22

Milo radelte den Schotterweg hinunter und versuchte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Wie weit ist es noch?«, schnaufte George. Er fuhr auf Peggys altem Zehngangrad, und obwohl er den Sattel so hoch wie möglich gestellt hatte, konnte er die Knie nicht ganz durchstrecken, wenn er in die Pedale trat. Über ihnen stand der Mond am Himmel, es war beinahe Vollmond. Sie waren auf dem Weg zur Castle Farm, und das, obwohl morgen Schule war, es war Montag. Seine Mutter hatte ihm erlaubt, diese Woche zu Hause zu bleiben – die Beerdigung war am Mittwoch – und erst nach Thanksgiving wieder zur Schule zu gehen, falls er sich bereit dafür fühlte. Oder nach Weihnachten.

Normalerweise war seine Mutter um diese Zeit mit dem Backen der Torten und Kuchen für Thanksgiving fertig, die sich dann in Alufolie verpackt auf der Veranda stapelten, die zu Feiertagen als zweiter Gefrierschrank diente. Am ersten Freitag nach Thanksgiving fuhr die ganze Familie immer nach Sioux City, um in der Sunkist Bakery frittierte Kirsch- und Apfelkrapfen zu kaufen. Bisher hatte niemand gesagt, dass sie dort hinfahren würden, und er dachte, das sei vielleicht auch ganz gut so.

Milo warf einen Blick über die Schulter, hatte aber den Lenker fest im Griff; George war ungefähr dreißig Meter hinter ihm. »Zwei Meilen noch.«

»Ja, okay«, sagte George, der schon ganz außer Atem war. Er war im letzten Jahr in die Höhe geschossen, war dabei aber weicher geworden. Er war einer der Jungen, bei denen Milo sich vorstellen konnte, dass sie später einmal dick werden würden.

Am Nachmittag hatte Laura Milo angerufen und gesagt, ihre Freunde hätten eine Trauerfeier organisiert, und Milo hatte geahnt, dass das der Code für das Trinken von Alkohol war, nur halt zu Ehren von Peggy. Offenbar diente sie den Leuten jetzt schon als Vorwand, um zu bekommen, was sie wollten, in diesem Fall, sich an einem Montagabend zu betrinken. »Du kommst doch, oder? Es wäre schön, wenn … na, du weißt schon, wenn wenigstens einer von der Familie mit dabei wäre.« Es knisterte in der Leitung. »Abgesehen von mir.«

Lange war Laura wie ein Teil der Familie gewesen, aber jetzt nicht mehr. Das konnte nur von sich behaupten, wer die Tragödie unmittelbar erlebte, wer mit im Haus wohnte. »Ich weiß nicht. Es ist im Moment ziemlich schwer, hier wegzukommen. Meine Familie braucht mich.«

»Wir brauchen dich«, hatte sie gesagt, und das hatte gereicht.

Nach dem Abendessen hatten er und George sich vom Keller aus durch den Hintereingang geschlichen, den sein Vater immer nach der Arbeit auf dem Hof benutzte. Milo wünschte sich, er hätte in seinem Zimmer geschlafen, dann hätte er wie Peggy heimlich aus dem Fenster klettern können. Es war den ganzen Tag und den ganzen Nachmittag bitterkalt gewesen, aber jetzt, wo die Sonne unterging, fühlte es sich fast wärmer an als tagsüber, die Luft war schwer, bald würde es wieder schneien.

