Alma war Pecks Streifenwagen während der letzten drei Kilometer gefolgt. Als er auf den Highway 57 abbog, vermutete sie bereits, er werde zu ihrer Farm fahren, aber als er vor ihrer Auffahrt verlangsamte, empfand sie nicht die übliche Genugtuung, recht behalten zu haben. Nachdem sie zu ihrer Bustour aufgebrochen war, waren die Leute von Stevarts gekommen und hatten neuen Schotter auf der Zufahrt abgeladen. Pecks Auto schien keine Probleme mit den Unebenheiten zu haben, es besaß offenbar eine bessere Federung als ihres. Es fühlte sich immer seltsam an, wenn der neue Schotter geliefert wurde – als ob man eine fremde Zufahrt entlangfahren würde, ganz anders als noch wenige Stunden zuvor. Alma stellte ihr Auto neben Pecks Polizeiwagen in der Auffahrt ab, dann stiegen beide aus und schlugen die Türen fast synchron zu. Es war noch nicht ganz halb neun.
»Peck«, sagte sie, und er erwiderte das mit ihrem Namen. »Ich glaube, ich weiß, warum du hier bist. Joe Ahern hat sich was in den Kopf gesetzt, nicht wahr?«
»Ich bin nur hier, um ein paar Fragen zu stellen«, sagte er.
Sie wäre gern wütender auf Peck gewesen, aber was konnte sie ihm schon vorwerfen? Er machte nur seine Arbeit. Über Joe Ahern hingegen hätte sie sich endlos aufregen können – wie konnte man nur so danebenliegen?
»Na, dann komm mal mit rein«, sagte sie. »Ich setze eine Kanne Kaffee auf und hole Clyle.«
Sie läutete die gusseiserne Essensglocke, die seit Clyles Kindheit auf der Veranda hing. Als sie auf die Farm gezogen waren, hatten sie dergleichen für ein überlebtes Klischee gehalten – eine Glocke, mit der die Bauersfrau die Männer zum Essen rief –, aber es war schwierig, Clyle auf dem Hof aufzuspüren, ohne einen halben Kilometer von Gebäude zu Gebäude zu laufen, und sie hatte Besseres zu tun. Sie setzte den Kaffee auf und nahm einen Streuselkuchen aus der Tiefkühltruhe. Die Pockennarben vom Gefrierbrand waren selbst durch die Frischhaltefolie unübersehbar. Sie hatte den Kuchen vor acht Monaten zu Ostern gebacken, und weil sie ungern Essen vergeudete, hatte sie die zweite Hälfte eingefroren.
Peck sah ihr zu, als sie den Kuchen schnitt. »Das ist doch nicht nötig«, sagte er.
»Der ist nicht nur für dich«, sagte sie. Manchmal konnte sie einfach nicht anders, als ein bisschen unhöflich zu sein.
Sie schnitt vier große Stücke ab und stellte sie in die Mikrowelle, mit einem Blatt Küchenrolle obendrauf. Alma liebte ihre Mikrowelle. Als Clyle sie vor ungefähr einem Jahr angeschleppt hatte, hatte sie ihn einen Narren genannt – auf gar keinen Fall brauche sie so einen Riesenapparat für etwas, das sie genauso gut im Ofen machen könne. Aber nun fand sie täglich neue Ausreden, um die Mikrowelle zu benutzen.
Sie sah Clyle aus der Scheune kommen. Er hatte einen Lappen in der Hand, den er gerade in die Gesäßtasche steckte. Auch wenn es nicht schneite, war unverkennbar, dass der Winter begonnen hatte. Trotzdem trug Clyle nur lange Unterwäsche und ein Flanellhemd. Hal tauchte hinter ihm auf, und als er sein Hemd in die Hose stopfte, verschwanden seine Arme bis zu den Ellbogen darin. Konnte es sein? Sie schüttelte den Kopf. Er hatte zwar Menschen verletzt, aber nur, wenn sie ihn gereizt hatten, und es waren ausschließlich Männer gewesen. Männer waren, davon war sie überzeugt, die Wurzel allen Übels, auch wenn sie manchmal schwer an sich halten musste, um nicht die albernen Frauen aus der Stadt zu ohrfeigen, denen sie bei den Treffen des Bibliotheksvorstands begegnete.
