Als Peggy am Dienstagmorgen immer noch nicht zu Hause war, ersannen einige Frauen in der Stadt einen Essens- und Aufgabenplan, der den Aherns helfen sollte, sich ausschließlich auf die Suche nach ihrer Tochter zu konzentrieren. Clyle hatte nach Feierabend, ehe er zum Duschen ins Haus gegangen war, seine Arbeitsstiefel mit dem Wasserschlauch gereinigt. Nun saß er in Hausschuhen am Küchentisch. »Was für eine schreckliche Sache«, sagte er. Seit vierundzwanzig Stunden wiederholte er diesen Satz wie auf Autopilot. Er versuchte sich an andere schreckliche Dinge zu erinnern, die in Gunthrum geschehen waren. Als er noch ein Teenager gewesen war, hatte ein kleines Mädchen, das hinter seinem Vater auf dem Gepäckträger eines Fahrrads saß, seine Hand durch die Speichen gesteckt, und die Fingerspitzen waren abgetrennt worden. Ein Junge in der Klasse unter ihm war an einem Bienenstich gestorben. Sein Gesicht war zur Größe eines Ballons angeschwollen, als sie alle miteinander im Park Baseball gespielt hatten. Clyle war auch dabei gewesen, und er musste seitdem immer daran denken, wenn er die weiche Schale einer überreifen Cantaloupe-Melone sah.
Alma stand in der Küche und glasierte Zimtschnecken auf einem Backblech. Auf der Herdplatte kühlte, schon mit Alufolie bedeckt, eine Lasagne ab. Sie drehte sich um und stützte die Hand auf die Hüfte: »Ich freue mich überhaupt nicht darauf.«
»Das tut keiner«, pflichtete Clyle bei. »Aber es gehört sich nun mal so.«
»Sag mir nicht, was sich gehört«, grollte Alma und riss ein Stück Alufolie ab, um damit die Zimtschnecken zu bedecken.
Hal kam einige Minuten später frisch geduscht die Treppe hinab. Er hatte ein sauberes Hemd von Clyle angezogen, und seine Augen waren rot umrandet. Clyle hatte ihm von Peggys Verschwinden erzählt, nachdem Alma Clyle am Montagabend davon berichtet hatte, als sie mit einer Pizzaschachtel in der Hand und dem Mund voller Klatschgeschichten nach Hause gekommen war. Clyle wusste, dass sie es überhaupt nicht mochte, wie viel in der Stadt getratscht wurde, und es überraschte ihn immer wieder, wie schnell sich Gerüchte und Neuigkeiten verbreiteten. Er hatte nur deshalb nicht früher von der Sache gehört, weil er den ganzen Tag auf der Farm gearbeitet hatte, weitab vom Rest der Welt.
Clyle wusste, dass Hal in Peggy verknallt gewesen war, und er erinnerte sich, wie Hal im letzten Jahr von der Hundertjahrfeier zurückgekommen war und gesagt hatte, dass er sich verliebt habe. Als sie am darauffolgenden Nachmittag Schlachtschweine auf den Anhänger geladen hatten, fragte er Clyle, ob er vielleicht eines Tages heiraten könne. »Wie ein normaler Mann, verstehst du?«
Wie Clyle vorhergesehen hatte, hatte Mick Langdon, der Vermieter von Hal, an diesem Nachmittag wegen der Nachwehen des Jagdausfluges angerufen. »Ich habe in meiner Abfallgrube eine Hirschkuh gefunden.«
Clyle spürte, wie ihn Erleichterung überkam. »Das muss dich ja ziemlich überrascht haben.« Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er sich, nachdem er von der Sache mit Peggy gehört hatte, wegen dieser Hirschkuh gesorgt hatte – und ob es sie tatsächlich gab. Nicht einmal vor sich selbst hatte er zugeben wollen, dass er sofort an das Blut auf dem Pick-up hatte denken müssen, als er von Peggys Verschwinden erfuhr.
