Samstagmittag fuhren sie zu Hal, schweigend. Alma hatte sich in eine viel zu enge Strumpfhose gezwängt, die Speckrolle um ihre Taille wurde durch den Bund in zwei Teile gespalten, und die Haare auf ihren Beinen sträubten sich gegen das Nylon. Eine Strumpfhose an einem Samstag. Warum reichte es bei Männern eigentlich aus, einfach nur in ein Paar Hosen zu schlüpfen, egal für welchen Anlass?
»Wetten, sie kommt zu spät?«, sagte sie schließlich, um das erdrückende Schweigen im Pick-up zu brechen. Damit meinte sie Marta, Hals Mutter, mit der sie sich bei ihm zum Mittagessen treffen wollten.
»Sie hat ja auch weiter zu fahren«, gab Clyle zu bedenken, und Alma schnaubte.
»Wahrscheinlich verfährt sie sich auch noch. War schon seit drei Jahren nicht mehr hier.«
Clyle lenkte den Pick-up in Hals Auffahrt und parkte vor der schon reichlich mitgenommenen Garage. Die Hand ließ er noch kurz am Zündschlüssel liegen. »Jetzt hör mal zu, Alma. Ich möchte, dass du dich wenigstens halbwegs zivilisiert verhältst.«
»So tief setzen wir die Messlatte also mittlerweile?«
»Du weißt genau, was ich meine. Sie ist seine Mutter, und ich glaube wirklich, dass sie kommt, um zu helfen.«
»Was für eine Hilfe soll das sein? Vielleicht will sie ihm ja dabei helfen, sich in eine Anstalt einweisen zu lassen? Oder ihn zu Gott bekehren? Oder will sie ihn lieber bei sich zu Hause in ein Hinterzimmer sperren, und ab und zu lässt sie ihn mal zum Spazierengehen raus?«
»Alles klar.« Clyle machte die Fahrertür auf. Hinter der Garage hörte man Peanutbutter und Jelly blöken. »Du machst ja sowieso, was du willst.«
»Da hast du verdammt recht«, sagte Alma, doch in Wahrheit hätte sie sich gewünscht, dass sie beide auf derselben Seite stünden, nämlich auf ihrer.
An der Tür läuteten sie, statt einfach hineinzugehen. Hal machte ihnen nur einen Augenblick später auf, in den Bund seiner Hose hatte er ein Geschirrhandtuch gesteckt. »Meine Mom ist noch nicht da, aber ihr könnt euch schon mal an den Küchentisch setzen. Ich mach uns heute ein Abendessen zu Mittag. Spaghetti.«
Hal beherrschte ein begrenztes Repertoire an Mahlzeiten, von denen er sich abwechselnd ernährte – Spaghetti, Hackbraten, gebackene Schweinekoteletts, Fischstäbchen, Makkaroni mit Käse –, dazu Gerichte, die Alma für ihn zubereitet und eingefroren hatte. Mittags aß er unter der Woche immer, was Alma gekocht hatte, und an den Wochenenden Schinkenbrote. Als er in seine eigene Wohnung gezogen war, hatte Alma sich die Zeit genommen, einen Speiseplan, den Einkaufszettel und einen Haushaltsplan mit ihm aufzustellen. Die ersten paar Male hatte sie ihn zum Einkaufen begleitet, bis er ein Gefühl für die Mengen bekommen hatte, die man braucht, und dafür, wie man eine frische Paprika auswählt. Wo war seine Mutter damals gewesen?
»Eins meiner Lieblingsessen«, sagte sie, nicht ohne die schmutzigen Töpfe in der Küche zu bemerken, den mit roter Soße bekleckerten Herd. In der Luft hing immer noch der Geruch nach Bleichmittel. Alma hatte es einfach nicht lassen können; kaum war Clyle mit Milo und dessen Cousin zu dem Freundschaftsspiel losgefahren, war sie auch schon unterwegs zu Hal gewesen, um ihm beim Putzen zu helfen. Marta sollte keinesfalls hier aufkreuzen und Gründe für ihre Zweifel finden, dass Hal gut allein zurechtkam.
»Ist auch das Lieblingsessen von meiner Mom.« An diese Erinnerungen klammerte er sich wie an Falschgold.
»Brauchst du Hilfe?«, fragte Alma, und Hal verneinte; er wolle alles selbst machen.