Clyle und Hal zogen ihre Stiefel auf der Veranda aus und betraten die Küche, wo sie ihre Hausschuhe mit der Fußspitze ausrichteten, ehe sie mit den Füßen hineinschlüpften. »Peck Randolph«, sagte Clyle und streckte Peck die Hand zur Begrüßung entgegen. »Womit können wir dir helfen?«
»Ich bin hier, um über die schreckliche Sache da drüben zu sprechen.« Peck deutete mit dem Daumen in Richtung der Ahern-Farm.
»Schreckliche Sache«, wiederholte Clyle. »Ganz schrecklich.«
»Allerdings.«
Hal starrte Peck an. »Sie sitzen auf meinem Platz. Auf diesem Stuhl sitze ich immer.« Alma zuckte zusammen. Hal verstand einfach nicht, wie unhöflich er manchmal klang, wenn er sich auf irgendwelche Nebensächlichkeiten versteifte.
»Tut mir leid, Junge.« Peck stand auf und ließ sich auf dem nächsten Stuhl nieder, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, dass so etwas Nichtiges wie ein Sitzplatz zur Sprache kam, wenn es eigentlich um ein vermisstes Mädchen ging. Hal ließ sich auf seinem angestammten Platz nieder. »Du magst deine Routine. Das kann ich verstehen. Ich esse jeden Morgen das gleiche Frühstück: zwei pochierte Eier und eine Scheibe Toast.«
»Dann lass mich mal raten«, sagte Clyle. »Joe Ahern hat dich angerufen.«
»Das stimmt.« Peck bedankte sich bei Alma, als sie die erste Tasse mit frischem Kaffee vor ihn stellte. »Er hat gesagt, ihr wärt bei ihm gewesen, um auf dem Hof zu helfen. Sehr freundlich von euch.«
»Und?«, fragte Alma.
»Ach ja, Hal«, sagte er und wandte sich zu ihm. Alma musste sich eingestehen, dass sie Peck mochte. Die meisten Leute sprachen mit ihr und Clyle, aber nicht mit Hal. »Mr. Ahern sagte, du wolltest ein Armband mitnehmen?«
»Ja, stimmt. Ich wollte etwas von ihr haben. Ich habe Peggy geliebt.«
»Na ja, nicht wirklich geliebt«, warf Clyle ein.
»Doch«, sagte Hal ernst. »Hab ich wirklich.«
»Ja, und über Peggy würde ich gern mit dir sprechen.« Peck begann mit Fragen zu dem Jagdausflug – zu welcher Uhrzeit Hal die Jagdhütte nahe Valentine verlassen hatte, wer zurückgeblieben war, die genaue Anschrift, wann er wieder in der Stadt gewesen war, wann er ins OK gegangen und wer dort gewesen war und was er Punkt für Punkt gemacht hatte, nachdem er die Kneipe verlassen hatte.
Schon nach kurzer Zeit standen Hal die Tränen in den Augen, weil ihn die Fragen nach dem Jagdausflug verwirrten. Er hegte ein instinktives Misstrauen gegenüber Männern in Polizeiuniformen – noch etwas, das ihn mit den meisten Männern seines Alters verband –, das von einer Anzeige wegen Ladendiebstahls in einem Kaufhaus in einer der Nachbarstädte herrührte. Normalerweise ging Alma beim Einkaufen hinter ihm her und nahm seinen Snickers-Riegel auf ihre Rechnung, aber nicht an dem Tag, als der Filialleiter ihn mit festem Griff um den Arm an der Tür aufhielt. Hal hatte sich mit einem Ruck befreit und sich den ganzen Schokoriegel auf einmal in den Mund gestopft, und von da an war die Situation eskaliert. Letztlich hatte das Geschäft zwar auf eine Anzeige verzichtet, aber wirklich niemand in dem Laden hatte die Szene überhören können.
Als Nächstes befragte Peck ihn zu den Blutspuren in seinem Wagen.
»Wie hast du davon erfahren?«, fragte Clyle, und Peck bedachte Alma mit einem Stirnrunzeln. »Hast du ihm davon erzählt?«
»Wir sind uns am Montagabend in der Pizza Ranch begegnet. Wir haben nichts zu verbergen.« Um Himmels willen, warum hatte sie nur davon erzählt?
»Ich kann die Frage beantworten«, sagte Clyle und schob sich ein Stück Kuchen in den Mund. »Hal sagt, das Blut sei von einer Hirschkuh gewesen.«
»War es ja auch«, sagte Alma und warf Clyle einen giftigen Blick zu.
Clyle ignorierte sie und setzte zu einer Erklärung an, dass Rotwild je nach Einschussstelle sehr stark bluten könne.
