3. DAS DARF MAN NICHT
»Nicht dürfen« meine ich an dieser Stelle nicht im strafrechtlichen Sinn. Im Gegenteil, ich rate dringend davon ab, sich Dinge am Arsch vorbeigehen zu lassen, die in einem der gängigen Gesetzesbücher Erwähnung finden.
Ich meine es in dem Sinn, der dem Gesprächspartner die Augenbrauen nach oben schnalzen lässt:
»Waaaas? Du magst/isst/tust/_______________ ???«
Oder die Variante:
»Waaaas? Du magst/isst/tust/_______________ NICHT???«
(Setzen Sie Beliebiges ein.)
Dabei ist es eigentlich völlig unerheblich, was Sie da einsetzen, es gibt immer irgendjemanden, der das völlig unterirdisch findet. Manchmal kommt dieser Satz aber noch nicht mal von einer anderen Person, sondern aus dem eigenen Hirn, und dort macht er gemeinsame Sache mit seinen Kumpels Peinlichkeit, Tradition, Uncool und Beleidigt sowie dem Klassiker Das darf man nicht, weil man sonst ein schlechter Mensch ist!
DAS DARF MAN NICHT WEGEN PEINLICH
1
Münchener Freiheit
Ohne Dich (Schlaf‘ ich heut Nacht nicht ein)
2
Bonnie Tyler
Total Eclipse Of The Heart
3
Vicky Leandros
Ich liebe das Leben
4
Britney Spears
… Baby One More Time
5
Toto
Africa
6
Journey
Don‘t Stop Believin‘
7
Backstreet Boys
Quit Playing Games (With My Heart)
8
Lionel Richie
All Night Long
9
Bee Gees
How Deep Is Your Love
10
Chicago
If You Leave Me Now
11
Alphaville
Forever Young
12
Echt
Du trägst keine Liebe in dir
13
The Kelly Family
An Angel
14
Boston
More Than A Feeling
15
Jonny Hill
Ruf Teddybär eins-vier
16
Europe
The Final Countdown
17
Heinz Rudolf Kunze
Dein ist mein ganzes Herz
18
Alexandra
Illusionen
19
Barry Manilow
Mandy
20
Aqua
Barbie Girl
Die Liste hier oben ist übrigens die Top 20 der peinlichsten Lieblingssongs – na? Was dabei? 1
Und falls keiner der Top-20-Kandidaten Ihr Herz erwärmt: Gucken Sie einfach in den Browserverlauf Ihres Computers oder in die Playlist Ihres Handys: Na? Würden Sie die unzensiert die Welt sehen lassen? Ungern? Warum? Um nicht zu sagen: »Waaaas? Du hörst Quit Playing Games (With My Heart) von den Backstreet Boys???« (oder Helene Fischer, setzen Sie Beliebiges ein …) Wenn Sie da keine Kinder haben, die Sie vorschieben können – was macht man da?
Und falls jetzt jemand die Nase rümpft, weil Backstreet Boys oder Helene Fischer »gehen ja gar nicht« – tun Sie nicht so. Jeder hat irgendeine musikalische Achillesverse, sei es Schlager, Country, Disco oder Pseudo-Metal. Genau aus diesem Grund lässt man andere Leute auch so ungerne im eigenen Spotify-Account suchen. Das ist fast so schlimm wie Leute, die anfangen, in der eigenen Fotogalerie rumzuwischen, bloß weil man ihnen das Handy gegeben hat, um ihnen EIN Foto zu zeigen – »Bist das du? Warum hast du nichts an?«, so geht das dann.
Ich kann mich gut erinnern, als ich das erste Mal die Nummer 15, Ruf Teddybär eins-vier , gehört habe: Einer aus der Schule hat das im Skilager gehört und den anderen vorgespielt. Wenn ich mich recht erinnere, geht es in dem Lied um einen behinderten Jungen, dessen Vater gestorben ist. Und erst hatte unser Mitschüler Tränen in den Augen, weil er von dem Text so gerührt war, und dann hatte er Tränen in den Augen, weil sich alle über ihn lustig gemacht haben. Gemein, was – aber eben auch nichts anderes als »Waaaas? Du magst/isst/ tust/______________ ???« (setzen Sie Beliebiges ein). Klar, mit den Jahren bekommt man ein dickeres Fell, was solche Situationen angeht, aber trotzdem vermeidet man sie. Man macht das, indem man lernt, was in der Welt und vor allem im eigenen Umfeld akzeptiert ist, und damit Sie da nicht aus der Reihe tanzen, springt die Peinlichkeit an wie ein Alarm. Schließlich wollen wir ja auch nur geliebt und gemocht werden und dabei sein, statt Tränen in den Augen zu haben und ausgelacht zu werden.
