Fregatte Tanner

22. April anno 1728

Folgen der Winchester.

39° 25’, Wind: O 90°, 20 Knoten.

Samuel Bellamy

T agelang folgten sie dem prunkvoll verzierten Heck der Winchester , genauso wie die Haie, die auf leichte Beute warteten. Die Mannschaft versuchte, Amy vor diesem Anblick zu schützen.

Diese wartete voller Ungeduld darauf, dass Larou endlich befreit würde.

Zur Ablenkung nähte sie mit Sean in der Kapitänskabine einen zweiten Jolly Roger für die Tanner, das beruhigte sie etwas.

Am Anfang fand Amy es befremdlich, einen hässlichen Totenschädel auf ein schwarzes Tuch zu nähen. »Können wir nicht etwas anderes auf die Flagge machen?«

Sean unterbrach kurz seine Arbeit und sah Amy an, die ihm gegenübersaß.

»Jeder Pirat hat sein Erkennungszeichen, Will und dein Vater haben sich für diese Flagge entschieden. Der Totenkopf symbolisiert den Tod, und die darunter gekreuzten Knochen bedeuten die Auferstehung.«

»Und warum heißt das Jolly Roger

»Früher waren die Flaggen einfach rot, und die Franzosen sagten dazu ‚schönes Rot‘, was auf Französisch ‚joli rouge ‘ heißt.« Er stutzte einen Moment. »Hey, was machst du da?«

Amy schnitt aus einem Stück weißen Stoff, den sie doppelt legte, ein Herz aus. Dabei legte sie den Kopf schief und grinste Sean an.

»Ich nähe die Herzen rechts und links von dem hässlichen Kopf an, das ist mein Erkennungszeichen.« Sie strich die Flagge glatt und legte die Herzen auf den dafür vorgesehenen Platz.

Sean grinste. »Sieht schon viel freundlicher aus.«

»Finde ich auch!« Amy lächelte ihn keck an, wurde aber gleich wieder ernst. »Warum braucht man eigentlich so eine Fahne?«

Sean überlegte kurz.

»Die Flagge gibt zu erkennen, dass die Piraten vor dem Auge des Gesetzes tot sind. Sie haben keinerlei Rechte, weil sie sich dem Gesetz nicht mehr unterwerfen und unter der Flagge von ‚König Tod‘ dienen und nicht mehr unter der englischen Flagge von König George.«

»Dann sind Piraten frei und haben kein Zuhause mehr?«

»Ja, so könnte man das sagen.«

»Aber dann können die Schiffe, die die Flagge sehen, gleich ihre Kanonen laden und auf uns schießen?«

»Deshalb hissen wir den Jolly Roger erst, wenn wir zum Angriff bereit sind. Dann hat die gegnerische Mannschaft keine Zeit mehr, ihre Kanonen zu laden, und vor lauter Schreck ergeben sich viele dann freiwillig.«

Amy hörte auf mit Nähen.

»Und dann?«

»Und dann … das wirst du sehen, wenn es so weit ist. Wir müssen uns jetzt hübsch machen für Will.« Er grinste breit und zwinkerte Amy zu.

Jeden Abend stolzierten Will, Sean und Amy als innige Familie übers Deck. Das war für die Mannschaft eine amüsante Abwechslung. Will war ein rührender Ehemann, der sich liebevoll um Frau und Tochter kümmerte.

Auf der Winchester stritt man sich darum, wer um diese Zeit die Wache auf dem Ausguck übernehmen durfte, jeder wollte die schöne Frau sehen.

An einem Abend wurde es Amy zu viel, und sie flüchtete in das Krähennest. Es dauerte nicht lange, und Jako kam zu ihr hochgeflogen.

Blinzelnd sah Amy in Richtung Westen, wo gerade die Sonne unterging. Die letzten Strahlen zauberten ein Glitzern wie von Abertausenden von Diamanten auf das Meer. Alles sah so friedlich aus, aber einige Meter vor ihr segelte die Winchester , und dort unter Deck saß Larou, gefangen, und es ging ihm überhaupt nicht gut. Irgendwie dauerte ihr das alles viel zu lange, und sie verstand nicht, warum die Männer so lange warteten, bis sie Larou endlich befreiten.