Alma hob die Hände – ich will mich ja nicht aufdrängen – und begutachtete den gedeckten Tisch, auf dem eine vom Sommer übrig gebliebene Wachstuchdecke mit Stars-and-Stripes-Muster lag. Noch gestern Abend hatte sie hier auf dem Küchenboden gekniet und sich vergewissert, dass keine Blutspritzer an den Sperrholzwänden klebten, keine Spuren. Als sie in der Ecke neben der Speisekammer plötzlich ein Büschel blonden Haars entdeckt hatte, hämmerte ihr das Herz bis zum Hals, doch als sie es näher in Augenschein nahm, entpuppte es sich als Stroh von einem Besen, dem, den sie selbst im Supermarkt für Hal besorgt hatte. Sie musste damit aufhören. Es gab keine Leiche; es gab keinen Beweis. Sie musste an seine Unschuld glauben.
Im Wohnzimmer lag das Fernsehprogramm rechtwinklig zu den Untersetzern auf dem Couchtisch, die Sofakissen standen stramm wie Soldaten. Im Schlafzimmer hatte Hal sorgfältig das Bett gemacht, auch wenn es immer noch unordentlich aussah, die Steppdecke hatte bereits wieder einen Zipfel in Richtung Fußboden geschoben.
Alma dachte an das Geld hinter der Büchse mit dem Mehl. Vielleicht war es in der Butterdose ja doch nicht so sicher verstaut, wie sie glaubte, vielleicht fänden sie und Clyle bei der Heimkehr die Banknoten in der ganzen Küche verstreut vor, wie im Märchen, worauf sie wohl einiges zu erklären hätte. Allerdings hatte Clyle selbst auch eine ganze Menge zu erklären. Freitagmorgen, nach diesen beiden komischen Anrufen, war sie ihm nachgefahren, und tatsächlich: Diane war zu ihm in den Pick-up gestiegen. Hielt er Alma wirklich für so dumm? Glaubte er wirklich, sie hätte dieses Zeichen nicht schon längst herausbekommen?
Sie hatte Clyles Pick-up ohne Probleme auf der Hauptstraße entdeckt, einen Block vom Futtermittellager entfernt geparkt und sich dann herangeschlichen, als wäre sie diejenige, die etwas zu verbergen hätte. Sie hatte beobachtet, wie Diane zu Clyle eingestiegen war und sich zu ihm hinübergebeugt hatte, um ihn auf die Wange zu küssen. Hatte die Affäre in den vergangenen sieben Jahren etwa weiterbestanden, oder war sie erst vor Kurzem wieder aufgeflammt? Der Gedanke daran, wie lange sie nun schon zum Narren gehalten wurde, erschöpfte Alma. Sie hatte Jahre gebraucht, um sich einen Panzer gegen den alten Verrat anzulegen, und was tat Clyle? Er brach ihn wieder auf. Alma atmete tief durch. Sie handelte richtig.
Draußen knirschte der Kies unter den Reifen eines Wagens, und hinter Clyles Pick-up kam ein rostiger Plymouth Horizon zum Stehen. Hinterm Steuer saß Hals Mutter, eine Zigarette rauchend, bei geschlossenen Fenstern.
»Ich bin aufgeregt«, sagte Hal in der Küche.
»Wie lange hast du sie jetzt schon nicht mehr gesehen?«, fragte Clyle.
»Ein Jahr, glaube ich, oder zwei?«
»Drei Jahre«, sagte Alma, ihr Gesicht versteinerte. »Drei Jahre, dabei wohnt sie nur drei Stunden von hier.«
»Vor einer Weile sind wir ihr im Baumarkt über den Weg gelaufen«, sagte Hal. »Weißt du noch, Clyle?«
»Sicher«, erwiderte Clyle. Er hatte Alma davon erzählt, wie unangenehm es gewesen war, Höflichkeiten auszutauschen und dann jeder wieder seines Wegs zu gehen. Sie sahen zu, wie Marta aus dem Wagen stieg; aus der Autotür kroch erst ein Fuß auf den Kies, dann der zweite. Es musste fünf Jahre her sein, dass Alma ihr zuletzt begegnet war, doch jetzt, beim Anblick von Marta, kam es ihr viel länger vor. Marta hatte nach Art so mancher Frauen zugenommen, war pummeliger geworden, und Alma bemerkte, wie viel Mühe es sie kostete, ihren Körper aus dem Fahrersitz zu schälen. Marta griff noch einmal in den Wagen und zog einen hölzernen Gehstock mit Gummifuß heraus, bevor sie mit verkniffener Miene aufblickte. Im Gehen stützte sie ihr Gewicht auf den Stock.