Durch das Skilager, durch die Freundin, die sagt: »Waaaas? Du ziehst DIESE Schuhe zu DIESEM Rock an???« und fleißigem Spicken bei den anderen, was die so machen und wie die so aussehen, bekommt man dann seinen eigenen Käfig recht flugs zusammengezimmert. Bis die Pubertät rum ist, haben wir gelernt, was geht und was nicht, und wenn wir erwachsen sind, haben wir da so viel Übung drin, dass wir darüber noch nicht mal nachdenken müssen. Das, was nicht geht, ist dann mit dem Schildchen Obacht! Peinlich! versehen. Das beherrschen wir aus dem Effeff: Als ich im Zuge einer Buchvorstellung mit ein paar reizenden Buchhändlerinnen einer renommierten Buchhandlung plausche, berichtet eine der Damen von der interessanten Doku, die sie am Abend zuvor auf Arte gesehen hat – irgendwas über Adorno. Daraufhin entspinnt sich ein ebenso einhelliger wie reger Austausch über das kulturelle Angebot im öffentlichen Fernsehen beziehungsweise den eklatanten Mangel desselben. Zwei von dreien beteuern, aus ebendiesem Grund überhaupt keinen Fernseher mehr zu besitzen, was die freundliche Dame mit der Adorno-Doku entschuldigend anfügen lässt, dass sie selbstverständlich nur ausgesuchte Reportagen ansieht.
Weil sie mich netterweise ins Gespräch mit einbeziehen will, dreht sich selbige Dame mit einem herzlichen Lächeln zu mir – ob ich auch die Adorno-Doku gesehen hätte? Hab‘ ich nicht. Ich bin mir nicht mal sicher, was der gute Adorno genau gemacht hat – in meinem Hinterkopf ist er lediglich mit dem Prädikat »wichtig« vermerkt, das ist aber auch alles.
Sage ich ihr, dass ich stattdessen Promis unter Palmen angesehen habe? Nein. Die Fallhöhe von der philosophischen Kritik des »identifizierenden Denkens« zu betrunkenen C-Promis in Dino-Kostümen ist einfach zu groß, das würden die freundlichen Damen nicht überstehen. Um nicht zu sagen, es ist mir schlicht und ergreifend: genau, peinlich.
(Das Lustige ist: Je nachdem, in welcher Runde Sie sich befinden, kann es andersherum genauso unangenehm sein:
Alle so: »Hast du gestern Promis unter Palmen gesehen?«
»Nee, ich bin bei einer Doku über Adorno hängen geblieben …«
»Alter, was stimmt mit dir nicht?«)
Wir wollen also nicht nur Peinlichkeiten vermeiden, wir wollen auch nicht, dass unser Gegenüber merkt, wenn uns etwas peinlich ist. Das ist DOPPELT peinlich! Das ist lustig, weil wir umgekehrt Menschen, denen anscheinend etwas gerade sehr peinlich ist, mit Sympathie überhäufen (es sei denn, es handelt sich um eine Kollegin, der gerade aufgefallen ist, dass Sie ihre Lästereien über Ihre Person mit angehört haben. Keine Sympathien hier.) Sympathie heißt Mit-Leiden, Mit-Fühlen mit den Gefühlen einer anderen Person, und die, mit denen wir mit-leiden, sind uns viel näher als die, mit denen wir uns nur mit-freuen. Meiner lieben Cousine Kathrin zum Beispiel schießt bis heute die Schamesröte ins Gesicht, wenn während eines Gesprächs das Wort »Lamm« fällt. Oder »Paris«. »Ich würde so gerne mal wieder nach Paris …«, sagen Sie zum Beispiel verträumt und ZACK! Kathrin ist rot wie eine erntereife Tomate.
In Paris hat sich nämlich »der Vorfall« zugetragen: Kathrin fuhr mit der Geschäftsleitung ihrer Firma dorthin, insgesamt sechs Frauen um die fünfzig, und am Ende der zweitägigen Tagung gingen sie alle am letzten Abend zusammen essen. Das Lokal war sauteuer, zauberhaft, französisches Flair wie aus dem Bilderbuch und so authentisch, dass es die Speisekarten nur auf Französisch gab. Der Kellner zog bei der Frage, ob er eventuell Englisch spräche, gekonnt eine Augenbraue nach oben (man muss sie einfach lieben, die Franzosen), und da saßen sie dann. Alle starrten angestrengt in die Karten, beteuerten dass sie kein Wort verstünden, und weil meine Cousine Kathrin so eine hilfsbereite und reizende Person ist, kramte sie in ihrem Hinterhirn nach den letzten Fetzen Französisch, die sie in der Schule gelernt hatte – vor dreißig Jahren.
»Also das hier«, meinte sie und zeigte auf irgendetwas mit »agneau«, »das müsste Lamm sein«, und »pommes de terre«, das wusste sie auch noch, waren Kartoffeln.
»Lamm mit Kartoffeln, das ist doch großartig«, beschloss die Damenriege einstimmig, und alle bestellten erleichtert mit dem Zeigefinger auf der Karte das Lamm mit Kartoffeln.
»Ich hätte es ahnen müssen«, sagte Kathrin kopfschüttelnd, »als ich diesen Hauch eines Lächelns in den Mundwinkeln des Kellners gesehen habe.« Denn der stellte schließlich vor jede der Damen mit ausladender Geste das Bestellte: Jeweils einen großen Teller mit einem Klacks Kartoffelbrei, hübsch dekoriert, und oben drauf eine leicht angebratene, kleine, perfekte, rosa Halbkugel: ein ganzes Lamm-Hirn.