Sam kam zu Amy in den Ausguck hochgeklettert, weil er sich Sorgen um sie machte. In den letzten Tagen war Amy immer stiller und nachdenklicher geworden. Am liebsten hätte er sie vor dem Überfall auf die Winchester bewahrt, denn er konnte nicht sagen, wie es enden würde. Vielleicht würde es viele Verletzte und Tote geben, außerdem wusste niemand, ob Larou die ganze Tortur bis jetzt lebend überstanden hatte, denn jeden Tag wurden Leichen über Bord geworfen.

»Am Abend ist es hier besonders schön. Du bist wohl vor Will und Sean geflüchtet?« Er lächelte sie aufmunternd an. »Darf ich mich zu dir setzen?«

Amy nickte. »Man könnte meinen, sie seien wirklich ein Liebespaar, so wie die sich aufführen.« Dabei verzog sie angewidert ihr Gesicht.

Sam schmunzelte nur.

»Sam …?« Amy suchte nach Worten.

»Ja?« Er sah in ihr angespanntes Gesicht.

»Wie bist du Pirat geworden?«

»Mmh, ich werde versuchen, es dir zu erklären.« Er machte eine kurze Pause und atmete tief durch. »Die Piraten aus unserer Bruderschaft sind fast alle Männer, die im Spanischen Erbfolgekrieg auf See gekämpft hatten. Viele, wie ich auch, waren schon sehr jung dazugekommen. Außer Will, er ist aus reichem Hause.«

»Aber er ist trotzdem nett, nur manchmal ein bisschen peinlich«, stellte Amy fest.

Sam verkniff sich ein Grinsen. »Will ist ein feiner Kerl, er hat viel für mich getan.«

»Wie lange warst du auf einem Kriegsschiff?«

»Fünf Jahre. Ich war so alt wie du, als ich Pulverjunge auf einem Kriegsschiff wurde.«

»Was macht ein Pulverjunge?«

»Wir mussten während des Gefechts die Kartuschen für die Kanonen unter Deck holen, und zwar so schnell wie möglich, von uns hing das Überleben aller ab. Je schneller wir die Munition nach oben brachten, desto besser konnte die Mannschaft unser Schiff verteidigen. Kinder sind für die Arbeit bestens geeignet, weil sie unter Deck aufrecht gehen können und flink sind.«

»Hattest du da große Angst?«

»Ja natürlich, wir hatten nicht nur Angst vor den feindlichen Schiffen, sondern auch vor den Vorgesetzten, denn für die hatten Kinder keinen Wert. Man kommandierte uns herum, ließ uns die niedrigsten Arbeiten machen und schrie uns nur an. Einen anderen Pulverjungen von unserem Schiff traf eine Kugel in den Bauch, und als sich die Blutung nicht stillen ließ, warfen sie ihn einfach über Bord. Ich höre ihn heute noch nach seiner Mutter schreien. Es war der reinste Albtraum. Zum Glück war wenigstens mein bester Freund William Condon mit mir zusammen auf dem Schiff. So konnten wir uns gegenseitig Halt geben.«

Amy legte ihren Kopf an seine Schulter, geschockt von seinen Erzählungen. Sie stellte sich ihren Vater als kleinen Jungen vor, und er tat ihr schrecklich leid.

»Hat dich dein Vater denn so einfach gehen lassen?«, fragte sie mit belegter Stimme.

Sam streichelte über ihre Haare. »Wir waren mehr als arm, sechs Kinder ohne Mutter. Er war froh über jeden, der sich selbst versorgen konnte.«

»Aber du warst da doch ständig in Gefahr?«

»Ja. Bei einem Seegefecht steht die Vernichtung der gegnerischen Schiffe im Vordergrund. Die Kriegsschiffe standen sich dabei in einer langen Reihe gegenüber«, Sam zeigte die Reihen mit seinen Händen, »und jeder schoss seine Kanonen leer. Wer die bessere Strategie hatte und schneller die Kanonen nachladen konnte, war im Vorteil. Das Schiff, das übrig blieb, war der Sieger, wie viele Männer dabei starben, war egal.«

»Hast du viele Kameraden verloren?«

»Ja, sehr viele. Immer, wenn man dachte, dass es nicht schlimmer kommen konnte, wurde unsere Lage noch hoffnungsloser. Unsere größte Angst war, dass entweder Condon oder mir etwas zustoßen könnte und dann der jeweils andere alleine übrig bleiben würde – in der grausamen Welt der Erwachsenen. Wir hatten oft nachts, wenn wir nicht schlafen konnten, über diesen Krieg nachgedacht. Warum traf man sich auf dem Meer, schoss sich gegenseitig die prächtigen Schiffe kaputt, die ein Vermögen gekostet hatten, während die Menschen an Land Hunger litten?«

»Ja, warum macht man das?«, fragte Amy.