Er dachte an all die Male, als er und Peggy morgens bei Neuschnee aufgewacht waren und im Schlafanzug vor dem Fernseher gehockt hatten, um die Lokalnachrichten zu schauen, der hoffnungsvolle Blick auf die Namen der Schulen gerichtet, die am unteren Rand über den Bildschirm liefen. Jedes Mal saßen er und Peggy ganz gespannt da, obwohl ihr County nach der Schneekatastrophe von 1975 nicht mehr so häufig die Schule ausfallen ließ. Damals hatte es so häufig schneefrei gegeben, dass die Sommerferien um eine Woche verkürzt werden mussten. Entweder hatten es die Schulbusse nicht bis zu den Häusern der Kinder geschafft, oder – was wahrscheinlicher war – die Schule hatte begriffen, dass, selbst wenn die Busse durchgekommen wären, die Kinder nicht hätten mitfahren können. Sie wurden daheim auf den Farmen gebraucht, wo sie ihren Vätern dabei halfen, die Wassertanks abzutauen und auf das Vieh aufzupassen. Milo war damals noch gar nicht zur Schule gegangen, aber die Geschichte kannte in der Gegend jedes Kind.

Milo und George waren jetzt etwa eine halbe Meile von der Castle Farm entfernt, am Horizont sahen sie das Lagerfeuer lodern. Milo fuhr langsamer, damit George aufholen und in der Kälte durchschnaufen konnte. »Hey«, sagte George, als er zu ihm aufschloss. »Lass uns mal kurz Pause machen.« Milo bremste und kam auf dem dicken Schotter kurz ins Rutschen, während sein Cousin neben ihm anhielt. »Ein bisschen vorglühen.«

George zog die Handschuhe aus und klemmte sie sich unters Kinn, dann holte er aus der Innentasche seiner Jacke einen kleinen Umschlag. Er war höchstens fünf Zentimeter groß, wie die Umschläge, die Opa Ahern für seine Münzsammlung benutzt hatte. George öffnete die Lasche, hielt den Umschlag über seine hohle Hand, kippte ihn vorsichtig und tippte mit dem Mittelfinger darauf. Ein weißes Pulver landete auf dem Thenar, dem Daumenballen – dass Milo ausgerechnet jetzt dieses Wort aus Mrs. Consolinos Biologieunterricht in den Sinn kam! George beugte sich vor und schnupfte das Pulver mit einem Nasenloch, dann hob er den Kopf und kniff sich in die Nase, Tränen in den Augen.

»Was machst du denn da?«, fragte Milo.

»Muntermacher.«

»Was zum Teufel soll das heißen?«

»Das ist so Zeug, was ich von den Jungs im Futtermittelladen von meinem Vater kriege. Hier.« Er hielt den Umschlag hin. »Du jammerst doch immer, wie hundemüde du bist. Das hier hilft.«

Milo musste an vorige Woche denken, an das Basketballspiel, an George und seine wild aufgerissenen Augen. Er stellte sich vor, wie es wäre, die Müdigkeit loszuwerden, die ihn seit zwei Wochen im Griff hatte, das Gefühl, nie wieder tief und fest schlafen zu können. Was, wenn er das gar nicht müsste? Er schüttelte den Kopf. »Du bist echt ein Trottel«, sagte er zu seinem Cousin und stieg wieder auf sein Fahrrad.

»Nee, nee. Das Zeug ist super. Zwei Typen, die für meinen Vater arbeiten, stellen das in ihrer Scheune her, aus dem Kram, den mein Vater im Großhandel kauft. Den verkauft er ihnen billiger, und dafür kriegt er einen Teil vom Gewinn.«

»Was ist das denn?«

»Das ist komplett natürlich. Ammoniak und so. Halt Kram aus dem Futtermittelladen. Deshalb macht mein Vater so viel Geld.«

Milo dachte an den Cadillac und daran, wie Onkel Randall mit stolzgeschwellter Brust über seinen Erfolg als ortsansässiger Unternehmer redete. »Ist es legal?«

»Pfff«, machte George. »Willst du jetzt was oder nicht?«

Er war auf dem Weg zu einer Party, um den Tod seiner Schwester zu begehen, er hatte seit Ewigkeiten nicht mehr geschlafen, und das Leben, das er sich ausgemalt hatte, entglitt ihm immer mehr. Vielleicht wäre ein Muntermacher gar nicht so schlecht. Vielleicht würde er sich damit besser fühlen. Oder sogar gar nichts mehr fühlen.