»Weiß ich doch«, sagte Peck. »Ich gehe schon mein ganzes Leben lang auf die Jagd.« Alma legte widerstrebend ein Stück Kuchen auf den Teller neben Pecks Notizbuch, und er bedankte sich. »Sie sagte, ihr hättet den Wagen gereinigt?«
»Das stimmt«, bestätigte Clyle. »Hal hat versucht, das Tier selbst auszunehmen, aber das hat nicht so gut geklappt.«
»Und was habt ihr mit dem Kadaver gemacht?«
»Das habe ich dir doch am Montag schon erzählt«, sagte Alma. »Hal hat das Tier in Mick Langdons Abfallgrube geworfen.«
»Habt ihr es dort gesehen?«
»Nein, aber …«, setzte Alma an, und Peck sagte ruhig: »Ich würde das gern von Hal hören.«
»Sie hat recht«, bestätigte Hal. »Der ist in der Abfallgrube. Aber ich weiß nicht, warum Sie meinen Hirsch angucken müssen.«
»Es war eine Kuh«, sagte Clyle, »und Hal hatte nur eine Genehmigung für Böcke. Ich werde das Bußgeld übernehmen.«
»Mir geht es gerade nicht so sehr um Bußgelder«, sagte Peck. Er sah von seinem Notizbuch auf. »Und ich gehe davon aus, dass die Jagderlaubnis für den Bereich Elkhorn galt, nicht für Sandhills?« Hals Mund stand vor Schreck weit offen. »Auch das interessiert mich gerade nicht. Ich will einfach diese Hirschkuh mit eigenen Augen sehen. Aber damit ist natürlich nichts bewiesen. Ich wünschte, du hättest den Wagen nicht so gründlich sauber gemacht, Hal. Eine Probe hätte einige Dinge klären können.«
»Was meinst du mit ›eine Probe‹?«, fragte Hal. »Ein Probe wovon?«
»Von dem Blut.«
Hal sah Clyle an, dann wieder Peck. »Da war gar nicht so viel Blut. Also, schon viel, aber nicht im Wagen.«
»Nicht im Wagen?«
»Nein, sondern da, wo ich das Tier erwischt habe. Auf der Straße.«
»Du hast es auf der Straße angefahren?«
»Nein, ich habe es auf der Straße geschossen .« Hal stand gequält auf, und Peck hob beide Hände in die Höhe, als würde jemand eine Waffe auf ihn richten. »Setz dich, Hal. Ich habe das nicht bezweifelt.« Er nahm einen Bissen von dem Kuchen und machte Alma ein Kompliment – eine glatte Lüge, denn durch den Gefrierbrand schmeckte der Kuchen wie Styropor. »Und jetzt erzähl mir noch mal, Hal, wen du im OK getroffen hast. Hast du Joe und Randall Ahern gesehen?«
»Kann sein.«
»Ja oder nein, Hal?« Und Hal antwortete mit einem widerwilligen Ja. »Wen noch?«, fragte Peck, aber Hal meinte, all die Besuche im OK , bei denen er blau gewesen sei, würden verschwimmen. »Larry Burke? Sam Gary?«
»Nein, die waren in Valentine. Da habe ich sie ja sitzen lassen. Aber ich habe Cheryl gesehen, und die war echt sauer.«
»Worüber?«
»Sie glaubte, dass Larry sie angelogen hat, weil er ja eigentlich mit mir zusammen sein sollte, aber ich war im OK .«
»Und du hast die Sache richtiggestellt?«
Hal zuckte die Schultern. »Ich denke schon.«
Peck schrieb etwas in sein Notizbuch. »Und nachdem du das OK verlassen hattest?«
Hal senkte die Augen auf seinen Teller, tupfte Krümel mit dem Finger auf und schob sie in den Mund. »Bin direkt nach Hause gefahren.«
»Keine Abstecher?«
»Ich glaube nicht.«
Alma dachte an Larrys dummes Geplapper vom Vorabend. Hatte er nicht gesagt, Cheryl hätte Hal am Samstagabend auf der Castle Farm gesehen? Ein Gefühl von Panik überkam sie.