Die Anwesenden versteinerten für einen Augenblick, dann sahen sich alle mit entsetzten Augen an. Alle, bis auf Kathrin, die starrte noch ein paar Augenblicke länger auf das Hirn, in der Hoffnung, es möge sich um eine optische Täuschung handeln oder die Erde möge sich auftun. Wie immer in solchen Momenten, tat sich die Erde natürlich nicht auf, und nach dem ersten Schreck fingen die Damen laut zu lachen an. Alle lachten (sogar der Kellner, ganz ohne Häme), nur Kathrin suchte noch immer am Boden nach einem Loch, in dem sie eventuell versinken könnte. Aber so peinlich ihr die Sache auch war, und so rot ihre Wangen auch glühten, jede Einzelne litt und fühlte mit ihr mit, und sie rückte allen ein Stückchen näher ans Herz.
Seitdem ziehen wir sie natürlich gerne damit auf, dafür reicht es schon, wenn während eines Familienessens einer der Anwesenden völlig aus dem Nichts »Bähähäh« macht.
Also obwohl uns Leute sympathisch sind, wenn ihnen etwas peinlich ist, wollen wir aber unter keinen Umständen, dass uns das jemand anmerkt, und so verstecken und vertuschen wir, was in diese Kategorie fällt.
Aber warum muss das denn überhaupt sein? Natürlich will man gefallen, und die Welt soll einen für ganz und gar großartig halten, aber noch toller als für großartig gehalten zu werden, ist es, lieb gehabt zu werden – und zwar mitsamt all den unmöglichen Dingen, der schnulzigen Musik, den seichten Hörbüchern, komischen Vorlieben und all den liebenswerten, versteckten Eigenheiten, die mit dazugehören, sowie Promis unter Palmen, also allem, was einen mit so einem Quantum Scham erfüllt und das man lieber nicht zeigt.
Wäre es nicht schöner, wenn man sich diese Imagepolitur sparen könnte? Und trotzdem gemocht wird? So wie wir Anne mögen, auch wenn sie davon überzeugt ist, dass man sich von Licht ernähren kann? Vielleicht fühlt man sich dann auch deutlich liebenswerter – schließlich erfährt ja das wahre Selbst Zustimmung und nicht dieses korrigierte Etwas, das wir zur Schau stellen.
Wir haben so verinnerlicht, was allgemeiner Konsens ist und was nicht, dass es uns im Alltag erst auffällt, wenn wir (oder besser jemand anders) daran aneckt. Also wenn zum Beispiel jemand sagt: »Also diese unbehandelten, naturbelassenen Äpfel aus dem Garten meiner Oma … die sind lange nicht so gut wie die von Aldi.« Oder: »Trump ist eigentlich ein ganz sympathischer Kerl!« Gut, Trump ist jetzt der kleinste gemeinsame Nenner, vermutlich. Danach teilt es sich nämlich auf, und je nachdem, in welcher Peer Group Sie sich befinden, lösen Sie mit dem Satz »Ich finde Helene Fischer/Tofu/die Taz echt gut!« beifälliges Nicken aus – oder entsetzte Gesichter.
Weil wir von unseren Kumpels nicht ausgestoßen werden wollen, sagen wir dann zum Beispiel nicht, dass wir Promis unter Palmen Adorno vorziehen. Dass wir gerne Ketchup zum Essen hätten, dass in unserer Playlist der Sommerhit des letzten Jahres ganz oben steht und dass uns Zucker viel besser schmeckt als Agavendicksaft, und ja, ich hätte gerne richtige Milch, beziehungsweise – je nach Peer Group – hätten Sie auch Hafermilch?
Es gibt Sachen, die werden »zugegeben«, aber das ist dann total cool, die zuzugeben. »In Mathe war ich schon immer schlecht«, ist so ein Beispiel, das ist nicht peinlich, sondern geht als cool durch. »Ich war schon ewig nicht mehr beim Friseur!« ist auch eher cool – zumindest sympathisch. »Ich war schon ewig nicht mehr duschen« – nicht.
Falls Sie in fußballrelevanten Zeiten eine klemmbare Deutschlandfahne am Rückspiegel Ihres Autos haben, werden einige Menschen in Ihrem Umfeld Sie dafür feiern, für andere fahren Sie die textilgewordene Dämlichkeit mit sich herum. Wenn man da jedem gefallen will, ist man ganz schön mit Hin- und wieder Abmontieren beschäftigt.