Milo zögerte, dann nahm er den Umschlag.

 

Auf der Zufahrt zur Farm ließen sie am Straßenrand ihre Fahrräder fallen. Dort parkten diverse Autos und Pick-ups in seltsamen Formationen auf dem Rasen. Rund dreißig Leute waren da, ziemlich viele für Gunthrum. Die meisten von Peggys Freunden und Klassenkameraden standen mit Plastikbechern in der Hand herum.

Neben der offenen Heckklappe eines Pick-ups lungerten vier oder fünf Footballer um ein Fass herum, das auf einer Mülltonne stand. Kerry war dabei und auch Daryl Klaussen, und am Lagerfeuer gegenüber rösteten Laura und ein paar ihrer Freundinnen Marshmallows. Scott hatte ihn darüber aufgeklärt, auf welch dramatische Weise Laura und Kerry sich erst getrennt und anschließend wieder versöhnt hatten. Laura hatte ihren Freundinnen erzählt, Kerry hätte möglicherweise etwas mit Peggys Verschwinden zu tun, und als Lee Earl davon erfahren hatte, hatte er Kerry aus dem Matheunterricht herausgeholt und ihn so lange verhört, dass er das Basketballtraining verpasst hatte. Angeblich hatte Kerry sechs Stunden lang nichts zu essen und zu trinken bekommen, was bei einem Jungen im Highschool-Alter als Misshandlung galt. Seine Eltern hatten Klage eingereicht, entweder gegen Lee Earl oder gegen den Bundesstaat, das hatte Scott nicht genau gewusst, aber dann war Larry Burke als Verdächtiger verhaftet worden, und es war die Rede von Mord, und angeblich hatten Kerry und Laura miteinander geredet und alles geklärt, schließlich war er ja kein Mörder.

Milo hatte nur mit einem Ohr zugehört und wieder einmal darüber gestaunt, wie es allen gelang, den Tod seiner Schwester zu ihrem eigenen persönlichen Drama umzufunktionieren. Lee Earl und Sheriff Randolph hatten Larry Burke am Sonntagmorgen zum Verhör vorgeladen – das hatte Milo erfahren, als er seine Eltern belauscht hatte. Sie hatten ihn so lange verhört, bis er zugab, dass er eine Affäre mit Peggy gehabt hatte und dass er sich aus der Hütte heraus- und wieder hineingeschlichen hatte, als Mr. Gary sturzbetrunken gewesen war, auch wenn Sam Gary sich dafür verbürgt hatte, dass Larry die ganze Nacht mit ihm in der Hütte gewesen sei. Das kleine Detail, dass er keinen Pick-up in Valentine hatte, erklärte er damit, dass er sich, ohne zu fragen, den von seinem Cousin ausgeliehen habe, nach Gunthrum gefahren sei und ihn auf dem Rückweg wieder vollgetankt habe. Trotzdem ergab irgendetwas an der Geschichte noch immer keinen Sinn, hatten seine Eltern gesagt.

Laura winkte Milo zu, reichte einem anderen Mädchen ihren Marshmallowspieß und schlenderte zu ihm herüber. »Du hast es geschafft!« Sie umarmte ihn.

»Ja«, bestätigte er.

»Hey, Laura«, sagte George, aber sie ignorierte ihn. Mädchen wie Laura ignorierten Jungs wie George immer.

Sie legte einen Arm um Milos Schultern und zeigte auf die Menge. »Meinst du, du kannst ein paar Worte sagen?«

»Worüber?«

Sie verdrehte die Augen. »Peggy?«

Daryl Klaussen hatte ihn entdeckt, und anstatt rüberzukommen und Milo wieder die Fresse zu polieren, nickte er ihm kurz zu – Hi, wie geht’s? »Na ja, du kannst ja mal drüber nachdenken.« Sie nickte in Richtung des Fasses. »Willst du ein Bier?«

»Ich nehme eins«, sagte George, während Milo sie nur überrascht anstarrte.