»Hal muss sie da hingeworfen haben, während ich in der Kirche war, denn sonst hätte ich ihn ganz bestimmt gehört.« Clyle fragte Mick, ob er vorbeikommen und den Kadaver mitnehmen solle, aber Mick meinte, der könne genauso gut in seiner Abfallgrube verrotten. »Aber ich dachte, du solltest es wissen.«
»Wir müssen jetzt los«, sagte Alma. »Je eher wir fahren, desto schneller sind wir zurück.« Sie zwängten sich ins Auto, und Alma, die auf dem Beifahrersitz saß, balancierte auf ihren Knien die eine der beiden Auflaufformen. Die andere hielt Hal, der wie ihr Kind auf dem Rücksitz saß.
Vor dem Haus der Aherns hatten die Leute ihre Autos und Pick-up sorgfältig am Rand der Schotterauffahrt geparkt, kein einziges Rad stand auf dem Rasen. Viele dieser Fahrzeuge parkten hier auch an Freitag- und Samstagabenden, dann aber nicht so ordentlich. »Du meine Güte«, sagte Alma. »Jetzt müssen sie sich auch noch um ein Haus voller Gäste kümmern. Ich dachte, die Frauen hätten es so eingerichtet, dass wir nicht alle zur selben Zeit kommen.«
Cheryl und Larry Burke standen auf der Veranda – er hielt eine Papiertüte mit Einkäufen auf dem Arm – und unterhielten sich mit Lonnie McGee und seiner Frau Diane. Sobald die Costagans und Hal vorfuhren, hielten sie in ihrem Gespräch inne. Die beiden Paare gehörten zu den Trinkkumpanen der Aherns, wobei Cheryl und Larry mit ihren achtundzwanzig Jahren die jüngsten Mitglieder der Gruppe waren. Lonnie hatte Larry vor ein paar Jahren in der Werkstatt eingestellt, nachdem Larry einen Kfz-Lehrgang abgeschlossen hatte. Die meisten in der Gruppe hatten Larry früher bei Footballspielen zugejubelt, wenn er mit seinen Touchdowns gepunktet und die Bulldogs in die Conference Championship geführt hatte. In den Jahren seitdem hatte er, wie die meisten Leute in Gunthrum, einen Weg gefunden, sich mit den Menschen, die er seit seiner Kindheit kannte, vom Kind zum Erwachsenen zu entwickeln. Clyle war eine Ausnahme – jemand, der die Stadt verlassen und sich woanders eine Existenz aufgebaut hatte, um dann zurückzukehren. Aber eigentlich hatte auch er immer bloß in Gunthrum leben wollen.
»Wir waren uns nicht sicher, ob wir reingehen oder das Essen auf die Veranda stellen und gehen sollen«, flüsterte Diane, als sie die Verandatreppe hochgingen. Sie färbte ihr Haar neuerdings dunkelbraun, und Clyle fand, dass sie das älter aussehen ließ.
»Schreckliche Sache«, sagte Lonnie. »Einfach schrecklich.«
»Das sage ich schon den ganzen Tag«, antwortete Clyle.
Cheryl legte ihren Arm auf Larrys Arm. »Larry hat extra auf die Bowling League verzichtet, um heute Abend hier zu sein. Wir wollen helfen, wo wir können.«
»Eine wahre Heldentat«, murmelte Alma, und Cheryl starrte sie an.
»Hallo, Larry«, sagte Hal, und Larry murmelte seinerseits ein »Hallo«, ohne sich die Mühe zu machen, Hal anzusehen. Clyle wusste seit Almas Fahrt in die Stadt, dass Larry und Sam überall herumtratschten, wie Hal sie nahe Valentine hatte sitzen lassen, und dass Cheryl sie am nächsten Morgen abholen musste. Und jetzt wurde ein Mädchen vermisst, und sie kamen sich vermutlich ziemlich kleinlich vor, weil sie versucht hatten, wegen etwas so Trivialem wie einer Autofahrt Mitgefühl zu erschleichen. Sollten sie jedenfalls, dachte Clyle.
»Ich glaube, wir können es abstellen, oder?«, fragte Diane, ohne eine bestimmte Person im Blick zu haben. Sie meinte das mitgebrachte Essen. Alma klingelte an der Tür.
