11

Milo stand vor Peggys Zimmer auf dem Flur, vom Nachmittagslicht angezogen. Zwei Jahre zuvor hatte sie ihn überredet, das Zimmer mit ihr zu tauschen, weil sie die Morgensonne an den Wochenenden nicht mochte. Weil er ein Trottel war und mehr oder weniger alles tun würde, worum sie ihn bat, und auch, weil er eher als sie ein Morgenmensch war, hatte er zugestimmt. Als sie ihre Sachen hin und her trugen, hatte sie ihm im Vorbeigehen einen Stups mit der Hüfte verpasst und »Danke, Mi« gesagt. In seinem jetzigen Zimmer war noch immer eine blasse Stelle auf der Tapete zu sehen, wo ihr Poster vom Eiffelturm gehangen hatte. Und neben dem Wandschrank war ein roter Klecks eingetrockneten Nagellacks auf dem Teppichboden. Das hatte ihn nie gestört. Ihm gefielen die Erinnerungen an seine Schwester, ihre Spuren in dem Zimmer.

Ihr jetziges Zimmer sah mehr oder weniger so aus, wie es immer ausgesehen hatte. Auf dem leuchtend gelbgrünen Teppichboden zeichneten sich die länglichen Rechtecke des Sonnenlichts ab, das durch die Fensterscheiben schien. Ihr Bett war immer noch auf dieselbe nachlässige Art gemacht, die ihm am Sonntagmorgen gezeigt hatte, dass Peggy nicht zu Hause geschlafen hatte. Als Milo jünger gewesen war, hatte er gern die Rätselkrimis im Gunthrum Pioneer gelöst. »Ein Mann wird tot in seinem Haus aufgefunden. Er hängt an einem Dachsparren, unter ihm eine Wasserlache, aber weder Stuhl noch Leiter. Die Türen und Fenster sind verschlossen.« Zwei seiner Lieblingsrätsel waren »Der Fall des auf frischer Tat ertappten Vandalen« und »Die verschwundenen Zehn-Cent-Stücke«. Später war er zu Raymond Chandler und Tony Hillerman aufgestiegen, aber deren Geschichten waren länger und verwirrender. Ihm gefiel die Leichtigkeit der Kurzkrimis, die nur eine Seite lang waren und ihm schon nach einer halben Seite ihre Lösung preisgaben. Der Mann stand auf einem Eisblock; der auswärtige Cousin hatte die Zehn-Cent-Stücke genommen.

An Peggys Pinnwand hingen die zwei Medaillen vom letzten Frühjahr, die ihre Mutter immer noch nicht an die Baseballjacke mit ihren Sportauszeichnungen genäht hatte. Neben dem Fenster lagen ein ausrangiertes T-Shirt, das sie am vergangenen Samstagnachmittag zu Hause getragen hatte, und eine graue Jogginghose. Er ging näher heran. In der Hose war eine verknäulte blassrosa Unterhose mit einem winzigen braunen Fleck im Schritt.

»Milo?«, sagte seine Mutter, und er stieß einen kleinen Schrei aus. »Was machst du hier?«

»Ich sehe mich nur um.«

Ihr Blick wurde weich. »Wir wollten dich nicht erschrecken. Laura ist hier und hat Peggys Hausaufgaben mitgebracht.« Laura hielt einen Schnellhefter gegen den Brustkorb gedrückt und winkte ihm zaghaft zu.

Laura war auch am Montag und Dienstag die elf Kilometer aus der Stadt hergefahren, mit einem Hefter voller Aufgaben für Peggy, auch wenn es leichter gewesen wäre, Milo den Hefter in die Hand zu drücken, als er nach der Schule zum Bus ging und sie zum Cheerleadertraining. Was wäre, wenn Peggy niemals mehr nach Hause käme? Ab welchem Zeitpunkt würde Laura nicht mehr kommen? Das war das Schwierige an der Hoffnung: Irgendwann ging sie zur Neige, und wäre das in gewisser Weise nicht sogar besser, als auf das dicke Ende zu warten? Letztes Jahr hatte er einen Test in Algebra I versemmelt, mit Pauken und Trompeten, und während des ganzen Wochenendes hatte er gedacht: Egal, wie mies die Zensur ist, nichts ist so schlimm wie die Ungewissheit. Als er montags mit einer Drei minus nach Hause kam, korrigierte er seine Meinung. Es gab Schlimmeres als Ungewissheit, und sosehr er auch wissen wollte, wo Peggy war und was ihr geschehen war, so war das vielleicht auch nur seiner Unfähigkeit geschuldet, an das Schlimmste zu glauben. Geschnappt? Weggelaufen? Ja, es gab Schlimmeres.