»Ach, komm schon.« Laura klopfte Milo auf die Brust. »Peggy und ich hatten sowieso vor, dich bald mal betrunken zu machen. Es ist nur schade, dass sie es nicht miterleben kann. Sie hat gewettet, dass du einer von denen wärst, die gleich loskotzen.«

Milo wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Es stimmte, er hatte schon immer einen ausgeprägten Würgereflex gehabt. Wenn Milch auch nur ein kleines bisschen sauer war, kam sie ihm wieder hoch, und wenn er zu viel Zucker aß, bekam ihm das auch nicht besonders gut. In den Tagen seit Peggys Verschwinden hatte er immer wieder daran denken müssen, was sie jetzt alles nicht mehr gemeinsam tun konnten, wie sich abends zusammen die Zähne zu putzen (wobei er natürlich ins Klo ausspuckte) oder mit dem Auto zu Pamida zu fahren, um Besorgungen für ihre Mutter zu machen (wobei sie sich ausnahmsweise nicht zankten). Aber er hatte noch gar nicht darüber nachgedacht, was sie alles noch nicht gemeinsam getan hatten und nun nicht mehr erleben würden, wie sich zusammen zu betrinken oder zum ersten Mal ein Auto zu kaufen. Er würde nie auf ihrer Hochzeit eine Rede halten und dabei einen schmal geschnittenen schwarzen Anzug mit Einstecktuch tragen. Sie hatten gewitzelt, dass ihre Fahrten zu Pamida nur Testläufe für die Roadtrips waren, die sie eines Tages zusammen unternehmen würden. Einmal, an einer Ampel in Wayne, strömte das Sonnenlicht durch die Windschutzscheibe, und Peggy hatte die Hand am Lenkrad. Sie trat das Gaspedal durch und fragte: »Wohin wollen wir?«, und dann waren sie ins über eine Stunde entfernte Fremont gefahren, um Runzas und geriffelte Pommes zu essen. Peggy hatte eines Tages ein Baby bekommen sollen und dann noch eins und schließlich ein paar Enkelkinder. Er selbst wusste noch gar nicht, ob er irgendwann einmal Kinder haben wollte, aber er war sich ziemlich sicher, dass er eines Tages einen eigenen Hund haben würde, und auch das würde Peggy nun nicht mehr miterleben.

Er spürte, wie Georges Pulver durch seinen Körper strömte, wie elektrischer Strom durch ein defektes Kabel. »Klar, warum nicht? Ich nehme auch ein Bier.« Er war ein zwölfjähriger Junge in Nebraska; es war ja nicht so, dass er noch nie Bier getrunken hätte. Es war bitter und sauer und gleichzeitig nass und trocken, aber er wusste von den paar Malen, die sein Vater ihn hatte nippen lassen, dass er sich an den Geschmack bestimmt gewöhnen konnte, wenn er sich Mühe gab.

Laura legte ihm wieder ihren Arm um die Schultern und lotste ihn zu dem Fass hinüber, wo ein in Folie eingeschweißter Stapel roter Plastikbecher stand, von denen sie sich einen nahm.

»Hey«, sagte einer der Jungs – Bruce Johnston, der Sohn von Schulleiter Irv. Er war erst in der neunten Klasse, und Milo überlegte, wie er es geschafft hatte, eingeladen zu werden, aber dann dachte er sich, wahrscheinlich hatte er das Fass Bier mitgebracht. »Ein Becher einen Dollar.«

»Ernsthaft?« Laura wies mit dem Becher auf Milo.

»Oh, hey, Mann«, sagte Bruce und nahm den Plastikbecher. »Geht aufs Haus.« Er nickte und öffnete den Hahn an der Seite.

»Danke«, murmelte Milo und sah zu, wie das Bier in den Becher floss.