Peck legte seine Gabel auf den leeren Teller und teilte ihnen mit, dass Suchtrupps das gesamte Gelände der Castle Farm sehr sorgfältig durchkämmten. Wenn es dort etwas zu finden gäbe, würden sie es finden. »Wie ich höre, warst du am Samstagabend auch dort, Hal. Stimmt das?«
»Nicht Samstag abend«, sagte er, und Alma zuckte zusammen. Diese Art von Lügen – die, welche teilweise auf Wahrheit beruhten – waren ihm die liebsten, und sie fragte sich, wo der Haken war. Am Freitagabend konnte er nicht dort gewesen sein, da war er in Valentine. Aber vielleicht am Sonntag? Oder am Samstagabend nach Mitternacht?
Peck kam noch einmal auf den Teil des Jagdausfluges zurück, als er die Hirschkuh geschossen hatte, dann auf die Rückfahrt nach Valentine, den Abend im OK , auf der Castle Farm, und er fragte erneut, wie viel Hal getrunken hatte. »Neun Drinks? Zehn?«
»Ja, bestimmt«, sagte Hal. Alma wusste, dass er den Überblick über seine Getränke ungefähr so gut behielt wie über seinen Konsum von Oreos, die er sich händeweise in den Mund stopfte.
»Und dieses Armband von Peggy. Was wolltest du damit?«
Alma wurde flau im Magen. Sie fühlte sich an ihre Zeit als Sozialarbeiterin erinnert, wenn sie ihre Klienten mit scheinbar simplen Fangfragen dazu brachte, eine Wahrheit zuzugeben, die sie längst kannte.
»Ich wollte es zur Erinnerung haben.«
»Was meinst du mit Erinnerung? Ist sie weg?«
Alma schnaubte. »Das reicht. Leg ihn nicht mit seinen eigenen Worten herein, Peck. Er meint bloß ›erinnern‹ in der allgemeinen Bedeutung, so wie ich mich an die Zeit erinnern möchte, als du nicht an meinem Tisch gesessen und es auf eine Anschuldigung angelegt hast.«
»Ich verstehe«, sagte Peck. »Ich bin mir sicher, dass es viele Menschen gibt, die sich an eine Zeit erinnern wollen, als ich nicht bei ihnen zu Hause war. Zum Beispiel die Aherns, als ich dort war und ihnen Fragen zu ihrer vermissten Tochter gestellt habe.« Peck stand auf, stellte seinen Teller in die Spüle und sagte, dass er sich wieder melden werde.
Sie brachten ihn zu seinem Streifenwagen, etwas unsicher, wie man sich unter diesen Umständen benehmen sollte. Peck holte seinen Autoschlüssel hervor und schloss die Tür auf; sein Auto war eines der wenigen verschlossenen Fahrzeuge in der Stadt. »Das ist doch dein Wagen, Hal, oder?« Er nickte in Richtung des roten Dodge. »Da hast du aber einen ordentlichen Blechschaden kassiert. Du hast rechts eine Delle und ein kaputtes Vorderlicht.«
»Er ist beim Einparken gegen die Garagenwand gefahren«, sagte Clyle. »Das kannst du dir bei ihm zu Hause ansehen. Die Garage ist total mitgenommen. So einen großen Pick-up in so eine kleine Garage zu fahren, ist, wie wenn man eine Bowlingkugel durch einen Strohhalm schieben will.«
»Vor allem, wenn man getrunken hat«, fügte Peck hinzu, und Hal nickte lebhaft. »Bist du einverstanden, dass wir uns deine Garage mal ansehen, Hal?«
Hal sah Clyle an.
»Daran ist nichts verkehrt«, sagte Clyle. Peck teilte ihnen mit, dass abends eine Versammlung in der Stadt stattfinden werde, wo die Polizei bekannt gebe, was sie über Peggys Verschwinden wisse, und dass er sich über ihre Teilnahme freuen würde. Clyle sagte, sie würden es versuchen, und Peck stieg ein und fuhr davon.
Hal drehte sich zu Clyle und Alma um. »Warum will er sich meine Garage ansehen?«
»Er will sehen, ob die Delle in deinem Wagen dazu passt«, sagte Clyle. »Und das wird sie doch, oder, Hal?«
Hal verzog das Gesicht und bejahte und sagte, dass er auf Toilette müsse.
