6. Mai anno 1728
Sonderbare Vorkommnisse an Bord.
36° 29’,Wind: Schlechtwetterfront aus
NNO 22.5°, 38 Knoten.
Samuel Bellamy
S am blieb auf der Tanner, John Julian wurde Quartiermeister und Thomas South Segelmeister.
William Condon wurde Kapitän der Winchester , und Will blieb auf der Marianne , gemeinsam mit Oliver Levasseur. So konnte die Reise fortgesetzt werden.
Auch Larou wollte auf die Tanner , aber er war still geworden. Entweder saß er im Krähennest, am Bug oder er schlief tagsüber. Denn am schlimmsten waren die Nächte.
Larou ertrug die Dunkelheit nicht, und das Ächzen des Schiffes und das Knarren der Balken weckten in ihm die Erinnerung an die stöhnenden Menschen, die dicht an dicht gefesselt und schwer atmend nebeneinanderlagen. Und er erinnerte sich nur zu gut daran, wie es plötzlich still geworden war, wenn wieder jemand gestorben war.
Dazu kam die Ungewissheit, ob man vielleicht der Nächste sein würde. Er schwankte immer zwischen dem Wunsch, unbedingt überleben zu wollen und möglichst bald zu sterben, um von diesem unmenschlichen Leiden erlöst zu werden.
Larou konnte nicht im Dunkeln liegen, er musste seine Freiheit fühlen, indem er sich frei bewegte und den Mond und die Sterne beobachtete. So streifte er nachts oft durch das Schiff, ging dabei aber der Mannschaft aus dem Weg. Tagsüber schlief er irgendwo an Deck, wo ihn die Sonnenstrahlen und der Wind fühlen ließen, dass er kein Gefangener mehr war.
»Sam, Larou macht mir so langsam Sorgen, vielleicht kannst du mit ihm reden?«, bat John Julian.
Die beiden standen auf dem Kampanjedeck und blickten Richtung Bug, wo Larou alleine saß.
»Ich? Meinst du nicht, dass du das besser kannst? Schließlich teilt ihr das gleiche Schicksal.«
John Julian schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein, ich denke, er braucht eher Anerkennung von einem Weißen, damit er weiß, dass er nicht weniger wert ist als ihr.«
Sam atmete tief durch, er hatte keine Ahnung, womit er dem Jungen seinen Schmerz nehmen sollte, er war auch nicht besonders gut im Trösten.
Besorgt sah Sam mit dem Fernrohr Richtung Horizont. »Es ziehen dunkle Wolken auf. John Julian, achte auf das Wetter, damit wir rechtzeitig die Segel reffen, und Großbramsegel und Vorbramsegel reffen wir besser gleich.«
»Aye, aye, Käpt’n.«
Dann gab er John Julian das Fernrohr. »Ich gehe dann mal zu Larou.«
Larou saß an den Fockmast gelehnt, er hatte die Knie angezogen und strich sich über den Kopf, auf dem wieder die ersten Haare sprossen. Henry schnurrte um ihn herum. Der Kater war zurzeit der Einzige, der in seine Nähe durfte.
»Die wachsen wieder, ich sah nach dem Untergang der Whydah genauso kahl aus«, sprach Sam ihn an.
»Lange Haare sind für unser Volk von großer Bedeutung, es ist das Vorrecht eines freien Mannes. Nur Sklaven werden die Haare geschoren«, erklärte Larou frustriert.
»Nach einem Jahr konnte ich sogar schon wieder einen Zopf machen.« Sam ging in die Knie und setzte sich neben den Jungen.
»Aber mich hat man für einen Schwarzen gehalten.«
»Du bist nicht schwarz.« Sam hielt seinen gebräunten Arm neben den von Larou. »Siehst du, kein Unterschied. Meine Haut wird von der Sonne genauso dunkel wie deine. Und überhaupt sollte kein Mensch wegen seiner Hautfarbe beurteilt werden, nur weil irgendein König sagt, die Weißen sind gut und die Schwarzen müssen für sie malochen. Wir sind Menschen, kein Schachspiel. Schau dir die Besatzung der Marianne an, wir sind eine Hand voll Engländer, der Rest ist von überallher. Wir halten zusammen, sie haben das Risiko in Kauf genommen, zu sterben, um dich zu retten.«
Larou starrte betroffen vor sich hin. »Wie geht es Bill?«
»Bill Crackston geht es besser, die Wunde heilt langsam zu und nässt nicht mehr. Hab deswegen keine Schuldgefühle. Bill hat sich entschlossen, dir zu helfen, weil er weiß, dass wir ihm auch helfen würden, wäre er in Gefahr! Du hast auch Amy befreien geholfen, obwohl du wusstest, dass damit dein Leben in Gefahr war!«
»Ja schon. Aber du würdest Amy auch keinen Sklaven heiraten lassen«, kam die provozierende Antwort.
