligst um. Während dieser Zeit arbeitete es unaufhörlich in seinem Kopf.
Elegant wie ein wohlhabender Kapitän, mit einer geliehenen Perücke und in eine Duftwolke gehüllt, erschien er wieder an Deck. Mit einem lauten Pfiff erlangte er erneut die Aufmerksamkeit der Männer.
»Für die nächsten Tage werde ich Kapitän John Black von der Tanner sein, und wir sind ein seriöses Handelsschiff. Will, du bist ein reicher Fahrgast, der mit Frau und Tochter reist. Sean, du bist die Frau, und Amy die Tochter. Bringt die Tanner auf Hochglanz, ich werde wahrscheinlich nicht alleine zurückkommen. Bereitet in der Kabine ein Abendessen für sechs Personen vor. William Condon, du bist auch anwesend als Kapitän David Turner von der Marianne . Drückt mir die Daumen.« Mit großen Schritten verließ er das Schiff, während seine Kameraden ihm fragend nachsahen.
Zielstrebig ging Sam die Mole entlang, direkt auf die Winchester zu. Die Sklaven waren alle untergebracht, es wurden lediglich noch Kisten und Lebensmittel verladen, denn das Schiff würde morgen früh auslaufen.
»Entschuldigen Sie, Sir, könnten Sie mir sagen, wo ich den Kapitän der Winchester finde?«
Latif drehte sich erstaunt um. »Ähm, der Käpt’n befindet sich an Bord, Sir, ich werde Sie zu ihm bringen.«
»Danke, sehr freundlich.«
Dann brachte Latif ihn auf die Winchester .
Der junge Kapitän Gerald Potts führte sein Schiff ordentlich. Aber bei aller Sauberkeit ließ sich auf einem Sklavenschiff der Geruch nach Schweiß und Exkrementen nicht vermeiden.
»Käpt’n Potts, Besuch für Sie.«
Kapitän Potts stand mit seinem Ersten Offizier auf dem Kajütendeck über eine Karte gebeugt. Überrascht schaute er hoch und blickte Sam an.
»Ich bin Kapitän John Black von der Fregatte Tanner . Wir haben einige Schiffe neben Euch angelegt. Mein Bootsmann hat zufällig mitbekommen, dass Ihr Euch auf dem Weg nach Nassau befindet, genau wie wir. Deshalb wollte ich Euch fragen, auch im Namen von Kapitän David Turner der Sloop Marianne , ob wir uns Euch anschließen dürfen. Ihr wisst ja, im Konvoi zu segeln, bringt mehr Sicherheit vor Piratenangriffen.«
Kapitän Potts reichte ihm die Hand.
»Ich bin Kapitän Gerald Potts, wir werden morgen mit der Flut auslaufen, wenn Ihr bis dahin bereit seid, spricht nichts dagegen.«
»Das ist gut. Kapitän David Turner von der Marianne und ich würden uns freuen, wenn Ihr heute Abend unser Gast sein würdet.«
In diesem Moment flog eine Möwe über das Deck und entleerte sich genau auf Wills dunkelblaues Samtjackett.
»Verfluchte Biester.« Sam suchte in den Taschen seines Jacketts vergeblich nach einem Taschentuch.
»Kommt, Kapitän Black. Wir bringen das in meiner Kabine in Ordnung.«
Als sie den Niedergang hinuntergingen, hörten sie aus der Ferne die Klagelaute der Sklaven.
»Wie ertragt Ihr das nur jeden Tag?«
»Man gewöhnt sich an alles, die Bezahlung ist gut, und als junger Kapitän hat man die besten Aufstiegsmöglichkeiten. Tretet ein, Käpt’n Black.«
Potts’ Kabine war weiß gestrichen, die Winchester hatte ein eckiges Heck mit einer großen, prunkvoll verzierten Fensterreihe, durch die der Raum mit Tageslicht durchflutet wurde.
»Setzt Euch, ich hole ein Tuch.«
Sam setzte sich auf einen Stuhl, der am Schreibtisch stand, auf dem Karten und Rechnungen lagen.
»Der Sklavenhandel ist ein lohnendes Geschäft, ich liebäugle auch damit. Das ist eine Arbeit für richtige Männer, die nicht verweichlicht sind. Ich bewundere Euch, Käpt’n Potts.«
»Danke, Käpt’n Black, wenn Ihr möchtet, könnt Ihr Euch gerne umsehen. Es ist wahrlich kein schöner Anblick, und viele bekommen Gewissensbisse oder Albträume. Man muss sie als wilde Kreaturen betrachten, dann hält sich das Mitleid in Grenzen.«
»So sehe ich das auch, ich würde mir das tatsächlich gerne einmal ansehen, um mir ein besseres Bild machen zu können.« Sam wischte verbissen an dem Möwendreck und hatte Mühe, freundlich zu bleiben.