»Tja, dann übernehme ich jetzt wohl mal«, sagte Alma, hievte ihr eigenes Gewicht zur Tür und machte auf.
Marta tat einen weiteren schweren Schritt. »Na, so was, hallöchen aber auch. Und ich dachte, wenn ich hochschaue, sehe ich Hal.«
»Da ist er.« Alma trat beiseite, und Hal winkte schüchtern in Richtung Tür.
Marta blieb stehen, eine Hand auf der Brust. Sie wandte sich an Alma. »Das ist jedes Mal so ein Schreck. Man glaubt, sie bleiben für immer kleine Jungs.« Dann drehte sie sich wieder um zu Hal. »Du bist ja ein richtiger Schrank.«
»Bin ich nicht«, sagte er, und Marta lachte.
»Ein sprechender Schrank!«
»Das ist nur so eine Redensart«, erklärte Alma Hal. »Jemand ist groß wie ein Schrank.«
Genervt blickte Hal sie an. »Das weiß ich doch.« Wie wechselhaft er in seiner Treue doch sein konnte. Jetzt beugte er sich hinunter, um seine Mutter zu umarmen, sie in seinen riesigen Armen zu begraben. Ihr flaumiger Schopf reichte ihm gerade ans Brustbein. »Ich hab gekocht. Spaghetti. Ich weiß ja, dass du die magst.«
»Und wie.« Marta kam schließlich herein, blickte sich im Wohnzimmer ihres Sohnes um und legte ihren Mantel aufs Sofa. »Hübsch hier«, sagte sie, und dann, an Alma gewandt: »Du hilfst ihm, alles picobello zu halten?«
»Nein. Das schafft Hal ganz alleine.« Größtenteils jedenfalls, abgesehen von den Sonntagen, an denen sie mit ein paar Mahlzeiten für die Tiefkühltruhe vorbeikam und sich vielleicht einmal davon überzeugte, dass er die Toilette geputzt und seine Bettwäsche gewaschen hatte. Und natürlich war sie auch gestern Abend hier gewesen, auf allen vieren, mit einem Putzlappen in den Händen.
»Sehr hübsch hier, Hally. Wirklich sehr hübsch.« Sie wackelte zum Tisch und legte eine zittrige Hand auf die Rückenlehne eines Stuhls, dann machte sie es sich gemütlich und lehnte den Stock gegen die Wand. Sie zeigte in Richtung Küche, über die halbhohe Theke hinweg, vor die Hal zwei Barhocker gestellt hatte und wo er immer zum Frühstücken saß. Die Hocker hatte Alma mit Hal gekauft, der verwirrt gewesen war, dass er zwei kaufen sollte, wo er doch immer nur auf einem zur selben Zeit sitzen konnte. Es hatte Alma fast das Herz gebrochen, dass er sich keine zweite Person mit einer Schale Müsli dort hatte vorstellen können.
»Wie ich sehe, hast du die beiden Geschirrtücher bekommen, die ich dir vor einer Weile geschickt habe«, sagte Marta, und Hal berichtete, wie gut sie ihm gefielen, wie praktisch sie seien, wenn er was verschüttet habe, was er aufwischen müsse, und Alma musste an sich halten, um nicht die Augen zu verdrehen. Sie tauschten noch ein paar Höflichkeitsfloskeln, dann setzte Hal die Nudeln auf, gab Salz ins kochende Wasser und blieb beim Topf in der Küche.
»Tja«, meinte Clyle und verstummte.
»Tja«, wiederholte Alma. Sie wandte sich an Marta und fragte, was sie eigentlich die vergangenen drei Jahre so getrieben habe. Marta fing an, sich über die Buchhaltung ihres Mannes auszulassen, ihre ehrenamtliche Tätigkeit in der Kirche, wo er Diakon war, die jüngsten Prognosen für ihre Hüfte, die gar nicht gut aussahen. »Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob die Ärzte pro Stunde oder pro Wort bezahlt werden, wenn sie einem immer ein Kotelett ans Ohr quatschen, was für Optionen man noch hätte, wo es doch kaum noch eine Option gibt: alles nur verschiedene Versionen der immer gleichen schlechten Nachricht. Ich gebe mich in Gottes Hände«, schloss sie mit mattem Lächeln.
»Und, wie ist er so?«, fragte Alma, doch Marta schenkte ihr keine Beachtung.