»Typisch!«, murmelte Cheryl, und sie standen einen Augenblick lang in betretenem Schweigen da, bis die Tür geöffnet wurde.
Linda Ahern spähte hinaus, ihr Gesicht weiß wie eine Leinwand. »Kommt«, sagte sie und winkte sie herein. »Ihr müsst doch nicht draußen auf der Veranda stehen.« Milo, ihr Sohn, stand hinter ihr, und sein Gesicht hatte einen wachsamen Ausdruck.
Cheryl trat vor. »Wir wollten nicht stören.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte Linda, und Clyle erklärte, er und Hal seien gekommen, um bei der Farmarbeit zu helfen, sie würden daher mit ihren Stiefeln draußen auf der Veranda bleiben.
»Ihr wisst, was getan werden muss?«, fragte Linda.
»Ja«, sagte Clyle. Randall hatte ihn angerufen und gesagt, was auf der Farm zu tun war. »Ein Futterautomat funktioniert wie der andere, mehr oder weniger.« Er ging mit Hal zur Scheune, und Alma warf einen Blick über ihre Schulter, als sie sich die Stufen hochwuchtete. Manchmal bereitete es ihm bei Alma genauso viel Sorge wie bei Hal, sie in einer Situation mit anderen Menschen allein zu lassen. Das galt insbesondere, wenn Diane in der Nähe war, aber wenn Alma etwas hätte sagen wollen, hätte sie es schon längst getan. Sie hielt mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg, und nicht alle Frauen im Ort wussten ihre freimütige Art zu schätzen. Sie waren dazu erzogen worden, ihre Ehemänner und die gesellschaftlichen Regeln zu respektieren, zwei Dinge, die Alma völlig egal waren. Früher hatte er das an ihr geliebt.
In der Scheune der Aherns machte Clyle den Schalter für die Fütterungsanlage ausfindig. Seine eigene Scheune hatte kein elektrisches System, aber er wusste einigermaßen, wie es funktionierte. Er drückte den Schalter, und der Mechanismus setzte sich laut rumpelnd in Gang. Hal und er standen nebeneinander und sahen zu, wie der mit einem Kabel umschlungene PVC -Schlauch auf beiden Seiten des Stalls Futter einfüllte. Bei sich zu Hause verwendete er eine Kurbel, um zu kontrollieren, wie viel Futter ausgegeben wurde: genug, dass es leicht aus dem Behälter strömte, aber nicht so viel, dass die Schweine es vergeuden konnten.
Joe hatte das Werkzeug an die Wände gehängt, das die meisten Landwirte dreifach besaßen: Zangen, Schraubenzieher und Hämmer für das Haus, den Werkzeugschuppen und die Scheune. Es fühlte sich seltsam vertraut an, in der Scheune eines anderen Mannes zu stehen. Daran, wie die Strohballen aufgestapelt waren und dass das Werkzeug an Wandhaken hing, sah er, dass Joe Ahern ein penibler Mann war, der daran glaubte, dass harte Arbeit belohnt werde. Ein Mann, der dachte, dass er sich und seine Familie durch schiere Willenskraft beschützen könne. Hal lehnte an einem Brett, das zur Lenkung der Schweine benutzt wurde, und schaute der Fütterungsanlage zu, obwohl die Schütte das Getreide in jeden Trog auf dieselbe Weise entlud. Clyle konnte das gut verstehen. Die gleichförmigen Bewegungen zählten zu den einfachen Freuden der Landwirtschaft, es war, wie ein Baby in den Schlaf zu wiegen.