»Nachfüllen ist gratis, die ganze Nacht«, sagte Bruce, als er Milo den Becher reichte. »Sorry wegen deiner Schwester.«

Milo nahm einen Schluck vom schaumigen Bier, und Kerry kam herüber und ließ sich nachfüllen. Er umfasste Laura von hinten und küsste sie, dabei schwappte Bier auf den Boden. Sie streckte eine Hand aus, um seine Wange zu streicheln, ohne sich zu ihm umzudrehen, und lehnte sich an seine Brust.

»Eigentlich nicht zu fassen, oder?«, fragte Laura, und Milo nickte, obwohl er gar nicht wusste, was sie meinte. »Ich meine, ich wusste, dass sie sich mit jemandem trifft – das hatte ich dir doch erzählt, oder? Aber dass er sie so sehr liebt, dass er sie umbringt? O Gott. Ich meine …«

War Laura … eifersüchtig? Er spürte, wie ihm das Bier die Kehle hinaufstieg, aber es gelang ihm, es unten zu halten. Aus einem der Pick-ups war das Autoradio zu hören – irgendein Herzschmerz-Hit von Tanya Tucker –, und einige der Cheerleader am Feuer sangen leise mit und schunkelten.

Ausgelassen war die Stimmung nicht, immerhin handelte es sich ja um eine Trauerfeier. Aber schließlich sagte einer der Footballspieler – nicht Daryl Klaussen, aber einer, der fast genauso aussah: »Hey, Leute, ist das hier die Art von Party, die Peggy gewollt hätte?«, und damit war es plötzlich offenbar okay, von Country zu Huey Lewis & the News zu wechseln. Einige der Mädchen fingen an zu tanzen und warfen dabei ihr langes Haar herum, um besonders ungehemmt zu wirken.

Aus ähnlichen Abenden, bei denen er seine Eltern und deren Bekannte beobachtet hatte, schloss Milo, dass die Leute irgendwann wieder rührselig werden würden. Dann würden sie in ihre Bierbecher weinen und jammern, wie jung und schön Peggy gewesen sei und dass sie sie für immer vermissen würden. Doch später würde die Stimmung wieder umschlagen, und sie würden sich daran erinnern, dass sie selbst ja noch am Leben waren. Aber bis dahin würde es noch ein paar Stunden dauern. Jetzt gerade hakte Laura ihn unter und zog ihn näher ans Lagerfeuer. Sie beugte im Takt der Musik die Knie und stieß ihn dabei mit der Hüfte an. »Das war einer von Peggys Lieblingssongs«, sagte sie und grinste breit.

Eine oder zwei Stunden später – vielleicht auch drei? – war die Party in vollem Gange, alle waren betrunken und ausgelassen, eine Flasche Pfirsichschnaps machte die Runde. Milo nahm zwei große Schlucke, den mochte er lieber als das Bier mit seinem bitteren Nachgeschmack. Nach dem Schnaps wurde ihm ganz warm im Magen, wobei er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr genau unterscheiden konnte, was er spürte – die Wärme vom Schnaps, das Bittere vom Bier, Georges Zauberpulver, das er geschnupft hatte. Milo sah nur noch verschwommen, und ihm war kalt und warm und kotzübel, er fühlte sich betäubt und den Tränen nahe, sein Körper versagte ihm die Kontrolle, was er gleichzeitig liebte und hasste.

Inzwischen waren Erwachsene aufgetaucht; einige kannte er von den Partys seiner Eltern und von den wenigen Malen, die sein Vater mit ihm ins OK gegangen war. Mr. und Mrs. Gary waren da – Mr. Gary, der gelogen haben musste, dass Mr. Burke die ganze Nacht über in der Hütte gewesen war – und etwa zehn andere, die in den Siebzigern auf der Highschool gewesen waren und wahrscheinlich damals schon am Lagerfeuer gejammert hatten, dass jetzt alles vorbei sei. Wohl kaum. So schnell konnten die Leute nicht loslassen. Mr. Gary hatte Kerry am Fass gerade einen Zehn-Dollar-Schein gereicht und ihm gesagt, er würde es heute Abend so richtig krachen lassen, während seine Frau mit verschränkten Armen hinter ihm stand, in der Hand die goldfarbene Dose Miller High Life, die sie mitgebracht hatte.