»Wir haben auch einige Sklaven an Bord, und es ist wirklich ein primitives Volk. Ständig muss man darauf achten, dass sie keine Meuterei anzetteln.« Sam verschluckte sich fast an seiner eigenen Lüge.
»Ja, dann kommt, Käpt’n Black.«
Gemeinsam stiegen sie noch einen Niedergang weiter hinunter, und je tiefer sie stiegen, desto penetranter wurde der Geruch. Sam hielt kurz die Luft an und hoffte, dass seine Nase sich schnell daran gewöhnen würde.
Sein Herz verkrampfte sich, wenn er an Larou und die anderen Gefangenen dachte. Am liebsten hätte er sofort dem Ganzen ein Ende gesetzt, aber er hatte lediglich einen Säbel dabei, es wäre purer Leichtsinn.
Geräuschvoll drehte Potts den Schlüssel um, öffnete die knarrende Tür und leuchtete mit der Öllampe in den stickigen Laderaum.
Sam überlief ein eiskalter Schauer, als er in dem schummrigen Schein der Lampe die massige Ansammlung von Menschen erblickte. Die Sklaven waren an den Füßen gefesselt und saßen dicht nebeneinander. Die gespenstige Ruhe war fast das Unheimlichste an dem bizarren Anblick.
Sam schluckte seinen Würgreflex hinunter und achtete darauf, nicht zu tief einzuatmen. »Na ja, sie haben es ja noch recht bequem hier, die paar Tage werden sie es aushalten, bis sie erlöst werden.« Er sprach extra laut und suchte in der schwachen Beleuchtung nach Larou. Endlich erblickte er den verzweifelten Jungen und gab ihm heimlich ein Zeichen.
Doch dann drängte Käpt’n Potts Sam zum Gehen.
»Könnte ich Euch vielleicht jetzt schon einen Sklaven abkaufen?«
»Käpt’n Black, das tut mir außerordentlich leid, aber das ist mir unmöglich. Wir haben striktes Verbot, wir müssen so viel Ware wie möglich nach Nassau bringen. Vielleicht bekommt Ihr am Hafen noch einen Sklaven?«
Sam hätte weiterverhandeln können, aber beim Anblick der unzähligen hoffnungslosen Augen, die auf ihn starrten, war ihm klar, er würde alle befreien müssen, sonst würde er keine Nacht mehr ruhig schlafen können. Deshalb lenkte er ein.
»Na ja, spätestens in Nassau werde ich einen kaufen.« Leise fügte er noch hinzu: »Lasst uns gehen, der Gestank hier ist wirklich nicht mehr erträglich.«
Sam wusste, dass er schleunigst hier wegmusste. In seiner rechten Hand juckte es gewaltig, am liebsten hätte er in Potts’ aalglattes Gesicht geschlagen. Er würde nie verstehen, wie Menschen so eiskalt sein und, ohne mit der Wimper zu zucken, über Leichen gehen konnten. Widerwillig reichte Sam Potts die Hand zum Abschied.
»Dann würde ich Euch heute Abend um sechs Uhr zum Essen abholen, einverstanden?«
»Aber gerne, ich freue mich darauf, Euer Gast zu sein.«
Sam konnte noch nicht zurück zum Schiff, er musste erst noch ein wenig alleine sein. Es ging ihm zu nahe, was er eben gesehen hatte.
Er dachte an Larous flehenden Blick, er konnte förmlich die Enttäuschung spüren, die sein Gehen bei dem Jungen verursacht hatte.
Sam setzte sich am Strand auf einen Felsen. Die raue Meeresbrise klärte ein wenig seine benebelten Gedanken. Zurück blieb eine fast unbändige Wut über all die Ungerechtigkeiten dieser Welt. Da draußen in der Weite des Meeres war die Freiheit, vorausgesetzt, man befand sich auf dem richtigen Schiff mit dem richtigen Kapitän. Es waren nur ein paar wenige grausame Herrscher, doch die Mehrheit zog den Schwanz ein und fügte sich ihrer Laune und der Gier, etwas von ihrem Reichtum abzubekommen.
Und so ein Idiot wie Potts ließ sich davon blenden. Am liebsten würde er ihn wachrütteln.
Sam hatte es mehr als einmal erlebt, dass Freiheit den Menschen Angst machte. Selber Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, schien schwieriger zu sein, als andere zu quälen und deren Tod in Kauf zu nehmen.