Alma folgte ihm ins Haus und wusch das wenige Geschirr ab. Jeder Narr konnte sehen, dass dieses Gespräch nicht gut gelaufen war, und für einen Narren hielt sich Alma gewiss nicht. Im Obergeschoss wurde die Toilettenspülung betätigt, und sie hörte, wie Hal die Tür zum Bad öffnete, und dann, wie er die zu seinem Zimmer schloss. Vor einigen Jahren hatte sie ihm eine Patchworkdecke im Blockhüttenstil für sein Bett genäht und passende Gardinen in dem gleichen verwaschenen Blauton dazu. An dem Abend, als sie ihm das Ganze gezeigt hatte, hatte er sich in den Quilt eingewickelt und war damit nach unten gekommen, um sich Ein Duke kommt selten allein anzuschauen. Er hatte eine geschlagene Stunde lang ein breites Grinsen auf dem Gesicht gehabt. Sie hatte diesen Burschen wirklich lieb gewonnen.
Clyle kam herein, als sie die letzte Kaffeetasse auf das Trockengestell stellte. »Und?«, fragte sie. Als er nicht antwortete, drehte sie sich zu ihm um und sah, dass er den Kopf gesenkt hatte und auf den Tisch starrte. Sie sah das verwuschelte Durcheinander seiner Haare, die den ganzen Morgen unter einer Wollmütze gesteckt hatten, und spürte einen Funken von Liebe für ihren Ehemann. Er hatte Hal vor Peck verteidigt, aber würde er auch so loyal bleiben, wenn die Dinge nicht ganz so lagen, wie Hal es behauptet hatte?
»Wir sollten vielleicht besser Herb anrufen.« Herb war der Anwalt, den sie immer dann beauftragten, wenn es Dokumente über Landbesitz aufzusetzen und zu beglaubigen galt. Er hatte nach dem Tod von Clyles Mutter die rechtlichen Fragen für sie geregelt.
»Was weiß der denn von Sachen wie dieser?«
»Nicht viel, nehme ich an, aber es wäre ein erster Schritt.«
Sie wrang den Schwamm aus und legte ihn neben die Tassen auf das Abtropfgestell, und sie war froh, dass sie nicht die guten Zuckerplätzchen für Peck aufgetaut hatte, denn mit denen war sie geizig. »Entschuldige, du hast recht. Es wäre ein erster Schritt.« Normalerweise runzelte Clyle die Stirn bei ihren seltenen Entschuldigungen, aber dieses Mal nicht.
»Was ist mit Hal?«, fragte sie.
»Was soll mit ihm sein?«
»Glaubst du, er versteht die Situation?«
Clyle zögerte. »Ich weiß nicht mal, ob ich die Situation verstehe, Alma. Im Moment gibt es gar kein Verbrechen, also auch keine Anschuldigung. Alles ist völlig unklar.«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte sie, aber nichts an Pecks Besuch leuchtete ihr ein. Sie wusste, dass Hal nicht die ganze Wahrheit sagte, und wenn sie das wusste, dann wussten es Clyle und Peck auch, aber Hal konnte stur wie ein Esel an seinen Lügen kleben. Ein paar Jahre zuvor, als sie nicht zu Hause waren, hatte er mit den Hinterreifen seines Wagens im Schnee auf dem Hof Donuts gezogen und dabei Furchen im Rasen hinterlassen, die zehn Zentimeter tief waren. Einer seiner dämlichen Freunde hatte ihm diesen Trick eines Freitagabends auf dem Parkplatz der evangelischen Kirche beigebracht, und nach mehreren Stunden hatte auch Hal es drauf. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, dass die Autoreifen das Erdreich unter dem Schnee aufreißen könnten; es war für ihn oft nicht leicht, die Folgen seines Handelns zu verstehen. Nach einigem Drängen gestand Hal seine Schandtat, begleitet von einer wahren Sturzflut von Tränen. »Das wirklich Schlimme ist nicht, dass du es getan hast«, erklärte Alma ihm ruhig, »sondern dass du uns angelogen hast.« Manchmal wünschte sie, ihre eigene Mutter – eine vom Pech verfolgte Frau ohne einen Funken Mitleid – könnte sie jetzt sehen.
Als ob er ihre Gedanken lesen könnte, sagte Clyle: »Nicht Samstag abend?«
»Ich weiß. Aber das beweist nichts.«
»Und es ist auch keine allzu großartige Verteidigung, dass er zu betrunken war, um sich an seinen Abstecher auf die Castle Farm zu erinnern.« Aber dann bekräftigte Clyle noch einmal: »Sie haben nichts gegen ihn in der Hand. Noch musst du dir keine Sorgen machen, Alma. Du hast Peck ja gehört. Hal hat sich am Samstagabend betrunken, und er hat versucht, ein Armband zu nehmen. Das beweist gar nichts.«
Draußen bummelte ein Opossum über die Auffahrt, ein rattengesichtiger Albino. Was machte das Tier am hellichten Tag dort draußen? Alma kannte die Gewohnheiten nachtaktiver Tiere gut genug, um zu wissen, wann ihr Verhalten verdächtig war. In vierzehn Jahren hatte sie gelernt, zwar nicht Gunthrum, aber doch die Farm zu lieben. Ihr gefielen die nüchterne Zweckmäßigkeit der Landwirtschaft und dass es immer etwas zu tun gab: Gemüse einmachen, Unkraut jäten, Blumen pflanzen, Clyle bei der Reparatur einer Schütte helfen.