Das Lustige ist, dass wir ja gleichzeitig diejenigen Menschen besonders reizend finden, die sich überhaupt nicht darum scheren, ob etwas bei ihren Mitmenschen gut, mittel oder überhaupt nicht ankommt (vorausgesetzt es handelt sich nicht um Soziopathen, natürlich). Mein Freund Ole zum Beispiel hatte über Jahre den beneidenswerten Job, für ein bekanntes amerikanisches Männermagazin (ja, den Playboy ) verschiedenste, kostspielige Autos zu testen. Ob der Maybach Dingsbums, der Lamborghini Soundso oder der Ferrari Horst: Ole hatte sie alle. Das machte ihn natürlich bei einer Menge autobegeisterter Männer zum absoluten King of Currywurst. Das waren die einen. Es gab aber auch die anderen:
Oles Sohn ging zu dieser Zeit in einen Kindergarten, der bei allen, die es sich leisten konnten, hoch im Kurs stand. Wunderschön zwischen Bäumen an einem Park gelegen, aber doch in der Innenstadt und noch dazu in einem herrschaftlichen Gebäude mit großer Außenanlage: der Sonnenschein-Kindergarten, der Top of the Pops der alternativen Kindergärten. Dort wurde nicht Ostern gefeiert, sondern das überkonfessionelle »Lebensfest« (»Ostern hören wir gar nicht gerne«), Plastikschaufeln waren im Sandkasten verpönt (»Erdölbasiertes Spielzeug sehen wir gar nicht gerne«) und vom Mittagessen will ich gar nicht anfangen (»Transfette sehen wir gar nicht gerne«).
Zu den Abhol- und Bringzeiten der lieben Kleinen versammelten sich vor diesem Hort der Freude ganze Trauben von Fahrrädern mit Frontkabine vor dem Eingangsbereich. Der Einzige, der nicht mit dem Fahrrad mit Frontkabine vorfuhr, sondern im Bugatti Veyron (2 Millionen Euro, Spitzengeschwindigkeit 431 km/h), war, genau: mein Freund Ole. Ole parkte auch nicht, wie ich es an seiner Stelle vermutlich getan hätte, verschämt zwei Straßen weiter, sondern direkt vor der Türe.
Er vermied auch nicht den Blickkontakt oder huschte schnell wieder davon – im Gegenteil! Er grüßte freundlich alle umstehenden Papis mit ihren Fahrradhelmen am Multifunktionsgürtel und blieb gerne für ein paar Sätze mit ihnen am Eingang stehen. Und selbst wenn die einen Moment lang irritiert aussahen – durch seine Freundlichkeit hat er sie alle für sich eingenommen.
In diese Freundlichkeit mischte sich keinerlei Trotz, kein Zynismus und nicht die geringste Unsicherheit – er war einfach total nett, wie er immer ist. Und die Woche darauf kam er im Rolls Royce.
Immer, wenn jemand, so wie Ole, freundlich und gut gelaunt, dem nicht entspricht, was das Umfeld erwartet, ist man kurz verwirrt – und findet das wahnsinnig sympathisch. Vielleicht, weil wir selbst dafür oft den Mut nicht aufbringen (siehe Promis in Dino-Kostümen vs. Adorno).
»Ist schon okay«, möchte ich deswegen auch dem seriösen Geschäftsmann zuflüstern, der im Zug neben mir sitzt und aus dessen zusammengeklappter FAZ -Zeitung oben die versteckte Gala rausblitzt. Egal, was in Ihrer Peer Group Kopfschütteln auslöst – stehen Sie dazu! Vielleicht sind Sie der oder die Einzige ohne (oder mit) Tattoo, Sie finden im Gegensatz zu Ihren Freunden Woody Allen nicht lustig oder hören lieber Schlager statt Indie. Oder Sie trinken keinen Alkohol oder essen kein/ gerne Fleisch, vielleicht haben Sie was mit Schutzengeln am Hut oder gucken lieber die Privatsender im Fernsehen als Serien auf Netflix. Immer, wenn Sie das Gefühl haben, das ist jetzt aber peinlich, wenn Sie das zugeben: Trauen Sie sich und nennen Sie es »liebenswerte Eigenart« – und sehen Sie dies bei Ihren Mitmenschen genauso. Trompeten Sie es heraus, das nimmt das Peinliche weg. Ich mach das jetzt auch mit meinen Promis in Dino-Kostümen. Versprochen.
DAS DARF MAN NICHT WEGEN UNCOOL
Dann gibt es ja noch jede Menge Dinge, die will man sich noch nicht mal selbst eingestehen, weil man nicht mit ihnen einverstanden ist. Auf die Spitze getrieben hat das meine Freundin Jana. Jana ist Single, also meistens, sie ist außerdem zu einem Viertel Italienerin, was ihr ein feuriges Temperament, beneidenswert kräftiges Haar und eine Vorliebe für Nudelgerichte eingebracht hat. Abgesehen von noch hundert anderen Dingen ist sie politisch außerordentlich links angesiedelt und war dahingehend eine Zeit lang derart engagiert, dass sie sich ernsthaft überlegte, in die Politik zu gehen (diese Idee hat sich aber nach nur zwei Treffen beim zuständigen Ortsverband in Luft aufgelöst wegen: »Zu viele Spackos«).