Sam zuckte mit der Schulter. »Das frage ich mich heute noch.«

»Aber es musste doch einen Grund geben für diesen Krieg.«

»Den gab es auch. Als König Karl II. von Spanien verstarb, hatte er keine Nachkommen, und so entstanden heftige Auseinandersetzungen unter den Königshäusern, wer der nächste König von Spanien werden sollte.«

»Die Könige streiten sich um den Thron und lassen kleine Jungen für sich in den Krieg ziehen? Sollen die doch ihr eigenes Blut vergießen, anstatt andere für sich kämpfen und sterben zu lassen«, empörte sich Amy.

»So dachten Condon und ich damals auch. Die Welt der Erwachsenen war uns ein Rätsel. Wir hatten uns geschworen, wenn wir da heil herauskommen würden, würden wir versuchen, die Welt für unsere Kinder besser zu machen. Nur leider ist das nicht so einfach.« Bedauernd sah er Amy an.

»Wie habt ihr das alles überlebt?«

»William und ich hatten Glück, wir blieben beide unverletzt, als unser Kriegsschiff völlig zerstört wurde. Danach wurde unser Leben besser, denn wir kamen zu der Flotte von Benjamin Hornigold, einem großartigen Freibeuter. Er hatte einen Kaperbrief von Königin Anne Stuart. Das hieß, dass wir legale Piraten waren, die auf Befehl der Königin gegnerische Schiffe ausrauben durften. Nur mit dem Unterschied, dass wir die Prise der Königin übergeben mussten. Weißt du, was eine Prise ist?«

»Das ist die Beute von einem Schiff«, antwortete sie wie eine brave Schülerin.

»Richtig. Hornigold war ein hartgesottener und gerissener Kapitän, von dem wir vieles gelernt haben. Er war der Einzige, der uns Kinder wie Menschen behandelte und nicht wie Kanonenfutter. Und ihm war es wichtig, dass wir alles über die Seefahrt lernten. Vor allem sollten wir Menschlichkeit lernen und Achtung vor dem Leben. Wir überfielen zwar die Schiffe, aber wir behandelten die Überfallenen mit Respekt. Doch als der Krieg zu Ende war, wurden fast alle Männer der Marine entlassen. Jahrelang hatten wir von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang Dienst, hatten bis zur Erschöpfung gearbeitet und kaum etwas zu essen. Wir hatten für die Königin unsere Köpfe hingehalten und täglich Kameraden sterben sehen, und die Königin hatte uns behandelt wie den letzten Dreck. Die Admirale bekamen Orden und Ehrungen, und unsereiner stand nach Kriegsende auf der Straße. Man brauchte uns nicht mehr. Vierzigtausend Offiziere und Matrosen wurden entlassen. Es wimmelte in den englischen Häfen nur so von Matrosen, die keine Arbeit mehr hatten. Ohne Geld in den Taschen und das Leben an Land nicht gewohnt, hatten wir keine Hoffnung. Das Einzige, was wir konnten, war ein Schiff steuern, kämpfen und rauben. Und etwas, was wir alle gelernt hatten, war, dass das Leben ungerecht ist.«

Amy hörte entsetzt zu. »So langsam verstehe ich, warum du den König nicht magst.«

»Das ist gut.«

»Und dann bist du ein richtiger Pirat geworden?«

»Ich bin nicht gleich Pirat geworden, aber in England habe ich keine Zukunft für mich gesehen. Also ging ich zu Verwandten nach Cape Cod. Dort lernte ich auch deine Mutter kennen. Doch ihr Vater wollte nicht, dass sie einen arbeitslosen Seemann heiratete, also habe ich mit Will nach der versunkenen spanischen Silberflotte gesucht, die mit dem Gold beladen war, das Indianersklaven unter Einsatz ihres Lebens aus Minenschächten geholt hatten. Sie waren Zwangsarbeiter in ihrem eigenen Land. Das sind übrigens solche Münzen, wie du sie hast.«