Schon früher hatte Clyle die Farm gemocht. Er hatte seinem Vater zu helfen begonnen, als er noch ein kleiner Bengel war, und im Alter von acht Jahren konnte er Traktor fahren. Ihm hatte die Erschöpfung, die sich am Ende des Tages in allen Muskeln breitmachte, immer gut gefallen, und das Gleiche galt für die straffe, sonnenverbrannte Haut im Sommer und die von Kälte rissige im Winter. Er hatte sein Elternhaus verlassen, um aufs College zu gehen – seine Eltern hatten darauf beharrt, dass er seine Möglichkeiten erkunden müsse –, und in seinem dritten Collegejahr hatte er in einem Seminar über viktorianische Literatur neben einem hübschen Mädchen gesessen, das sich zu ihm hinüberbeugte und fragte, ob er denke, dass die Viktorianer so prüde gewesen seien, dass sie sogar die Tischbeine verdeckt hätten. Sie roch nach Sägemehl und trug eine weinrote Strickjacke und einen Rock, der knapp über ihren Knien endete. So hatte er Alma kennengelernt.
»Fühlt sich komisch an, hier drinnen zu sein«, sagte Hal mit erhobener Stimme, um das Geräusch der Fütterungsanlage zu übertönen. Aber Clyle beruhigte ihn, dass er sich keine Sorgen machen müsse. Er dachte an den Jungen mit dem Bienenstich, dessen Gesicht wie ein Ballon angeschwollen war. Er und Alma hatten mindestens einen Monat lang für jenes Seminar zusammen gelernt, bis sie sich schließlich in der Bibliothek zu ihm vorgebeugt und ihn geküsst hatte. Ihr Mund war feucht gewesen und hatte nach Halsbonbons mit Kirscharoma geschmeckt. Es war ihm wahnsinnig peinlich zuzugeben, aber sie war erst das vierte Mädchen gewesen, das er geküsst hatte. Wenn sie nicht die Initiative ergriffen hätte, säßen sie wahrscheinlich immer noch an einem langen Holztisch bei den Bücherregalen, und Clyle würde überlegen, ob er ihre Hand nehmen sollte.
Während die Fütterungsanlage weiterhin ihre Ladung verteilte, gingen Clyle und Hal durch die Reihen mit Schweinen, dann wandten sie sich den drei großen Nebengebäuden zu. Joe besaß einen der größeren Höfe im County. Sie stellten die anderen, mechanischen Futterautomaten an und überprüften die Schweine auf Auffälligkeiten. Zwei Ferkel in Gebäude Drei hatten Durchfall, was Clyle und Hal an ihrem Rektum erkannten. Sie packten jeder eines bei den Hinterbeinen und setzten sie in einen separaten Pferch; Clyle schrieb eine Notiz für den Nächsten, der hier an die Arbeit ging. Er fand den kleinen Kühlschrank im dritten Gebäude. Glasflaschen standen fein säuberlich aufgereiht auf den Regalböden, darauf lagen Spritzen. Er füllte zwei Spritzen mit Penicillin, nahm einen blauen Markierstift – bei den Aherns war das die Farbe für die Impfungen, die am dritten Tag fällig waren – und verabreichte einem Wurf die Injektionen gegen Lungenentzündung, während Hal sich die Tiere unter den Arm klemmte.
Das laute Rattern der Fütterungsanlage verstummte. Hal schaltete sie aus, und dann machten sie sich auf den Rückweg durch alle Gebäude, vergewisserten sich, dass die Futterautomaten sich gefüllt hatten und das Wasser frisch war. Schließlich kamen sie wieder in der Scheune an. Sie war mit Abstand das älteste Gebäude auf dem Hof, mit Holzwänden und einem unebenen Betonboden, wohingegen die neueren Gebäude aus Wellblech bestanden und so glatte Böden hatten, dass eine Murmel darauf nicht weggerollt wäre. Keine Frage, ganz mittellos waren die Aherns nicht.
In der Scheune sah Hal zum Heuboden hinauf, und seine Stimme hallte nach, als er sagte: »Vielleicht ist sie da oben. Vielleicht versteckt sie sich.«
»Sie versteckt sich nicht«, sagte Clyle ruhig.