Warum ich Janas politische Gesinnung erwähne: Das ist einer der Punkte, die Jana bei ihren Dates vorsichtig bei ihrem Gegenüber abklopft. Und dank Tinder sogar bevor sie dieses Gegenüber das erste Mal trifft. »Dann sind ganz viele Themen einfach von vornherein klar«, findet sie. Ich persönlich halte diese vorsorgliche Auslese zwar für nachvollziehbar, bin aber von ihrer Notwendigkeit nicht unbedingt überzeugt – zu lange habe ich mit meiner Mutter und meinem Stiefvater unter einem Dach gelebt, die eine lange Zeit eine große Liebe füreinander hegten, obwohl sie politisch nicht auf einer Wellenlänge lagen. Das fiel meistens gar nicht auf, außer am Wahlsonntag, wenn sie gemeinsam zum Wahllokal gingen: Mein (konservativer) Stiefvater voraus und mit zehn Metern Abstand meine (grüne) Mutter hinterher, und sowohl auf dem Hin- als auch auf dem Rückweg flogen die Fetzen. Das hatte fast etwas Folkloristisches.
Jana jedenfalls vermeidet dieses Szenario unbedingt (so wie Raucher, Italiener und Männer mit aufgestellten Polohemd-Krägen). Mit geschickten Fragen leuchtet sie in ein paar Winkel potentieller Kandidaten, und je nachdem welche Schatten die zurückwerfen, wird dann das was mit dem Treffen oder nicht. Und dann ist es natürlich passiert.
Während Anne und ich vergnügt in unseren Cocktails rühren, geht die Tür des Café Einstein auf und Jana kommt mit einer wahren Trauermiene auf uns zu. Wir halten inne.
»Was ist denn mit dir los?«, fragt Anne erschrocken, und Jana lässt sich mit einem Seufzer in den Sessel plumpsen. Wir sehen sie gespannt an.
Jana wirft die Hände in die Luft: »Ich habe einen total tollen Typen kennengelernt.«
»Aber das ist doch … super!«, freut sich Anne, aber Janas leicht verzweifelter Gesichtsausdruck will so gar nicht zu ihrer Neuigkeit passen.
»Nicht?«, fragt Anne deshalb, und Jana sieht gequält zwischen uns hin und her. »Er ist in der Politik«, und als wir sie immer noch ratlos anstarren, lässt sie die Katze aus dem Sack, »im Ortsverband. Bei der – CSU.«
Kurze Stille, dann prusten Anne und ich los. Es dauert ein paar Minuten, bis wir uns wieder beruhigt haben, und während dieser Zeit sieht Jana uns genervt an. »So lustig ist das auch wieder nicht«, findet sie, und ich wische mir ein Tränchen aus dem Augenwinkel.
»Doch!«, quietscht Anne, und dann lachen wir weiter.
Jana kommt schließlich doch noch dazu, uns zu erzählen, wie es zu dieser »Riesenkatastrophe« kommen konnte: Jana war mit Kollegen Mittagessen beim Italiener um die Ecke, und am Nachbartisch saß eine Runde, die ebenfalls nach Büro-Mittagessern aussah.
»Wobei«, legt Jana nachdenklich ihren Zeigefinger an den Mund, »da waren ziemlich viele mit Kurzarm-Hemden, ich hätte was ahnen können«. Einer aus dieser Runde hatte es Jana beim ersten Blick sofort angetan und, oh selige Fügung, er blieb, als seine Kollegen sich schließlich erhoben, einfach sitzen. Jana tat es ihm nach, sie lächelten sich an, er kam an ihren Tisch, und dann folgten »die reizendsten eineinhalb Stunden seit 2017«, sagt Jana, und das will was heißen, denn 2017 war das Jahr des Argentiniers.
»Er war so, so, so … nett!«, resümiert sie fassungslos, und Anne legt ihr mitfühlend eine Hand aufs Knie: »Das ist ja wirklich, wirklich bedauerlich«, und dann prusten wir wieder los.
Als Anne und ich uns beruhigt haben, kommt es doch noch zu einer näheren Betrachtung der »Problematik«. Denn Jana fühlt sich tatsächlich in einer Zwickmühle. »Ich finde die CSU total beknackt«, sagt sie, woraufhin Anne zu denken gibt: »Vielleicht ist es aber auch beknackt, einen Typen auszusortieren, nur weil er mit deinen politischen Ansichten nicht übereinstimmt. Er ist ja jetzt kein AfD-Reichsbürger.« Punkt für Anne.
»Weiß er eigentlich, wie du so tickst, politisch?«, hakt sie nach, und Jana nickt. »Ja.«
»Und will er dich immer noch treffen?«
»Ja«, nickt Jana wieder, und weil ihr selbst auffällt, dass da einer deutlich toleranter rüberkommt als die andere, versucht sie das wieder hinzubiegen: »Aber – das gibt bestimmt permanent Zoff!«, versucht sich Jana zu rechtfertigen, und jetzt ist es an mir, Jana an etwas zu erinnern: »Nichts gegen dich«, bereite ich mit einem Seitenblick Anne darauf vor, »aber Jana, wie stehst du zu Schutzengeln? Zu Wasser-Energetisierung, Reiki und generell dem Hang unserer lieben Freundin Anne, permanent ins Esoterische zu lappen?«
»Ach«, wischt Jana meine Einwände weg, »das ist doch was anderes.«
Ist es aber nicht. Jana liebt Anne nämlich trotzdem, auch wenn wir alle drei, ohne es auszusprechen, wissen, dass Jana das alles für kompletten Unfug hält.