Der Küchenwecker rasselte, und Hal – außer Hörweite – goss die Nudeln in einem Sieb ab. »Er sieht müde aus«, meinte Marta, und Alma richtete sich kerzengerade auf.
»Natürlich sieht er müde aus. Welcher Erwachsene in Amerika tut das nicht? Um sechs Uhr früh aufstehen und den Haushalt erledigen, pünktlich um acht zur Arbeit. Er folgt dem gleichen Tagesablauf wie alle anderen.«
»Gibt’s schon was Neues wegen seiner Verhaftung?« Marta schüttelte den Kopf. »Ich kann’s kaum glauben, dass er immer noch frei rumläuft.«
Clyle hob die Hand, um Alma von einer Antwort abzuhalten. »Das Mädchen wird lediglich vermisst, und dafür, dass Hal überhaupt etwas damit zu tun hätte, liegen keinerlei Beweise vor. Im Moment ist er so unschuldig wie du und ich.«
Marta zog ihr Zigarettenetui aus der Handtasche. »Bist du dir da sicher?«
»Ja, wir sind uns sicher.« Clyle ließ eine Hand auf Almas Schulter fallen, und ihr Gewicht fühlte sich zuverlässig und vertraut an, allerdings auch wie eine ferne Erinnerung. War es wirklich schon so lange her, dass sie zuletzt auf derselben Seite gestanden hatten?
Marta starrte eine Weile auf Clyles Hand, lehnte sich dann zurück und zündete sich eine Zigarette an. »Tja, sein Dad, wisst ihr«, sagte sie und stieß eine dichte Rauchwolke aus.
»Hal ist nicht sein Vater«, betonte Alma.
Marta beugte sich über den Küchentisch, weil Hal jetzt die Teller aus der Anrichte holte. »Ich mein ja nur, jeder, der blutsverwandt ist mit Wayne Bullard, ist genetisch ganz schön vorbelastet.«
Wayne Bullard hatte getrunken – was an und für sich in Gunthrum schwerlich als Verbrechen gelten konnte –, aber er war auch ein gewalttätiger Rohling gewesen. Mehr als einmal war Hal mit einem blauen Auge in den Schulbus gestiegen oder vor Schmerz zusammengezuckt, wenn er sich den Rucksack aufschnallte. Dann, ein paar Jahre nach Almas und Clyles Umzug nach Gunthrum, ein Jahr, nachdem sie das fünfte Kind verloren hatte, war Wayne wegen fahrlässiger Tötung verhaftet worden. Er hatte noch eins draufgelegt auf die übliche schwere Körperverletzung, die er sonst so betrieb, und eines Spätnachmittags, die Sonne in den Augen, einen anderen Besoffenen mit dem Auto niedergemäht, immerhin noch schlau genug, um heimzulaufen und auszunüchtern, sodass sie ihn nicht auch noch wegen Trunkenheit am Steuer drankriegen konnten. Er wurde zu sechzehn Monaten verurteilt, von denen er zwölf absaß, nur um bei seiner Entlassung ein besseres Leben vorzufinden als bei der Verhaftung: Seine Frau hatte die Scheidung eingereicht und behielt den zurückgebliebenen Sohn, und er war ein freier Mann und konnte tun und lassen, was er wollte.
An dem Tag, an dem Wayne verhaftet wurde, hatte Marta Alma angerufen, die gerade zwischen zwei Bustouren zu Hause war, und erklärt, dass sie möglicherweise nicht da wäre, wenn Hal heimkäme, und ob Alma nach ihrer letzten Tour nicht ein Weilchen auf ihn aufpassen könne? Alma gab ihr zu verstehen, dass das nicht zu ihrem Job gehörte, und Marta sagte, es sei Almas Entscheidung, aber wenn nicht, wäre Hal eben allein zu Hause. Also hatte Alma Hal mitgenommen, und sie spielten Quartett, bis es Zeit fürs Abendessen war. Mehrfach hatte sie bei den Bullards angerufen, aber Marta war nicht ans Telefon gegangen, und Alma wusste, wenn das noch länger so weiterging, wäre die einzig vernünftige Reaktion, die Polizei zu informieren. Warum hatte sie das nicht gemacht? Die Antwort lag auf der Hand. Das hatte sie Hal nicht antun wollen. Marta kam am nächsten Morgen, einem Samstag; Hal trug ein Paar zu kurzer Jogginghosen, die Clyle ihm geborgt hatte.