»Ich muss unten noch putzen«, sagte seine Mutter und ließ die beiden allein.

Laura strich mit einem Finger unter der Nase entlang und wischte ihn an ihrer Jeans ab. »Ist eklig, ich weiß, aber ich glaube, ich habe alle Papiertaschentücher der Welt aufgebraucht.«

Genau so würde Peggy es auch ausdrücken. Laura kam in Peggys Zimmer und berührte eines der Kopfkissen auf dem Doppelbett, wo sie Hunderte Male geschlafen hatte.

»Sieht irgendetwas anders aus als sonst?«, fragte Milo. Neben dem Wandschrank standen die Sportschuhe, die Peggy immer zum Volleyball trug. Der linke Schuh lag auf der Seite, und Milo konnte sich genau vorstellen, wie seine Schwester mit dem rechten Fuß auf die Ferse des linken trat, um den Schuh auszuziehen, und dann mit den besockten Zehen auf die Ferse des rechten. Leute, die glaubten, dass Mädchen nicht stanken, hatten keine ältere Schwester, die Volleyball spielte. Auf der gepolsterten Fensterbank lagen einige Taschenbücher, vermutlich von Stephen King oder aus der Sweet Valley High -Serie, die Peggy seit der Mittelstufe las und deren Einbände zwei furchtbar blonde Zwillinge zierten. Selbst die Unterwäsche, die in der Jogginghose seiner Schwester steckte, schien zu Antworten auf seine Fragen führen zu können.

Laura zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Sieht aus wie immer, denke ich.« Sie und Peggy waren fast ihr gesamtes Leben lang beste Freundinnen gewesen.

»Glaubst du wirklich, dass sie verschwunden ist?«, fragte er.

Laura sah ihn verwirrt an. »Du etwa nicht?«

Milo zuckte die Schultern. »Klingt doch irgendwie komisch. Jemand verschwindet einfach so. In Gunthrum passiert das normalerweise nicht.« Er sah Laura prüfend an. »In Gunthrum passiert überhaupt nie etwas. Vielleicht ist das ja genau das Problem.«

»Du meinst, sie könnte einfach abgehauen sein? Aber wohin?«

Milo zuckte wieder die Schultern. »Keine Ahnung. Lincoln? Paris? Wer weiß.«

Laura schüttelte schon den Kopf, während er noch sprach. »Das würde sie nicht tun, einfach so. Sie würde mir davon erzählen.«

»Na ja, mir hat sie es auch nicht gesagt.«

»Ja, aber du bist ihr kleiner Bruder. Ich bin ihre beste Freundin. Wir haben keine Geheimnisse voreinander.«

Milo sah Laura ungläubig an. »Denkst du das wirklich?«

Peggy hatte jede Menge Geheimnisse, und bei ihren nächtlichen Uno-Partien hatten sie nicht nur darüber gesprochen, wie sie diesen Saftladen aufmischen würden. Er wusste zum Beispiel, dass Peggy es überhaupt nicht ausstehen konnte, dass Laura drei Kilo weniger als sie wog. Sie hatte zwei Wochen lang ihr Abendessen erbrochen, bis Mom sie zum Arzt geschickt hatte, weil ihr Rachen so wund war. Er kannte Peggy besser als jeder andere. Er wusste, dass Peggy mit Kerry rumgemacht hatte, kurz nachdem Laura mit ihm zusammengekommen war. Sie hatte sich deshalb so mies gefühlt, dass sie Laura niemals ein Sterbenswörtchen davon erzählen konnte. Er wusste auch, dass Peggy einige Wochen vor ihrem Verschwinden einen Knutschfleck gehabt hatte. War der auch von Kerry gewesen?

»Natürlich nicht«, sagte Laura. »Sie würde nie gehen, ohne mir Bescheid zu geben. Tatsächlich …« Laura schloss die Tür, deren Unterkante wie immer über den grünen Flauschteppich strich. »… bin ich diejenige, die ein Geheimnis hat. Es geht um die Nacht.« Unnötig, die Nacht, die gemeint war, genau zu benennen. Sie hatte die Geschichte schon seinen Eltern, der Polizei und ihren eigenen Eltern erzählt.