Eines war ihm durch den Besuch auf der Winchester klar geworden, er musste alle Sklaven befreien, aber was würde danach mit ihnen geschehen?
Zwei Stunden später musste Sam trotz des Schocks, den er beim Gedanken an den Anblick der Sklaven immer noch hatte, schmunzeln. Seinen Kameraden schien es einen Heidenspaß zu machen, sich zu verkleiden. Alle waren herausgeputzt und gestriegelt und vor allem gehorsame Matrosen.
»Kapitän Black, alles ist für Euch bereit.« John Julian verbeugte sich demütig und in ordentlicher Kleidung und führte Sam mit seinem Gast in die Kajüte.
Diesen Moment würde Sam in seinem ganzen Leben nicht vergessen.
Zart erklang James´ Geige, und Joseph Dampier spielte am Spinett den Canon von Pachelbel. Ein Glück, dass Dampier seine Piratenkluft abgelegt hatte und ordentlich frisiert war. Jako saß auf dem Spinett und dirigierte genüsslich den Takt mit der rechten Kralle.
Die Kabine strahlte eine Behaglichkeit durch das Kerzenlicht aus. Sean Kelly saß in einem wunderschönen cremefarbenen Kleid am reich gedeckten Tisch, seine langen schwarzen Haare waren zu Locken gedreht und ließen sein Gesicht weicher wirken. Will stand hinter ihm und hauchte einen Kuss auf Seans Hals. Als er die Männer erblickte, tat er verlegen. Sofort lief er auf Kapitän Potts zu.
»Verzeiht, Sir, aber Ihr versteht bestimmt, ich musste meine Lieben lange entbehren.«
Kapitän Potts lächelte verständnisvoll. »Wir kennen alle die langen Entbehrungen durch die Seefahrt. Ich bin Kapitän Gerald Potts von der Winchester .«
Damit verneigte er sich vor Will und sah bewundernd auf dessen Siegelring.
Sam hatte Mühe, nicht zu lachen. Will war herausgeputzt wie König George persönlich. Über einem üppigen Spitzenhemd mit einer goldbestickten Weste trug er einen Gehrock aus burgunderrotem Samt mit passender Kniehose.
»Darf ich mich vorstellen? Jeremiah Williams, Kronanwalt, und meine Frau, Sarah Williams, und meine liebreizende Tochter, Amelia.«
Amy zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Dabei sah sie so entzückend in dem Kleid aus, das ihre grünen Augen noch mehr leuchten ließ.
Sam war stolz auf seine hübsche Tochter, neben der Henry mit flehendem Blick saß und darauf wartete, dass möglichst viel aus Versehen vom Tisch fiel.
Potts deutete einen Handkuss an.
Man konnte es Sean ansehen, dass es ihm nicht angenehm war, aber er spielte die Rolle als Frau gut. Im Dämmerlicht der Kabine würde kein Mensch bemerken, dass er ein Mann war.
»Ich bin sehr froh, Kapitän Potts, dass wir in Eurem Geleit mitsegeln dürfen. Man hört so schreckliche Geschichten über Piraten. Als Frau ist man diesen Bestien hilflos ausgeliefert und Ihr seid so ein starker junger Mann, da muss man sich einfach sicher fühlen.«
Sean tupfte sich mit einem Taschentuch sacht die Nase und klimperte mit den Wimpern.
»Gewiss, Madam, Ihr könnt ganz beruhigt sein, das üble Pack wird sich nicht trauen, uns anzugreifen, darauf gebe ich Euch mein Wort.«
»Meine Liebe, ich bin auch noch da.« Will küsste Seans Hand so innig, dass die Spitze verrutschte, und ein haariger Arm zum Vorschein kam.
Sam hielt den Atem an. Er bemerkte auch einen entsetzten Blick von William Condon, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte. Potts schien nichts zu bemerken. Seine Blicke konzentrierten sich auf die strahlend blauen Augen von Sean. »Darf ich zu Tisch bitten, es wäre schade, wenn das Essen kalt würde!«, machte sich Condon bemerkbar.
Das Essen verlief in einer angenehmen Atmosphäre. Die Einzige, die Potts am liebsten an die Gurgel gegangen wäre, war Amy. Sie verstand einfach nicht, warum alle so ruhig blieben, anstatt Larou sofort zu befreien. Ihre Wut milderte sich erst, als ihre Ratte Black Sam an ihrem Arm hinaufkletterte und sich unter den üppigen Locken versteckte, und sie William Condon ansah, wie er sich mühevoll ein Lachen verkniff und ihr zuzwinkerte.