Und jetzt saß Marta in Hals Küche und klopfte ihre Zigarette am Aschenbecher ab. Hal selbst rauchte nicht – eins der wenigen Laster, die er tatsächlich hatte vermeiden können –, und der Geruch nach Rauch in seiner Wohnung drehte Alma den Magen um. »Clyle hat dich mit der Bitte um Unterstützung angerufen«, stellte sie klar. »Clyle, nicht ich, aber du kannst mir glauben, dass er es Hal zuliebe getan hat, damit du ihm hilfst, und nicht, damit du hier rumfaselst von wegen, er wäre schuldig.«
»Es ist, wie ich es dieser Reporterin gestern schon gesagt habe«, fuhr Marta fort, als hätte sie Alma gar nicht gehört. »Ich liebe meinen Sohn von ganzem Herzen, aber er ist nun mal, was er ist.«
Alma warf einen Blick auf Clyle, der blass geworden war. Auch er hatte einen Anruf von der Reporterin bekommen, als Alma gerade in der Stadt war, und sie ebenfalls abgewimmelt. Zumindest so weit bestand Einigkeit. »Du hast mit ihr gesprochen ?«
»Sie hat Freitag bei mir angerufen und gesagt, sie hätte erfahren, dass mein Sohn verdächtigt und mit dem Verschwinden der Kleinen in Zusammenhang gebracht würde, und sie würde sich fragen, was ich darüber denke. Meinte, sie will am Sonntag einen Artikel darüber rausbringen.«
»Was hast du ihr alles erzählt?«
Marta lehnte sich wieder zurück und sog begierig an ihrer Zigarette, in ihren Wangen bildeten sich tiefe Kuhlen. »Sie wollte wissen, was ich darüber denke, und das habe ich ihr gesagt. Ich hab ihr gesagt, dass Hal meiner Meinung nach mehr seinem Dad gleicht als mir, immer schon. Dass ich keine Ahnung hab, ob er was mit dem Verschwinden dieses Mädchens zu tun hat – nachdem er bei mir ausgezogen ist, gibt er sich keine große Mühe mehr, sich bei mir zu melden, obwohl ich tue, was ich kann –, und dass ich einfach hoffen muss, dass nicht, aber dass es da so einige Vorfälle gab, die mich zweifeln lassen.«
»Welche denn?«, fragte Alma, bereit, jede Rechtfertigung, die Marta ihnen auftischen würde, sofort abzuschmettern.
»Na ja, da ist natürlich zunächst mal sein Dad, dieser Nichtsnutz, aber auch dieser Vorfall an der Highschool.«
Alma hob einen Finger. »Du weißt genau, dass das nicht seine Schuld war.«
Hal stand im Türrahmen. »Was war nicht meine Schuld?«
»Damals auf der …«, begann Marta.
»Nichts Wichtiges.« Alma zwang sich zu einem Lächeln. »Alles fertig? Brauchst du Hilfe?«
Bei dem Vorfall, den Marta angesprochen hatte, handelte es sich um jene Schlägerei auf der Highschool, als Cheryl, Larrys damalige Freundin, erzählt hatte, einer von den Jungs aus Wayne sei nach einem Basketballspiel zu ihr gekommen und habe versucht, ihr die Hand unters Cheerleaderröckchen zu stecken. Larry und Sam und noch ein paar andere Jungs überzeugten Hal davon, dass man dem Burschen eine Lektion erteilen müsse. Hal schloss sich ihnen an, und als die Frage aufkam, wer als Erster zuschlagen solle, rannte er voraus, kopflos vor Aufregung. Alma war außer sich gewesen vor Wut, doch Hal hatte darauf bestanden, dass sie ihn nicht dazu verleitet hätten, dass er einfach einer von den Jungs sei. »Er hat es selbst gewollt!«, hatte Larry ihr gesagt, aber was wusste Hal schon darüber, was er wollte?
Ein oder zwei Tage danach kam heraus, dass Cheryl das Ganze nur erfunden hatte, aber da war der Schaden schon geschehen. Die Polizei war im Krankenhaus aufgetaucht, und da Hal schon fast zwanzig war, wollten sie ihn nach dem Erwachsenenstrafrecht anklagen; Hal hatte dem Jungen das Schlüsselbein gebrochen. Als die Eltern des Jungen herausbekamen, dass Hal war, was er nun mal war, ließen sie die Anzeige fallen, doch das war der Tropfen gewesen, der das Fass bei Marta zum Überlaufen gebracht hatte. Im Sommer nach Hals Schulabschluss tat sie sich mit Ehemann Nummer zwei zusammen und ließ ihren Sohn in Clyles und Almas Obhut zurück. Damals hatte er schon eine Zeit lang an den Wochenenden bei ihnen gearbeitet, nachdem sein Vater aus dem Gefängnis entlassen worden war und sich auf den Weg ins gelobte Land im Westen gemacht hatte. Alma und Clyle hatten sich besprochen und ausgerechnet, dass sie es sich, wenn sie den Gürtel etwas enger schnallten, leisten konnten, Hal in Vollzeit zu beschäftigen.