»Euch eint mehr, als euch trennt, in der Summe«, finde ich, und auch wenn es zu Diskussionen kommt und auch wenn man nicht einer Meinung ist, kann man jemand anderen gernhaben – und sich verlieben. Kann ja sein, dass sich genau das herausstellt, was Jana befürchtet, nämlich dass der Mann und sie zu verschieden sind und alles nicht funktioniert, dass es nicht zu Diskussionen und Gesprächen kommt, sondern nur zu Streit – aber es von vornherein auszuschließen, ist doch auch blöd.
Es ist schwierig, wenn das, was man will, nicht übereinstimmt mit dem, wie alles zu sein hat. Noch ärger trifft das Bea, die Feministin par excellence. Par excellence ist hier eine Art Level 2, denn obwohl ich mich selbst als Feministin bezeichne (weil ich gleiche Rechte für Frauen eine super Sache finde), bin ich lange nicht so engagiert, wie Bea das ist. Die Leute haben ja verschiedene Missionen in ihrem Leben, Beas Mission ist der Kampf für die Rechte der Frau, und sie tut auch was dafür, im Gegensatz zu mir, also mehr als reden. Ich habe Bea sehr gern, wir teilen außerdem die Leidenschaft für Gamba-Lasagne, und wenn es die gibt, dann kommt Bea zum Essen.
Während einer dieser Abende und einigen Gläsern Rotwein (wir teilen glücklicherweise auch die Leidenschaft für Rotwein) rückt Bea mit etwas heraus, an das ich sofort denken musste bei Janas CSUler-Geschichte. Bea trägt nämlich auch einen Konflikt mit sich herum, und der ergibt sich aus der Kombination von A und B:
A ist Beas Idee einer »guten« Feministin.
B ist Beas Vorliebe für wirklich herabwürdigenden Sex. Und zwar herabwürdigend für die Frau, also Bea.
Für Bea sind die beiden nicht in Einklang zu bringen. »Ich kann doch nicht auf der Demo zum feministischen Kampftag eine Rede gegen die patriarchalen Strukturen halten und dann abends im Bett drum betteln, dass mich der Typ beschimpft und an den Haaren festhält!« Bea zählt dann noch einige der Dinge auf, die sie ebenfalls ganz verlockend findet, und ja, das sind Herausforderungen, auch auf der organisatorischen Ebene, denn so viele Männer muss man erst mal zusammentrommeln. Weil sie so ein schlechtes Gewissen hat, versucht sie, sogar heiß zu finden, was in ihren Augen »ok« ist, zum Beispiel feministische Pornos.
»Aber das klappt nicht«, seufzt sie, »da wird soviel geredet und das ganze Vorspiel und … mir ist das zu langweilig. Ich will keine hippen Pärchen beim zärtlichen Vorspiel sehen. Ich will Animalisches!« Bea findet just jene Stellungen und Praktiken demütigend für die Frau, die sie so richtig anmachen. Ein Dilemma.
Beas Dilemma, denn das Lustige ist: Ich sehe bei der ganzen Nummer überhaupt keinen Widerspruch. »Es kommt doch nicht darauf an, was du machst, sondern warum du es machst«, finde ich, »also wenn du dich an den Haaren ziehen lässt, weil du das eben richtig dufte findest, ist das doch etwas anderes, als wenn du das mitmachst, weil der Mann das will.«
Bea ist noch unsicher, aber ich bin mir ganz, ganz sicher, und zwar deswegen, weil ich in einer Diskussion mit so einer ähnlichen Nummer schon mal konfrontiert war, allerdings mit der wesentlich jugendfreieren Variante:
»Darf ich denn überhaupt (Männern) gefallen wollen?«
Die Frage habe ich mir tatsächlich gestellt, nachdem mir Kirsten, eine gute Freundin von Bea, genau das vorgeworfen hatte, als sie mich das erste Mal nicht in Jeans und T-Shirt, sondern höchst aufgebrezelt in einem rattenscharfen Kleid gesehen hat. Ich solle mir doch bitte schön überlegen, in welchem Licht ich erscheinen wolle. Meinte Kirsten.
Habe ich überlegt, und Kirsten kann mich mal. Ich darf anziehen, was ich will, was kurze Röcke und hohe Hacken beinhaltet, ich darf wollen, dass mich die ganze Welt und mein Date im Speziellen begehrenswert findet, und ich darf vor einem Mann auf die Knie gehen, wenn ich das will. Was gibt es denn Selbstbestimmteres, als das zu tun, was man will? Das lasse ich doch nicht von anderen bewerten und zwar aus keiner Richtung, auch nicht aus einer feministischen, soweit kommt’s noch.