»Habt ihr die auch geraubt?«

Sam kratzte sich verlegen am Kopf. »Wird wohl so gewesen sein. Will hat sie dir mitgegeben, als er dich zu Tante Ann gebracht hat.«

»Das war nett von ihm. Ihr habt dann das Gold gefunden?«

»Nein, das wurde uns vor der Nase weggeschnappt. Wir hatten kein Geld mehr, um die Mannschaft zu bezahlen, und unser Schiff war ein alter Kahn, der uns unter dem Hintern verfaulte. Da ich auf den englischen Kriegsschiffen das Kapern gelernt hatte, wurden wir Piraten. Später traf ich wieder auf Hornigold, William Condon und einige andere meiner alten Freunde aus Kriegszeiten. Hornigold war inzwischen ein berüchtigter Pirat geworden, dem wir uns anschlossen.«

Sam machte eine kurze Pause. »Ich habe es nicht eingesehen, was für einen Unterschied es machte, ob ich einen Kaperbrief von dem König habe und rauben und morden darf, damit der König ein Leben in Luxus und Reichtum führen kann, oder ob ich raube, um ein paar armen Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen.«

Amy nickte. »Das verstehe ich, aber habt ihr die ausgeraubten Leute auch umgebracht?« Das war die Frage, die Amy seit Tagen auf der Seele lag.

»Niemals, nur einmal löste sich bei einem Kameraden ein Schuss, und einmal wurde auf uns geschossen, dabei wurde einer aus meiner Mannschaft getötet und zwei wurden verwundet. Bei zweiundfünfzig überfallenen Schiffen war das recht wenig. Sobald die Kapitäne den Jolly Roger sahen, ergaben sie sich. Zu viele grausame Piratengeschichten waren im Umlauf, du kennst ja selbst Edward Low.«

»Derjenige, der die Bäuche aufschlitzte und die Gedärme an den Mast nagelte und Nasen und Ohren abschnitt?«

Sam rümpfte die Nase. »Genau den meinte ich, das war ein kaltblütiger Mensch ohne jedes Mitgefühl. Doch wir schneiden niemandem die Nase und die Ohren ab, ich kann doch kein Blut sehen.« Dabei zwinkerte er Amy zu. »Wir stellten sie vor die Entscheidung, ob sie einer von uns werden oder ob sie weitersegeln wollten. Manchmal haben wir auch Gefangene genommen und an Land wieder ausgesetzt, wenn wir ihr Schiff behalten haben. Es gab wenige Ausnahmen, bei denen wir Männer mitgenommen haben, wie zum Beispiel einen Zimmermann, den wir unbedingt für unsere Schiffsreparaturen brauchten, oder Thomas South, unseren Segelmeister.

Am Anfang machten wir es natürlich nur wegen des Geldes. Wir wollten reich werden, um selber ein besseres Leben führen zu können. Aber auf einem Piratenschiff hatten wir viel Zeit zu reden. Es waren oft Tage oder Wochen, in denen wir auf die nächste Prise warten mussten. Und weißt du, die Gespräche mit unseren farbigen Brüdern erschütterten mich am meisten. Es ist unvorstellbar, was sie als Sklaven durchmachen mussten, dabei sind sie doch genauso Menschen wie wir Weiße. Und der einzige Ort auf der Welt, an dem die Sklaven Macht haben können, ist auf einem Piratenschiff. Wir Gesetzlosen träumen von einem Staat, in dem der Piratenkodex die Vorlage der Gesetze wird und in dem alle Menschen gleichberechtigt leben können.« Sam sah nachdenklich in die Ferne.

»Und deshalb befreien wir Larou, weil alle Menschen gleich sind. Siehst du, deshalb mag ich Piraten doch. Aber ich bin trotzdem froh, dass ihr niemandem die Nase abschneidet.« Amy lächelte ihren Vater an.

»Warst du deshalb in den letzten Tagen so nachdenklich, weil du dachtest, wir bringen immer alle um?«

»Du hast doch auf der Tanner gesagt, es darf keine Zeugen geben.«

»Ach, du Dummerchen, das habe ich doch nur gesagt, weil Thomas Checkley mich bei der nächsten Behörde verpfiffen hätte und es besser für mich ist, wenn man Black Sam für tot hält.«