»Bin fertig.« Hal stellte die Schüssel mit den dampfenden Spaghetti und der bereits daruntergemischten Soße auf den Tisch. Er verteilte Papierservietten und Besteck – jeder ein Messer, eine Gabel – und setzte sich.
Marta drückte die Zigarette im Aschenbecher neben sich aus. »Sieht köstlich aus, Schätzchen«, sagte sie, und Hal strahlte. Sie bestand darauf, ein Tischgebet zu sprechen, und ließ es sich nicht nehmen, sie ohne Ausnahme reihum zu segnen. Danach legte sie eine Hand auf die von Hal. »Du warst schon immer ein guter Junge. Ich weiß, dass du dein Bestes gibst.«
»Danke, Mom.«
Sie drückte ihm die Hand. »Aber du musst mir die Wahrheit sagen, Hally. Hast du diesem Mädchen etwas angetan?«
»Darauf musst du nicht antworten, Hal«, warnte Alma. Auf einmal hatte sie Angst vor dem, was er sagen könnte.
Verwirrt blickte Hal zuerst zu seiner Mutter und danach hinüber zu Clyle und Alma. »Nein, Ma’am. Ich glaube nicht.«
Clyle faltete seine Serviette auseinander und legte sie sich auf den Schoß. »Das reicht, Marta.«
»Was meinst du damit?«, bohrte Marta nach.
»Was meinst du damit, was ich damit meine?« Hals Lippen fingen zu zittern an. »Glaubst du wirklich, ich würde was Schlechtes tun?« Alma wollte sie beide am liebsten zum Schweigen bringen, war jedoch wie erstarrt.
»Immerhin hast du schon einmal was Schlimmes getan.« Wieder drückte Marta Hal die Hand. »An der Highschool, erinnerst du dich?«
»Das war keine Absicht!«
»Und diesmal ja vielleicht auch nicht.«
Hal schob seinen Stuhl zurück. »Das war nicht meine Schuld!« Er blickte über den Tisch. »Ihr glaubt mir doch, oder?«
»Aber natürlich glauben wir dir«, sagte Alma, wie aus einer Trance erwacht. »Natürlich.« Großer Gott, Hal war alles, was ihr noch blieb, wenn Clyle wirklich zu Diane zurückgekehrt war. Wie lang war es her, dass Hal mit einer Kette aus Makkaroni hinter dem Rücken auf der Trittstufe ihres Busses gestanden hatte, oder war es ein Kartenspiel gewesen, in dem nur drei Karten fehlten? »Da!«, hatte er gesagt. »Lass uns Freunde sein.« Er war alles an Familie, was sie zustande gebracht hatte.
»Hally, das ist zu viel für dich«, sagte Marta. »Das sehe ich doch. Du musst das mit Gott klären, und mit der Polizei.«
»Du musst diese Reporterin unbedingt zurückrufen«, unterbrach Alma sie. »Und ihr sagen, dass du dich geirrt hast. Hal ist an überhaupt nichts schuld. Zu diesem Zeitpunkt würde selbst Sheriff Randolph das so sagen.«
»Ich muss gar nichts tun«, antwortete Marta. »Ich weiß selbst, was ich zu erzählen habe.«
»Was für eine Reporterin?«, fragte Hal.
»Nicht wichtig«, erwiderte Clyle.
»Hally«, sagte Marta. »Mein Herzblatt, sieh mich an.« Hal drehte seiner Mutter das Gesicht zu, auf dem Kinn ein Spritzer Spaghettisoße, die Augen glasig. »Hal, ich glaube einfach, das ist zu viel für dich, Schätzchen, hier so ganz auf dich allein gestellt. Du sollst wissen, dass ich nach anderen Möglichkeiten für dich suche. Nach einem Ort, wo du sicherer bist.« Kurz fragte Alma sich, ob sie und Marta am Ende womöglich doch auf derselben Seite standen – Hal sollte aus Gunthrum verschwinden, weit weg von allem Übel, das bald über sie hereinbrechen würde. »Da gibt es ein Haus in Lincoln, eine regionale Einrichtung, wo du mit Leuten wie dir zusammen wohnen und für dich selbst sorgen könntest.«
Alma schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Du willst dein eigenes Kind einsperren?« Sie musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um ihre Gabel nicht in Martas fleischigen Arm zu rammen. »Er ist kein Verrückter!«
»Ich sag ja nur, dass ich mit dem Direktor über Hal gesprochen habe, und sie hätten einen Platz für ihn. Dort weiß man, wie man mit solchen Menschen umgeht.«
»Was für Menschen?«, fragte Hal.