Damit war ich zwar bei Kirsten unten durch, aber das ist bei Leuten, die sich im Besitz von Wahrheiten über andere wähnen, vielleicht gar nicht das Schlechteste. Seien wir doch froh, dass es keinerlei Bekleidungsvorschriften gibt, weder gesellschaftliche noch religiöse, und nein, anzuziehen, was man will, heißt nicht, dass man das hier aushalten muss:
»Ohlala, wen haben wir denn da?!«
KUSSGERÄUSCHE
»Hey Schnecke, komm doch mal rüber!«
»Wow! Geiler Arsch!«
Das passiert mit kurzem Rock und hohen Hacken zwar häufiger, kennen aber alle Frauen, auch dann, wenn man in Jeans und Parka unterwegs ist. Liebe Männer: Das ist kein Kompliment. Man pfeift Hunden hinterher, nicht Frauen. Leute, die man respektiert, redet man so nicht an, egal was jemand anhat. Es ist herabwürdigend. Und wirklich nicht vielversprechend – ich kann mir nicht vorstellen, dass jemals eine Frau an einem Mann vorbeigegangen ist, er ihr »Pspsps schmatz-schmatz« hinterhergerüsselt hat, und sie dann so: »Aaaawwww …!!!«
Aber darum geht es nicht, was? Es geht darum, dass sich derjenige irgendwie männlich-dominant vorkommt, deswegen machen das ja auch immer die Herrschaften, die bei Frauen so wie in allen anderen Lebensbereichen beeindruckend erfolglos unterwegs sind. Inzwischen hat diese erbärmliche Nummer einen Namen bekommen, nämlich Catcalling , aber sie ist natürlich uralt und wie immer, wenn etwas »schon immer« so ist, kann man sich gar nicht vorstellen, dass es so gar nicht sein muss. Muss es aber eben nicht, und wann immer jemand so tut, als wären Sie ein Hund oder eine Katze: Wenn Sie sich trauen (trauen Sie sich ruhig!), zischen Sie zurück. So etwas wie »FRESSE!« zum Beispiel. Es gibt nämlich überhaupt keinen Grund, freundlich zu Menschen zu sein, die einem Unbehagen bereiten und sich dabei auch noch vorkommen wie der King of Currywurst. Apropos, etwas war schon immer so:
DAS DARF MAN NICHT WEGEN TRADITION!
»Tradition« ist auch so ein Wort, das jedem vernünftigen Argument sofort allen Wind aus den Segeln nimmt. Dabei teilt sie die Dinge auf in solche, die man unbedingt tun muss, und solche, die man auf keinen Fall tun darf. Sie ist zum Beispiel schuld daran, dass süße neugeborene Babys Reinhold genannt werden – »Es ist der erste Sohn, das ist bei uns so Tradition!«. Da kann das Kind ja nur froh sein, wenn ihm aus dem gleichen Grund nicht auch gleich die Vorhaut abgeschnippelt wird, und was den Leuten noch so einfällt aus Tradition.
Aber es geht ja nicht immer gleich ums Verstümmeln, es gibt Traditionen, die sind überaus erfreulich, lustig oder haben zumindest etwas mit Essen zu tun. An sich sind Traditionen aber oft etwas ganz und gar Absurdes, einfach weil man etwas tut, »weil man das schon immer so tut«. Und nicht anders. Das geht dann soweit, dass beim Trachtenumzug des Bechtsriether Schützenvereins Sankt Loisl, trotz vorherrschenden 34 Grad im Schatten, die Umherziehenden leider nicht ihre Wolljackerl ausziehen dürfen. Weil wo kämen wir da hin. Ja wohin denn, fragt man sich da doch.
Wie absurd genau Traditionen sein können, stellte ich erst im Ausland fest: Wenn man mit etwas nicht selbst aufgewachsen ist, hat man da ja etwas mehr Abstand im Blick. Wenn Sie zum Beispiel einem Außerirdischen zu erklären versuchen, warum sich große Mengen von Menschen einmal im Jahr auf der Theresienwiese in München versammeln, sich in eigens dafür vorgesehene Kleider hüllen und sich dann ins Nirvana saufen – da kommt man schon mal in Erklärungsnot. Und warum nochmal wird im Mai ein toter Baumstamm aufgestellt? Von außen gesehen ist vieles nun mal wunderlicher als aus der Nähe. Den Vogel abgeschossen in dieser Disziplin hat für mich aber Katalonien:
Als das Kind auf die Welt kam, wohnten L. und ich in einem alten Steinhaus auf dem Land in Katalonien, Spanien. Es war idyllisch und wunderschön, und das Glück hatte uns reizende Nachbarn beschert und eine KiTa im Nachbarort. Von dieser KiTa holte ich irgendwann in der Vorweihnachtszeit das Kind ab und sah mich das erste Mal mit dem Tió konfrontiert: Der Tió ist ein Stück Baumstamm, vorne auf die Schnittfläche ist ein lächelndes Gesicht aufgemalt, er hat eine rote Mütze auf, und zwei Ästchen dienen als Arme oder Beine, auf jeden Fall stützen sie den Tió, sodass er aussieht wie ein dicker, freundlicher Holzklotz beim Liegestütz. Ich hab‘ das mal völlig professionell hier illustriert:
Sympathisches Kerlchen, oder? Das Kind war wahnsinnig beeindruckt, im Kindergarten wurden Lieder über den Tió gelernt, und es wollte unbedingt einen zuhause haben. Besser als ein Meerschweinchen, fand ich, extrem easy zu haben und saisonal noch dazu. Nur was man damit anfangen sollte, war mir nicht ganz klar.