Hal parkte ein, wobei er ein wenig zu nah am Straßengraben hielt. Ein Reifen hing in der Luft, als er den Pick-up abstellte, die verbeulte Front auf das Lagerfeuer gerichtet.

»O Gott«, sagte Milo. So ungern er es sich eingestand, er hatte Spaß gehabt. Er und George waren in die Gang aufgenommen worden, und die Gang hatte sich vorgenommen, die beiden abzufüllen. George hatte sich bereits übergeben, aber Milo hielt durch. Sogar Daryl Klaussen hatte ihm einmal den Becher gefüllt und »Schwamm drüber!« gesagt. Über diesen komischen Ausdruck hatte Milo lachen müssen, und als Nächstes hatte auch Daryl gelacht und seinen Arm um Milos Schultern gelegt.

Inzwischen behandelten die Jungen ihn wie ihren kleinen Bruder und hänselten ihn, während er für die Mädchen mehr wie ein knuddeliges Hündchen war, das sie herzen und an ihre Brust drücken konnten, während sie ihm mit ihren kalten Händen durch das wuschelige Haar fuhren. Doch jetzt drehten alle die Köpfe in Richtung Hal und schirmten die Augen gegen die Scheinwerfer seines Pick-ups ab. Hal schaltete Licht und Motor aus und öffnete die Tür, ein unsicher wirkender Stiefel berührte den Boden. Selbst Milo sah sofort, dass Hal betrunken war. Sein sonst so hübsches Gesicht war erschlafft und feucht, seine Augen wirkten wie betäubt.

»Nee, oder?«, sagte ein Mädchen neben Milo. »Das darf ja wohl nicht wahr sein!«

Die Anwesenden schauten einander fragend an, um herauszufinden, wer das Sagen hatte, wer sich Hal in den Weg stellen würde. Lauras Gesicht erstarrte, und Milo wünschte sich, er säße näher bei ihr, dann hätte er ihr sagen können: Hey, denk daran, das soll ein lustiger Abend zu Ehren von Peggy sein! und Komm schon, er hat nichts getan … Aber sie war bereits aufgestanden und ging auf Hal zu, ihre Freundinnen hinter ihr.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, die Hüfte vorgeschoben. »Was machst du hier?«, fragte sie Hal. Selbst jetzt, wo Larry hinter Gittern war, vergaßen die Leute nicht so schnell, wen sie gerade noch verdächtigt hatten.

»Ist das hier keine Party für Peggy?«

Mr. Gary trat vor und zeigte mit seinem Bier auf ihn. »Du bist hier nicht willkommen, Hal. Das habe ich dir doch gesagt.« Er musste ihm im OK über den Weg gelaufen sein, dachte Milo – auch Mr. Gary hatte ganz offensichtlich schon woanders etwas getrunken –, und Hal von dem Lagerfeuer erzählt haben.

Kerry trat vor und streckte Hal warnend die Hand entgegen. »Hau ab, Mann. Ich mein’s ernst. Wir wollen dich hier nicht haben.«

Hals Gesicht sah aus wie kalte Butter. »Warum?«

Mr. Gary stellte sich vor seine Frau. »Hal, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Du solltest verschwinden.«

Mrs. Garys Gesicht war fleckig, und Milo bemerkte, dass sie weinte. »Sam?«, hob sie an, und er schüttelte den Kopf. »Aber …«

Hal tat einen Schritt vorwärts, und im nächsten Moment sprangen Daryl Klaussen und ein weiterer Mann auf ihn zu und packten ihn an den Schultern. Milo wurde jetzt erst bewusst, dass er ebenfalls betrunken war, zumindest nahm er an, dass er das war. Er hob einen Fuß und setzte ihn wieder ab, aber der Fuß wackelte, als stünde er auf Götterspeise. Er spürte ein unangenehmes Kribbeln im Magen, wie wenn seine Mutter im Schnellkochtopf Leber kochte und er sich vorstellte, wie das später schmecken würde.