»Besonderen Menschen«, sagte Marta, doch Hal runzelte die Stirn, er wusste, dass sie nicht gut-besonders meinte.
»Und das willst dann du bezahlen?«, fragte Alma. »Kostet bestimmt ’ne schöne Stange Geld.«
Marta reckte das Kinn. »Eugene hat etwas Geld aus einem Zahlungsausgleich.« Eugene war ihr dritter Mann.
Clyle legte Alma wieder die Hand auf die Schulter. »Wir sollten nichts überstürzen, Marta. Du sprichst davon, den Jungen zu entwurzeln – den Mann, Entschuldigung –, ihn aus einem Leben zu reißen, das er sich selbst aufgebaut hat und kennt, und das alles wegen einer Sache, mit der er vermutlich gar nichts zu tun hat.«
»Vermutlich«, wiederholte Marta und zeigte mit der Spitze ihrer Zigarette auf ihn. »Selbst du hast deine Zweifel.«
Clyle stand auf. »Ich denke, wir sind fertig mit dem, was wir hier und heute besprechen wollten. Vielen Dank, Marta, dass du dir die Zeit genommen hast. Hal und ich bringen dich nach draußen.«
Marta nickte knapp, warf ihre Gabel auf den Teller und stand ebenfalls auf, wobei sie die gerade erst angezündete Zigarette im Aschenbecher ausdrückte.
Alma beugte sich zu Marta hinüber, damit Hal sie nicht hören konnte, und zischte ihr zu: »Du bist eine schreckliche Mutter.«
Marta steckte das Feuerzeug vorn in ihr kariertes Zigarettenetui, stopfte das weiche Päckchen Merits ins Hauptfach und klappte die Metalldose zu. »Woher willst du denn wissen, was es heißt, Mutter zu sein?«
Alma wischte mit dem Schwamm über die Küchenarbeitsplatte. Überall klebte Spaghettisoße, an der Dunstabzugshaube über dem Herd, unter den Töpfen, getrocknete Spritzer auf dem Fett, das bereits den Küchenwecker überzog. Das würde sie noch sauber machen, dann das Geschirr spülen, abtrocknen und wegräumen. Während Clyle Marta zu ihrem Wagen begleitete, eine Hand als Stütze unter ihrem Ellbogen, knüllte Alma das Geschirrtuch – das von Marta – zusammen und stopfte es unter das Soßenglas in den Müll. Du lieber Himmel, er war ja wirklich ein guter Mann, in so vieler Hinsicht, aber sofort sah sie wieder Diane vor ihrem inneren Auge, die sich zu ihm hinüberbeugte und ihm einen Kuss auf die wettergegerbte Wange gab.
Nachdem Clyle Marta in ihren Wagen gesetzt hatte, verlangte sie von ihm, ihren Sohn noch einmal herauszurufen, als würde sie ihm eine Audienz bei der Queen gewähren. Clyle rief Hal, und der beugte sich hinab und steckte den Kopf durchs Autofenster, worauf Marta sein Gesicht mit beiden Händen packte und näher zu sich heranzog, um ihn auf die Stirn zu küssen.
Als sie losgefahren war, gingen Hal und Clyle zu den Schafen – der Schwimmer in der Tränke musste ausgetauscht werden –, und Alma beobachtete Clyle, der sich in seiner guten Cordsamthose hinkniete, den Schwimmer auflas und hineinpustete, während Jelly ihm gegen die Schulter stupste. Er hielt mit seiner Arbeit inne, um das Tier einmal ordentlich zu kraulen, die Wolle so dick und dicht, dass man überhaupt nicht bis zur Haut darunter durchkam. Was sie wirklich erstaunte, war, dass Clyle und sie Geheimnisse voreinander bewahrt hatten, nicht, dass sie welche hatten. Die letzte Fehlgeburt, die Affäre, das in einer Butterdose versteckte Geld. Sie zu bewahren war womöglich schmerzlicher als die Geheimnisse an sich.