»Das kann man nie wissen. Ich habe mich mal drei Tage lang auf einem Heuboden versteckt.« Damals war Hal noch auf die Highschool gegangen und hatte gerade begonnen, an den Wochenenden für die Costagans zu arbeiten. Er hatte noch bei seiner Mutter gelebt, und versteckt hatte er sich höchstens einen Nachmittag lang. Marta hatte Hal in der Schule beim Dope-Rauchen mit einigen anderen Jungs erwischt, und deshalb hatte er sich bei den Costagans vor ihr versteckt. Clyle und Alma wussten gar nicht, dass er bei ihnen war, bis er mit Heu im Haar auf ihrer Türschwelle aufkreuzte und behauptete, halb verhungert zu sein. Clyle hatte Marta angerufen und Bescheid gegeben, dass sie ihn gefunden hatten, und sie hatte geseufzt. »Schickt den Schwachkopf nach Hause«, hatte sie gesagt.
»Vielleicht sollte ich mal nachsehen«, sagte Hal und drehte sich mit großen Augen zu Clyle um. »Ich könnte der sein, der sie findet. Ich wäre ein Held!«
»Niemand wird ein Held«, antwortete Clyle, und obwohl er es nicht glaubte, fügte er hinzu: »Es geht ihr bestimmt gut.«
In Lindas Küche schnitt Alma eine der mitgebrachten Zimtschnecken auf und legte sie auf einen Pappteller, den sie auf den Tisch zu einem halben Dutzend anderer Pappteller stellte. Joe Ahern war mit dem Großteil der Gruppe im Keller, aber Linda saß am Küchentisch, vor ihr eine Tasse Kaffee. »Wir wissen eure Hilfe sehr zu schätzen«, sagte sie zum wiederholten Mal.
»Das ist doch das Mindeste«, wiederholte Alma und warf Clyle einen Blick zu: Zeit, dass wir gehen . Er stimmte zu, aber Linda hatte darauf bestanden, dass sie ihre Schuhe auszogen und auf einen Sprung reinkamen, so wie es sich immer und unter allen Umständen gehörte. Wie hätte er einer Frau in Lindas Lage diese Einladung abschlagen können? Er hatte wahrscheinlich noch nie in Strümpfen in einer fremden Küche gestanden. Er zog sogar seine Hausschuhe an, wenn er mitten in der Nacht zur Toilette ging – was mit zunehmendem Alter immer öfter geschah.
Diane beeilte sich, Alma Platz zu machen und näher an Lonnie zu rücken, ihren Mann. Clyle wusste, dass Lonnie sich vor vielen Jahren einmal an Alma herangemacht hatte. Sie hatte es ihm am selben Abend auf der Heimfahrt erzählt, fuchsteufelswild, aber auch lachend. Er sah Lonnie in die Augen, aber bei Diane schaffte er das nicht.
Milo saß auch am Tisch. Der Junge hielt einen Zauberwürfel in der Hand, und obwohl Clyle die Dinger kannte, erkundigte er sich danach. Milo erklärte ihm die Regeln und reichte ihm den Würfel, und die verschiedenen Ebenen des Würfels drehten sich in Clyles Hand und rasteten mit einem befriedigenden Klicken ein.
»Hast du es schon mal geschafft?«, fragte er.
»Nein«, gab der Junge zu. »Ich bin nicht gut in Geduldsspielen.«
»Ich schon«, sagte Hal, nahm Clyle den Würfel aus der Hand und drehte ihn in diese und in jene Richtung, um ihn dann zurückzugeben. »Ich hab’s nicht geschafft.«
»Es ist schwer«, sagte Milo. »Ich schaffe es auch nicht.«
»Habt ihr ein Badezimmer?«, fragte Hal, und Milo deutete auf das andere Ende des Flurs.
Larry flüsterte seiner Frau etwas zu, und sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt«, flüsterte sie zurück.
»Zeitpunkt wofür?«, fragte Milo.