Milo hielt den Atem an. »Was?«

»Weiß du noch, dass ich gesagt habe, Kerry hätte mich nach Hause gefahren?«

»Ja, und?«

»Das hat er wirklich. Aber dann ist er wohl zurückgefahren. Mir hat er gesagt, er würde noch ein bisschen durch die Gegend fahren, weil er erst um eins zu Hause sein musste, aber mehrere Footballspieler haben mir erzählt, dass sie ihn zusammen mit einigen älteren Leuten – Hal Bullard, Cheryl Burke, Tonya Gary – auf der Castle Farm gesehen haben und dass Peggy auch noch dort war. Du weißt ja, dass er immer auf Peggy gestanden hat.«

»Er hat auf Peggy gestanden?«

Sie verdrehte die Augen. »Ach, halt den Mund, Milo. Du weißt genau, was ich meine. Wir wissen es alle. Er ist verrückt nach ihr.« Laura war jetzt seit vier Monaten mit Kerry zusammen, und es war ein Jahr her, seit er nicht mehr mit Peggy zusammen war. Peggy selbst hatte Milo gesagt, dass Laura mit Kerry ging, aber dass es ihr egal sei. »Soll sie ihn haben. Ich schenke ihn ihr.« Aber ungefähr einen Monat später hatte sie betrunken auf der Castle Farm mit ihm herumgeknutscht. Wieso sich das nicht herumgesprochen hatte, wusste er nicht, aber irgendwie hatten sie es geschafft, die Sache geheim zu halten. Milo war der Einzige, dem sie es anvertraut hatte.

Es war interessant, die Dynamik zwischen den dreien zu beobachten – wie Peggy erst Kerry schlecht behandelt hatte und wie Kerry dann das Gleiche Laura angetan hatte. Milo hatte gehört, wie Laura weinte, weil Kerry zu ihren Verabredungen manchmal eine Stunde zu spät kam oder weil er ihr versprochen hatte, nach einem Spiel mit ihr zusammen auszugehen, um dann doch seinen Freunden den Vorzug zu geben.

Laura bekam feuchte Augen. »Er hat mit mir Schluss gemacht, kannst du dir das vorstellen? Er sagt, dass Peggy jetzt vermisst wird, würde ihn zu sehr aufwühlen. Und dass er immer noch auf sie stehen würde. Dachte er denn, das wüsste ich nicht? Das wissen doch alle!«

»Vielleicht mochte er sie noch, aber sie wollte nicht wieder mit ihm zusammen sein. Das würde sie dir nicht antun.« Seine Schwester war eine echte Landplage, und vielleicht hatte sie sich vergessen und Kerry geküsst, aber alles in allem war sie eine treue Seele. Sie ließ ihn zwar jeden Morgen nach dem Zähneputzen in die Toilette spucken, aber als er sich als Zweitklässler einmal nach der Schule den Kopf in einem Fahrradständer eingeklemmt hatte – und sich alle Kinder lachend um ihn scharten, während die Schulbusbegleiterin nach dem Hausmeister suchte –, da hatte Peggy neben dem Fahrradständer gestanden und die anderen Kinder verscheucht. Er erinnerte sich nicht mehr daran, wie das Ganze passiert war oder was um Himmels willen er überhaupt zu erreichen versucht hatte, indem er den Kopf durch den Fahrradständer steckte, aber er konnte immer noch das klaustrophobische Gefühl spüren, als sein Hals zwischen den Metallstäben anschwoll, und er wusste, dass die Hand seiner Schwester auf seinem verschwitzten Rücken das Einzige war, das ihn beruhigt hatte.

»Ich weiß nicht«, sagte Laura, »vielleicht hat er ihr ja was angetan? Weil er sie angemacht hat und sie ihn hat abblitzen lassen? Eines kann ich dir nämlich verraten: Mit irgendjemandem ist Peggy ausgegangen, und ich wette, dass Kerry deswegen völlig fertig war.« Laura saß auf dem Bett und nahm eines der Zierkissen – mit einem grün-gelben, altmodischen Muster, das seine Mutter gehäkelt hatte – und legte es sich auf den Schoß.