Eines Nachmittags kurz nach dem Umzug auf die Farm hatten Clyle und sie auf dem Heuboden miteinander geschlafen. Das war romantisch und spontan gewesen, trotz des Strohs, das ihnen beim Herumwälzen den Rücken zerkratzt und Quaddeln verursacht hatte. Vielleicht war es ja gerade deswegen romantisch gewesen. In jener Nacht hatte er die roten Linien auf ihrer Haut mit dem Finger verfolgt, und noch Tage danach hatte er sich wie ein Keiler den Rücken am Türstock in der Küche gekratzt, während sie Tränen gelacht hatte. Sie hatten immer Geheimnisse gehabt, aber früher waren es gemeinsame Geheimnisse gewesen.
Wenige Minuten später kamen die beiden Männer herein, als Alma es sich gerade mit der Fernsehzeitschrift auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Clyle ging zur Küchenspüle und öffnete mit dem Unterarm den Wasserhahn. »Und was machst du? Legst die Füße hoch?«, fragte er, und Alma schnaubte und warf die Zeitschrift zurück auf den Couchtisch, überlegte es sich dann aber noch einmal anders und richtete sie rechtwinklig zu den Untersetzern aus.
»Papperlapapp. Als wäre es nicht schon schlimm genug, fernzusehen, dürfen wir unsere Zeit auch noch damit vergeuden, darüber zu lesen.« Sie stand auf. »Bist du fertig, können wir los?«
Clyle hielt die Unterarme in die Höhe, die Hände nach oben gereckt, wie ein Chirurg vor der Operation. Er riss drei Papiertücher von der Rolle auf der Arbeitsplatte und trocknete sich die Hände ab. »Fertig.«
Da kam Hal aus dem Bad, noch damit beschäftigt, den Gürtel zu schließen. »Das Klo ist verstopft. Tut mir leid.«
Alma verschränkte die Arme. »Wieso entschuldigst du dich bei mir?«
Hal setzte sich aufs Sofa und legte die Füße auf den Couchtisch, wobei er die Fernsehzeitung mit dem Stiefel gefährlich nahe an den Rand schob. »Vielleicht hat meine Mom ja recht. Vielleicht wäre ich anderswo besser dran, wo sich jemand um mich kümmert.«
Alma spürte, wie ihr eine Salve aus Adrenalin und Wut den Rücken hochschoss. »Schwachsinn. Du kommst hier ganz prima zurecht, Hal. Ganz prima. Deine Mutter spricht nicht von Leuten, die dir die Toilette wieder frei machen; sie spricht von Leuten, die dir deine Unabhängigkeit wegnehmen.« Ihr kam die Frage in den Sinn, ob sie, wenn sie mit Hal zusammen fliehen würde, nicht etwas ganz Ähnliches machte. Nein, dachte sie dann. Das wäre nur zu seinem Besten.
»Es ist nicht nur das«, sagte Hal.
»Was ist es dann?«
Er zuckte die Schultern. »Ich bin so zurückgeblieben, dass ich nicht mal das weiß.«
»Du bist nicht zurückgeblieben«, wollte Alma sagen, aber das stimmte nicht. »Gut, vielleicht bist du ein bisschen zurückgeblieben. Aber du stehst auf deinen eigenen Füßen, und darauf kommt es an. Lass dir von dieser Frau keinen Unsinn in den Kopf setzen.«
»Diese Frau ist meine Mom«, sagte Hal abwehrend.
Alma griff nach ihrer Handtasche und hängte sie sich über die Schulter. »Als ob ich das nicht wüsste. Clyle?« Sie wandte sich zu ihrem Mann. »Ich wär dann so weit.«
»Gut«, sagte er, und sie gingen hinaus. Als sie sich in den Pick-up setzten, stellte Alma sich vor, wie Hal jetzt im Bad stand und spülte und spülte, das Wasser lief über den Schüsselrand, Scheiße verteilte sich auf dem Fliesenboden. Kam Hal allein zurecht? Sie wollte verzweifelt glauben, dass sie in seinem Sinne handelte, aber war es in Wahrheit nicht eher so, dass sie jemanden brauchte, der sie brauchte?
»Vielleicht sollten wir …«, hob sie an.
Clyle, der sich umgedreht hatte, um rückwärts aus der Auffahrt zu lenken, legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Er hat eine Saugglocke«, unterbrach er sie. »Lass gut sein.«