»Ach, nichts, Herzchen«, sagte Cheryl zu dem Jungen. »Darüber müssen wir jetzt nicht reden.«
»Ich wollte mich bei Hal entschuldigen«, sagte Larry zu Clyle und räusperte sich. »Es war nicht in Ordnung von uns, ihn zur Jagd einzuladen und dann nicht jagen zu lassen.«
Alma warf das Geschirrtuch hin, das sie in ihren Händen geknetet hatte. »Damit hast du verdammt recht.«
»Ich will mich doch gerade entschuldigen, Alma«, sagte Larry, und Clyle wusste, wie sehr es sie reizte, dass einer ihrer früheren Buspassagiere sie beim Vornamen nannte. »Wir haben uns Sorgen gemacht, als wir am Samstagabend zur Jagdhütte zurückgekommen sind und Hal nicht da war. Wir wussten nicht, wohin er verschwunden war. Sonntagmorgen mussten wir Cheryl anrufen, damit sie uns abholen kommt. Wir waren bei meinem Cousin praktisch gestrandet.«
»Um was geht es?«, fragte Linda Ahern sichtlich verwirrt, und Clyle musste an die säuberlich aufgereihten Werkzeuge in der Scheune denken und daran, wie viel Zuversicht sie ausstrahlten.
»Samstagabend«, erklärte Cheryl, »hat Hal Larry und Sam oben bei Valentine sitzen lassen und ist früher von ihrem Jagdausflug zurückgekommen. Am Samstagabend war er hier in der Stadt. Ich habe ihn sogar gesehen, im OK .«
»Samstagabend?«, fragte Linda. »Ich verstehe nicht.«
Cheryl öffnete den Mund, aber Alma unterbrach sie. »Mach dir keine unnötigen Gedanken«, sagte Alma zu Linda. »Ich kann aufräumen und sauber machen.«
»Meinst du?«
»Ich weiß, wo was hinkommt. Geh schon.« Alma nahm ein Backblech vom Trockengestell und stellte es an seinen Platz unter den Tresen, während Linda leise den Raum verließ. Alma drehte sich zu Cheryl um. »Wozu hast du das alles erzählt? Das Letzte, worum sich die Aherns jetzt Sorgen machen sollten, ist der Wutanfall deines Mannes, weil er mal ein paar Kilometer zu Fuß gehen musste.«
Cheryl verschränkte die Arme über dem Brustkorb. »Ich habe gesagt, dass Hal am Samstag zurück in der Stadt war, an dem Abend, als Peggy …«
Larry legte ihr die Hand auf den Arm, und sie verstummte. Dann beugte er sich zu Alma hinüber, die Ellbogen auf den Knien, und sagte fast flüsternd: »Cheryl war da. Am Samstag auf der Castle Farm. Sie ist früher als Peggy gegangen, aber sie hat sie dort gesehen.« Clyle sah Cheryl an, aber sie hielt den Blick gesenkt. Er warf Diane einen kurzen Blick zu und bemerkte, dass sie Tränen in den Augen hatte. Sie war schon immer etwas nah am Wasser gebaut gewesen.
»Wie wirkte sie, Cheryl?«, fragte Larry, und Cheryl schaute finster drein.
»Betrunken.«
»Die Sache ist«, sagte Larry, »dass Hal auch da war, und …«
Alma schlug mit der Hand auf den Küchentresen. »Nein. Das höre ich mir nicht an.« Larry warf Cheryl einen Blick zu. »Und für dich bin ich immer noch Mrs. Costagan. Verstanden?«
Plötzlich ertönten laute Stimmen im Obergeschoss – die von Hal und von Linda.
»Nein!«, schrie Hal.
Clyle stand auf und ging rasch um die Ecke. Er nahm auf der Treppe zwei Stufen auf einmal. Milo und die anderen folgten ihm.
»Das legst du zurück«, sagte Linda.
Hal war im Badezimmer gewesen und stand nun im Flur. Er hatte eine Hand über den Kopf gehoben und hielt etwas fest umklammert. »Ich wollte es nicht behalten«, jammerte er. »Ich will nur gucken.« Linda sprang in die Höhe, um Hal den Gegenstand aus der Hand zu reißen, aber sie erreichte kaum seinen Ellbogen. Hal sah Clyle an. »Ich weiß noch, wie Peggy das hier getragen hat. Da ist alles dran«, erklärte er und zeigte ein silbernes Armband, an dem kleine silberne Anhänger baumelten. Clyle glaubte, einen kleinen Footballhelm erkannt zu haben. Linda riss Hal das Armband aus der Hand.