Sam grinste. »Aha, daher weht der Wind.«
»Nein, so habe ich es jetzt auch nicht gemeint.« Larou wurde rot.
»Larou, Amy darf einmal ganz alleine entscheiden, wen sie heiraten will. Aber eins darfst du mir glauben, egal ob schwarz oder weiß, jung oder alt, arm oder reich: Er muss erst mal an mir vorbei, und ich werde ihn im Auge behalten, damit er meine Tochter so sein lässt, wie sie ist.«
Da musste Larou auch wieder lächeln. »Der arme Kerl, er wird es nicht gerade leicht haben mit euch beiden.«
»Da könntest du recht haben. Aber bei einem bin ich mir sicher: Die Frau, die dich mal bekommt, die wird es sehr gut bei dir haben. Eure Sitten haben mich schwer beeindruckt.«
Larou zuckte mit den Schultern und seufzte.
»Was ist mit dir, verfolgt dich immer noch die Erinnerung an deine Gefangenschaft oder fehlt dir deine Familie?«
Nachdenklich starrte Larou auf das Meer, dann sagte er leise: »Es ist wohl beides, das Leben in der Wüste ist hart. Dort könnte ich nicht tagsüber schlafen und nachts wach sein, dort müsste ich funktionieren, um zu überleben. Ich glaube, ich habe hier zu viel Zeit zum Nachdenken.«
»Ja, ich kenne das, mir ging es nach dem Untergang der Whydah ganz ähnlich, erst als ich auf den Roten Löwen kam, ging es mir wieder besser. Übrigens, ich möchte Amy gerne alles beibringen, was ich von Kapitän Hornigold gelernt habe und gerade bringt ihr Thomas South lesen und schreiben bei. Möchtest du es ab morgen auch lernen?«
»Ich?«
»Ja, du, du bist bestimmt ein guter Schüler, der schnell begreift.«
Larous Augen bekamen ihren Glanz zurück. »Oh, ja, natürlich.«
Da es heute so stürmisch war, hatte Sam die Haare mit seinem rotgemusterten Halstuch zurückgebunden. Jetzt machte er das Tuch ab und gab es Larou.
»Hier, nimm, du brauchst es mehr als ich.«
Sam machte mit seinen langen lockigen Haaren einen Knoten, damit der immer stürmischer werdende Wind ihm die Sicht nicht nahm.
Larou lächelte dankbar. »Danke, Käpt’n.« Damit band er das Tuch um seinen kahlen Kopf.
»Refft die Segel, bis auf das Großmarssegel.« John Julians Stimme schallte gegen den Wind über das Deck, doch der einsetzende Platzregen übertönte seine Stimme.
»Larou, ich klettere hoch zum Marsrahe, du reffst unten mit der Gordings.« Während er sprach, band sich Sam bereits ein Seil zum Sichern um.
»Aye, aye, Käpt’n.«
Chester Longmore kam hinzu und sah Larou aus seinen hellen Glupschaugen bedrohlich an. »Gib mir ein Tau, ich klettere auch hoch.«
»Bleib du besser unten, ich gehe mit dem Käpt’n mit.« Larou wollte sich schon das Tau umbinden, als es ihm von Longmores krallenartigen Fingern entrissen wurde.
»Du Landratte bleibst besser unten, was verstehst du schon vom Einholen der Segel?« Damit stieß er Larou unsanft beiseite und folgte Bellamy hoch in die Wanten.
Kopfschüttelnd sah Larou ihm nach, der Typ war ihm nicht geheuer, er würde ihn im Auge behalten.
Der Wind war inzwischen kräftiger geworden, und der Regen war so stark, dass er die Kleider sofort durchnässte. Besorgt sah Larou hoch, Chester Longmore stand inzwischen neben Sam und sie zogen gemeinsam das Segel hoch. Als die Fregatte schlingerte, verlor Longmore das Gleichgewicht und fiel gegen Sam, der gerade freihändig dastand.