Milo dachte daran, wie seine Mutter Peck gesagt hatte, dass seine Schwester nicht der Typ für das Alleinsein sei. Milo bezweifelte allerdings, dass Kerry dabei noch eine Rolle spielte. Peggy hatte ihn einmal als »übergroßes Kleinkind« bezeichnet. »Ich wechsle keine Windeln mehr«, hatte sie gesagt. Milo bekam ein enges Gefühl im Brustraum. All die Abende, an denen er geglaubt hatte, dass sie einander nahestanden, fast Freunde seien, vielleicht hatten sie ihr ja gar nichts bedeutet. Vielleicht hatte sie da nur seine Windeln gewechselt? »Aber mit wem?«

Laura zuckte die Schultern. »Das hat sie mir nicht gesagt.«

»Und woher willst du dann wissen, dass sie sich mit jemandem getroffen hat?«

»Das war nicht schwierig herauszufinden. Sie war total unaufmerksam. Sie hat sich beim Cheerleading keinen Pferdeschwanz gebunden. Wenn ich am Wochenende abends nicht mit Kerry verabredet war, behauptete Peggy manchmal, sie wolle einfach zu Hause bleiben. Aber wer macht denn so was? Vielleicht ist sie ja mit ihm ausgegangen.« Aber Peggy war tatsächlich an einigen Wochenenden abends zu Hause geblieben. Eines Samstagabends, als sie im Haus rumgammelte, hatte sie eine Jeans und einen Pullover anstelle des Jogginganzugs angehabt, den sie in der Stadt normalerweise trug. Ihre Mutter hatte sie geneckt und gesagt, sie wolle wohl einen auf vornehm machen. Milo hatte vermutet, sie würde für ihre niveauvollere Zukunft üben – er bezweifelte, dass man in der Großstadt einen Jogginganzug trug –, aber vielleicht hatte mehr dahintergesteckt, und sie hatte sich an manchen Abenden fortgeschlichen, ohne dass er es bemerkt hatte. Vielleicht hatte er die ganze Zeit wichtige Hinweise übersehen.

»Aber hatte sie Kerry nicht abserviert?«, fragte Milo. »Warum sollte sie ihn zurückhaben wollen?«

»Weil ich ihn wollte?« Laura legte das Kissen zurück in seine Ecke, und Milo musste ihr zugutehalten, dass sie nicht so dumm war, wie sie tat. »Und ich weiß auch nicht, ob es Kerry war. Dieser Erwachsenenkram ist kompliziert. Sie würde mich im Leben nicht verletzen. Einerseits. Andererseits aber doch. Verstehst du?«

»Ich weiß nicht.«

»Du weißt es nicht, weil du zwölf bist.«

Milo hasste es, wenn die Leute sein Alter als Entschuldigung benutzten. Das war, als ob jemand »Du bist ein Junge« sagte oder »Du kommst aus dem ländlichen Nebraska«. Damit war überhaupt nichts erklärt. »Hat Kerry zu Sheriff Randolph gesagt, dass er auf der Castle Farm war?«

»Das hat er bestimmt – ich hab’s auch –, aber die Frage ist doch: Hat er ihm gesagt, dass er nach Mitternacht dort war?«

»Warum fragst du ihn nicht?«

»Ich kann ihn nicht einfach fragen«, schnaubte Laura. »Was wäre, wenn er wirklich etwas Schlimmes getan hätte und dann versucht, auch mir etwas anzutun?«

Milo ging ein schauerlicher Gedanke durch den Kopf, aber er sprach ihn nicht aus: Wenn er ihr etwas angetan hatte, was hatte er danach mit ihr gemacht? Die Möglichkeiten ließen ihn schwindeln. Er fröstelte. Dies war kein Rätselkrimi. Hier ging es um seine Schwester.

Laura legte den Hefter mit den Hausaufgaben, die sie mitgebracht hatte, auf Peggys Schreibtisch zu den beiden anderen Heftern vom Montag und Dienstag. »Du, ich muss jetzt los.«

»Klar, geht in Ordnung«, sagte er, und sie stupste ihn auf die Nase – war er jetzt wieder sechs, oder was? – und sagte, sie würden sich abends bei der Versammlung sehen. Sheriff Randolph hatte eine Bürgerversammlung einberufen, auf der Peggys Verschwinden besprochen werden sollte, und der Detektiv, den sein Vater angestellt hatte, würde ihn dorthin begleiten.

»Wie kannst du glauben, dass dein Freund so etwas tun würde?«, fragte er, und Laura zuckte die Schultern.

»Ich wollte sowieso Schluss mit ihm machen.«