Damals, als sie in der Nähe von Chicago ihr Praktikum gemacht hatte, half sie anderen Menschen tagaus, tagein dabei, Lösungen für ihre Probleme zu finden. Damals hörte sie oft, dass sie als Sozialarbeiterin bestimmt ein großes Herz habe, und sie antwortete dann immer: »Eher einen großen Verstand. Je kleiner das Herz, desto besser.« Erst nachdem sie das erste Baby verloren hatte – und danach das zweite und dritte –, verstand sie die Verzweiflung in den Gesichtern ihrer Klienten, ihre Sehnsucht nach jemandem, der ihnen die Richtung wies. Hier auf der Farm gab es immer eine Liste mit Dingen, die erledigt werden mussten und die sie jeden Abend, wenn sie ihren Kopf aufs Kissen bettete, in Gedanken durchging.
»Ich denke«, sagte Clyle, »wir sollten versuchen, ihn vom OK fernzuhalten, bis sie das Mädchen gefunden haben. Und er sollte vom Alkohol wegbleiben.« Hal hatte erst nach Tagen zugegeben, wer ihm das Donutfahren beigebracht hatte. Was immer man sonst über ihn sagen mochte, loyal war er. Es war Larry Burke gewesen, der diese Loyalität schon damals auf der Highschool ausgenutzt hatte.
»Ruf Herb an«, wiederholte sie. »Hör dir an, was er zu sagen hat.«
»Was ist mit seiner Mutter?«
»Herbs?«
»Du weißt, wen ich meine, Alma.«
Marta Bullard, Hals Mutter, war noch nichtsnutziger als die anderen Bewohner von Gunthrum. Es hieß, dass Hal bis zu einem Unfall in einem der Seen von Fremont Lakes ein ganz normaler Junge gewesen sei. Damals war er zwei Jahre alt. Er war zu tief ins Wasser gegangen, ohne schwimmen zu können. Sein Vater hatte seinerzeit im Gefängnis gesessen und seine Mutter mit ihrer üblichen Rum-Cola am Ufer. In der Notfallambulanz hatte man Marta erzählt, dass Hal eine Weile lang keinen Sauerstoff bekommen hatte – eine folgenschwere Weile, wie sich später herausstellte. Nach diesem Erlebnis war Hals Mutter trocken geworden, hatte den Weg zu Jesus gefunden und ein zweites Mal geheiratet, wobei sie sich die ganze Zeit einbildete, ihr einfältiger Sohn sei ein Zeichen Gottes und nicht so sehr ein Kind als eine Sühne. Sie hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn unter ihrer Fuchtel zu behalten. Statt ihn sein eigenes Leben führen zu lassen, sollte er sie ständig an ihre früheren Sünden erinnern. Sie war dagegen gewesen, dass er für die Costagans arbeitete, seinen Highschool-Abschluss machte und eine eigene Bleibe fand. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er immer an ihrer Seite bleiben müssen, damit sie eine Märtyrerin sein konnte. Als er zwanzig geworden war und die Highschool abgeschlossen hatte, half Alma ihm, seine erste Wohnung zu mieten – ein möbliertes Einzimmerapartment über einem Baumarkt mit einer Kochplatte und einer einsamen Zimmerpflanze. Schließlich war Marta in das drei Stunden entfernte Kearney gezogen und hatte zum dritten Mal geheiratet.
»Die rufen wir nicht an. Noch nicht. Hal hat schon genug Schwierigkeiten.«
»Sie hat das Recht, zu erfahren …«
Alma fiel ihm brüsk ins Wort. »Dieses Recht hat sie schon vor Jahren verwirkt.«
»Meinst du, es besteht die Möglichkeit, dass er …?« Sie schüttelte den Kopf, ehe er den Satz auch nur zu Ende gebracht hatte. »Ich auch nicht. War nur eine Frage.«