»Achtung, Sam!«, brüllte Larou gegen den Wind an. Doch es war zu spät. Sam fand keinen Halt an der glitschigen Rah und fiel kopfüber hinunter. Vom Wind wurde er gegen das Segel geschleudert, wobei er den Mast streifte.
Larou fluchte. Flink kletterte er hoch, um seinem Käpt’n zu helfen. Als Akrobat war er es gewohnt, sein Gleichgewicht auszubalancieren.
»Thomas, stell dich an die Webleinen und versuch, den Käpt’n aufzufangen«, brüllte Larou gegen den Wind Thomas South zu, der auf der anderen Seite unterhalb des Segels stand, während er versuchte, das Tau, an dem Sam kopfüber hing, hin- und herzuschwingen. Als das Tau stark genug schwang, schrie Larou: »Thomas, jetzt, fang ihn.«
»Ich hab ihn«, hörte er Thomas South rufen.
Larou sah trotz Regenschleier, wie Thomas South den bewusstlosen Käpt’n über die Schulter legte und nach unten stieg.
»Longmore, du hättest mir ruhig helfen können.«
Larou sah sich nach dem Ersten Offizier um, doch er stand nicht mehr neben ihm. Also band er das Segel alleine fest.
Sobald Larou mit dem Segelreffen fertig war, sah er nach dem Kapitän. Sam bekam gerade von James einen neuen Verband um die Brust gebunden.
»Komm, Larou, setz dich.«
Als James fertig war, stand Sam auf, ging auf Larou zu und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Danke, Junge. Siehst du, so schnell geht’s, jetzt hast du mir das Leben gerettet.«
»Das ist doch nicht der Rede wert, Käpt’n«, erwiderte Larou bescheiden.
Zwei Stunden später kam Sam an Deck, er fühlte sich wieder kräftig genug, um das Kommando zu übernehmen. Es regnete kaum noch, dafür wehte immer noch ein starker Wind.
»Sam, geht’s dir wieder besser?« John Julian stand auf dem Kampanjedeck an der Reling und beobachtete den Himmel.
»Mein Kopf dröhnt noch etwas, aber seit meiner alten Kopfverletzung ist das nichts Neues. Was macht das Wetter?«
»Der Regen hat schon wieder nachgelassen, es war nur eine kurze Schlechtwetterfront, und im Westen hellt es sich bereits wieder auf.«
»Sam, Achtung.« Mit einem Hechtsprung sprang Larou auf Sam und warf ihn um. In dem Moment stürzte donnernd ein Schotblock, den man verwendet, um die Zugrichtung der Taue zu ändern, auf das Deck.
John Julian war auch auf die Seite gesprungen und half den beiden jetzt beim Aufstehen.
»Larou, nun hast du dem Käpt’n schon zum zweiten Mal das Leben gerettet.«
»Was war das?« Sam stand auf und prüfte seine Knochen, ob er sich verletzt hatte.
John Julian bückte sich, um den Schotblock aufzuheben. »Scheint sich gelöst zu haben bei dem Unwetter.«
Alle drei sahen zu den Masten hoch.
Philip Hopkins kletterte eben nach oben, um die Wache im Krähennest zu übernehmen.
»Merkwürdig. Larou, kannst du überprüfen, ob ein Tau gerissen ist?«
»Aye, aye, Käpt’n.«
»Nochmals danke, Larou.« Sam klopfte Larou auf die Schulter.
Larou sah sich die Stelle genau an, wo der Schotblock befestigt gewesen war. Was ihn äußerst misstrauisch machte, war, dass das Tau akkurat durchtrennt war. Ein Tau konnte niemals so glatt reißen. Hatte hier jemand nachgeholfen und es durchgeschnitten?
Mit seinem Verdacht ging er zum Käpt’n und zu John Julian.
»Mhh, das ist nicht gut.« Sam fuhr sich über die Stirn.
»Ich verhöre Philip Hopkins, sobald er vom Krähennest herunterkommt. Vielleicht hat er etwas bemerkt.« John Julian sah hoch zu Hopkins. »Oder er war es am Ende selber.«
»Vermutlich.« Sam überlegte. »Lass ihn mal lieber, wir sagen unserer alten Besatzung von der Marianne Bescheid und behalten die Mannschaft von der Tanner besser im Auge. Ich denke, das war nicht die Tat eines Einzelnen.«
Auch in dieser Nacht konnte Larou nicht schlafen und zog seine Runden über das Deck. Im Batteriedeck, bei der Bilgenpumpe, hörte er Stimmengemurmel und bemerkte einen schwachen Lichtschein. Nachts mussten doch alle Lampen unter Deck gelöscht sein, wer verstieß gegen diese Regel?