»Jetzt hört schon auf damit!«, rief Mrs. Gary. »Es ist Larrys Schuld!«

»So ein Quatsch!« rief Mr. Gary. »Der hat die Hütte nicht verlassen, das weiß ich genau.« Er versuchte, seine Frau von dem Handgemenge wegzubugsieren, aber sie entriss ihm ihren Arm.

»Fass mich nicht an!«, schrie sie hysterisch, und Mr. Gary hob die Hände. »Das ist alles eure Schuld! Ihr Männer. Larry kriegt, was er verdient.«

Hal versuchte, seinen Arm frei zu bekommen, aber als er ihn wegriss, schnappte Daryl danach, und damit landete Hal den ersten Treffer.

»Hört auf«, sagte Milo, aber niemand schien ihn zu hören. Hatte er das überhaupt laut gesagt? Hals Faust traf Daryls Kiefer, und Kerry schlug Hal in sein betrunkenes Gesicht. Im Feuerschein sah man die rote Schramme, die seine Faust hinterließ.

»Hey!«, schrie Laura. »Lasst das sein!« Aber es kamen immer mehr Männer dazu, darunter auch Mr. Gary, der brüllte: »Scheißbehinderter!«

»Es ist nicht seine Schuld!«, rief Mrs. Gary, und Milo wusste nicht, was sie meinte – dass er ein wenig zurückgeblieben war oder dass Peggy tot war. Hal war auf die Knie gesunken, schwankte und versuchte, den Fuß fest genug aufzusetzen, um sich wieder hochzustemmen, aber die anderen Männer ließen ihn nicht.

Milo schüttelte den Kopf und versuchte, den Nebel zu vertreiben. Er musste Hal helfen. Hal war es nicht gewesen. Er ging auf die Gruppe zu und versuchte, einen von ihnen hinten an der Jacke zu packen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, aber der Kerl warf seinen Arm nach vorne und riss Milo beinahe mit. George packte Milo an der Schulter.

»Wir müssen was tun«, sagte Milo, und sogar in seinen eigenen Ohren klangen seine Worte undeutlich. »Ich kann nicht nach Hause.« Denn auch wenn seine Schwester tot war und Hal gerade halb tot geprügelt wurde, war da immer noch die Logik des Zwölfjährigen, und die besagte, dass er seinen Eltern auf keinen Fall betrunken unter die Augen treten konnte, ganz egal, was sonst geschehen war. Ein wunderbar normaler Gedanke.

»Wir müssen hier weg«, sagte George. »Ich weiß, welcher Truck Klaussen gehört, und alle lassen die Schlüssel stecken.«

Mrs. Costagan . Milo dachte an die pragmatische Art und Weise, wie sie im Schulbus mit ungewöhnlichen Situationen umging. Er wettete, dass sie es nicht schlimm fand, wenn sie dort betrunken auftauchten; Hal hatte das garantiert schon hundert Mal gemacht. »Kannst du überhaupt Auto fahren?«, fragte er George.

»Das tue ich schon seit Jahren!«

»Aber bist du nicht zu betrunken?« Milo konnte sich kaum ausmalen, was für eine Koordination nötig war, um den Fuß vom Gas auf die Bremse zu setzen, genau im richtigen Moment die Kupplung zu betätigen und dabei auch noch das Lenkrad festzuhalten.

»Nein, Trottelgesicht, ich habe gekotzt.« George lächelte stolz und zeigte mit zwei Fingern das Peace-Zeichen. »Zwei Mal.«