»Ich hab gesehen, wie er es in die Tasche gesteckt hat«, sagte Linda. »Ich bin hochgegangen, um nach Hal zu sehen – er war ziemlich lange weg –, und er hat es sich einfach in die Tasche gesteckt.«
»Um Himmels willen, Hal«, sagte Alma. »Du weißt doch, dass du das nicht nehmen darfst.«
Milo trat vor und nahm seiner Mutter das Armband ab. »Ich lege es zurück.«
»Was ist hier los?«, fragte Joe Ahern mit seiner rauen Stimme, die Treppe hochkommend.
»Es war ein Missverständnis«, sagte Alma.
Joe blickte von Alma zu seiner Frau.
»Nichts von Belang«, sagte Linda. »Hal war nur ein bisschen durcheinander.«
»Ich bin nicht durcheinander«, sagte Hal.
»Bitte«, sagte Clyle. »Er meint es nicht böse. Er ist bloß … Ihr wisst schon.« Das Wort beschränkt hing unausgesprochen in der Luft. Er benutzte es nicht gern in Hals Gegenwart, aber weniger zutreffend war es deshalb nicht. Er dachte an Cheryls Andeutung, dass Hal schon am Samstagabend wieder in der Stadt gewesen war, und an das Blut im Pick-up dachte er auch. Das hat nichts zu bedeuten , ermahnte Clyle sich selbst. Er widerstand der Versuchung, vorschnelle Schlüsse zu ziehen, aber er wusste auch, dass andere in der Stadt nicht so zartfühlend waren. Nicht nur wegen heute Abend, sondern auch wegen dieses vermaledeiten Picknicks.
Joe deutete mit dem Finger auf Hal. »Wir können so was jetzt nicht gebrauchen, verstehst du?« Clyle roch den Alkohol in seinem Atem. »Wir haben schon genug Schwierigkeiten.«
»Es war ein Missverständnis«, sagte Linda. »Geh zurück in den Keller. Hal war hier, um auf der Farm zu helfen.«
»Wir gehen jetzt besser«, sagte Clyle, »und lassen euch in Ruhe.« Am unteren Ende der Treppe standen Cheryl und Larry mit verkrampften Händen und hatten bestürzte Mienen aufgesetzt: Hal Bullard machte mal wieder eine Szene. Clyle überschlug, wie lange sie brauchen würden, um sich in ihre Mäntel zu zwängen, das Auto anzuwerfen und vor der Tür des OK aufzulaufen: neun Minuten. Neun Minuten, bis jeder in Gunthrum glaubte, dass Hal in der Sache drinsteckte.
Auf dem Nachhauseweg drehte sich Alma zu Hal um. »Du hättest dieses Armband nicht nehmen sollen.«
»Wusste ich nicht. Ich wusste nicht, dass das falsch ist.«
Alma zeigte mit dem Finger auf Hal. »Hal Bullard, das ist eine glatte Lüge. Du kannst Richtig und Falsch genauso gut wie jeder andere unterscheiden. Du willst es bloß nicht zugeben.«
Clyle fuhr den einen Kilometer zwischen ihrem Haus und dem der Aherns, und sobald sie angekommen waren, kletterte Hal aus dem Wagen und verabschiedete sich bis zum nächsten Tag. Clyle stand neben Alma in der Auffahrt, während Hal in seinen Pick-up stieg, dessen Schlüssel schon in der Zündung steckte.
Alma winkte, als Hal wendete und die Auffahrt hochfuhr. »Wart’s nur ab. Joe wird sich ganz bestimmt mit Peck in Verbindung setzen und sagen, dass Hal was mit Peggys Verschwinden zu tun hat.«
»Dafür gibt es keine Beweise«, sagte Clyle, und das stimmte ja auch.
Alma spitzte die Lippen, und auf ihre Stirn trat Schweiß. Es waren zwei Grad über null, aber sie öffnete den Reißverschluss ihres Mantels. Clyle vermutete eine weitere Hitzewallung.
»Damit hast du verdammt recht«, sagte sie und marschierte ins Haus.