Larou schlich sich noch etwas näher heran und erkannte die raue Stimme von Brian Norris.
»Verflucht, der Käpt’n ist zäh wie ein elender Straßenköter.«
»Das wäre die Gelegenheit gewesen. Was sollen wir jetzt tun?« Das war die tiefe Stimme des Smutje Ben Bradford.
»Hopkins und ich haben es jetzt schon versucht, ich würde sagen, jetzt bist du dran, Barry«, schlug Brian Norris düster vor.
»Nein, ich will das nicht«, jammerte Jack Berry.
»Sei still. Überleg mal, den Schatz nur mit fünfen zu teilen, ist doch allemal besser als mit dutzenden von Piraten. Außerdem kommt noch die Schmuggelware dazu, die wir zum verabredeten Zeitpunkt abliefern werden. Wenn wir Bellamy am Leben lassen, können wir die Belohnung für den Käpt’n auch noch kassieren. Du bist ein gemachter Mann und brauchst dich dein ganzes Leben lang nicht mehr herumkommandieren zu lassen«, erinnerte ihn Chester Longmore.
Ben Bradford sprach mit bedrohlicher Stimme, die keine Widerrede duldete: »Hör gut zu, Berry, beim vierten Doppelschlag der Mittagswache schnappst du dir die Göre des Käpt’n und lässt sie nicht wieder los. Den Rest machen wir vom Backdeck aus. Wenn du dich weigerst, wirst du schneller über Bord sein, als dir lieb ist. Hast du das verstanden? Und jetzt kommt, die Hundswache beginnt gleich.«
Larou wollte sich gerade in einer dunklen Ecke verstecken, als ihn jemand von hinten packte. Fast hätte er einen schrillen Schrei ausgestoßen, doch jemand hielt ihm grob den Mund zu.
»Schau einer an. Wen haben wir denn da? Des Käpt’n Schützling, für den wir alle unser Leben riskieren mussten.« Philip Hopkins’ Stimme klang nah an Larous Ohr.
Die anderen vier Männer sahen ihn bedrohlich an. Nur bei Berry war pure Angst in den Augen zu erkennen.
»Was machen wir mit der Ratte?«, fragte Bradford schließlich.
»Wir schmeißen ihn am besten sofort über Bord«, schlug Brian Norris vor.
»Der Indianer lungert an Deck herum, und ihm entgeht nichts«, erklärte Hopkins, der eben von dort kam. »Wir werden morgen das Schiff kapern, und danach können wir uns seiner entledigen. Vorerst sperren wir ihn in den Vorratsraum, in dem auch Bellamy war.«
Atemlos saß Larou in der dunklen Kammer. Sein Herz raste immer noch von dem Schreck. Und die Situation, tief im Schiffsrumpf gefesselt zu sein, machte das Ganze nicht besser. Alles erinnerte ihn an seine Gefangenschaft auf der Winchester . Er geriet in Panik. Was sollte er jetzt tun?
Zuerst musste er ruhiger werden und dann irgendwie freikommen, um den Käpt’n zu warnen.
Seine Hände waren mit einem alten Seil auf dem Rücken gefesselt, und auch seine Füße waren zusammengebunden.
Doch Larou spürte, dass das Seil schon rau war. Wenn er irgendwo eine scharfe Kante finden könnte, dann könnte er vielleicht Stück für Stück die Fasern lösen.
Vorsichtig robbte er vorwärts, bis er gegen eine Kiste stieß. Mit seinen Händen versuchte er, die Kante abzutasten, ob er irgendwo eine Stelle fand, an der das Holz so rau war, dass man mit ihm das Seil durchtrennen konnte.
Tatsächlich musste er nicht lange suchen, aber es war mühselig und schmerzhaft, in so einer Haltung die Kante entlangzufahren. Außerdem machte das Schwanken des Schiffes die Sache nicht einfacher. Es würde schwierig werden, den Strick zu durchtrennen, und das Ganze würde bestimmt Stunden dauern. Aber er musste es versuchen.