»Was macht man denn damit?«, fragte ich das Kind.
»Man schlägt ihn!«, grinste das Kind.
»Was? Warum denn um Himmels Willen?«
»Damit er scheißt.«
»WAS?«
Tatsache, in der Vorweihnachtszeit verdrischt man den Tió mit einem Stock und singt dabei im Kreise der Familie:
Scheiß, Tió, scheiß Tió,
Haselnüsse und Pinienkerne,
piss Weißwein
zum Weihnachtsfest.
Wenn du nicht scheißen willst,
werde ich dich mit einem Stock schlagen.
La la la lala ... 2
Man deckt ihn dafür wenigstens immer mit einer Decke zu, damit er sich nicht erkältet (WTF?), und am 24. Dezember, wenn die Kinder im Advent brav den Tió verdroschen haben, finden sie Süßigkeiten und kleine Geschenke unter der Decke: Voilá, der Tió hat geschissen. Kannst du dir nicht ausdenken, sowas.
Ich versicherte mich bei den Nachbarn, dass das Kind mir da keinen Quatsch erzählt hatte (so wie es mal versucht hatte, mir einzureden, dass man freitags in den Kindergarten immer Süßigkeiten zur Brotzeit mitnehmen müsse …). Aber auch die Nachbarn bestätigten mir, genau so sei es und bekamen dabei diesen leicht nostalgischen Glanz in den Augen, als sie sich an ihre Kindheit erinnerten, und fingen sofort an, mit dem Kind den scheißenden Tió zu besingen. Aber hey – warum nicht. Absurder wird es jetzt nicht mehr, dachte ich, und wir haben zuhause dann ebenfalls das arme Ding verhauen.
»Ich finde es ja pädagogisch bedenklich«, sagte meine Mutter, »dass man verprügelt wird, wenn man keine Geschenke rausrückt«, und eventuell haben da die Bedenken aus ihr gesprochen, was wohl passiert, wenn sie das nächste Mal ohne Mitbringsel hier aufschlägt.
Aber außer dem Tió hat das Kind bis heute niemandem Prügel angedroht. Absurder wurde es dann natürlich doch noch, nämlich als die Faschingszeit kam, beziehungsweise deren Ende, und am Aschermittwoch die Kindergartentruppe loszog, um eine Sardine zu beerdigen. Ja richtig, einen Fisch. Kein Witz. Jedes Jahr zu Beginn der Fastenzeit wird eine Sardine beerdigt – die Wiese hinter dem Kindergarten muss voll sein mit Sardinenskeletten.
»Ist nicht dein Ernst!«, sagte meine Mutter.
»Doch«, bestätigte ich, und von der »Corema«, einer Oma-Figur aus Pappe mit sieben Beinen, erzählte ich dann gar nicht mehr: Der reißt man nämlich in jeder der sieben Fastenwochen ein Bein aus …
Das mag zwar alles recht seltsam anmuten, aber seltsamer als ein Osterhase oder am Polterabend ein komplettes Porzellanservice zu zerdeppern, ist es dann auch nicht. Na gut, ein bisschen vielleicht. Auf jeden Fall sind es prima Traditionen, wir machen die gerne mit, sie sind nicht stressig, es werden keine Babys verstümmelt, und sie tun auch sonst niemandem weh (außer der Sardine).
Seit der Tió bei uns eingezogen ist und Sardinen beerdigt werden, ist mir klar geworden, dass Traditionen echt beliebig sind. Sie wurden irgendwann eingeführt, von Leuten, und sie könnten ebenso leicht geändert oder abgeschafft werden, von Leuten. Um nicht zu sagen: Tradition ist auch nur Gruppenzwang, aber von Toten. Deswegen ist »Tradition« oder »das machen wir schon immer so« auch kein valides Argument, wenn man an ebenjenem rütteln möchte.
Ginge es nach der Tradition, dann hätte man ja auch bei dem schönen Brauch der Hexenverbrennung bleiben können! Oder bei Menschenopfern generell, das war doch auch schön!
Anders sieht die Sache aus, wenn es Traditionen gibt, die wir zelebrieren und unbedingt beibehalten möchten, aber durch veränderte Lebensumstände wird die Durchführung kompliziert. Viele wunderbare Traditionen scharen sich um die Weihnachtsfeiertage zusammen, jede Familie hat vermutlich ihre ganz eigenen Gesetze, wie und was wann zu machen oder zu unterlassen ist, und an denen wird auch nicht gerüttelt. In Janas Elternhaus ist es Tradition, dass die gesamte Familie gemeinsam zur Christmette geht. Für alle, die in Sachen Religion nicht so firm sind: Die ist nachts um zwölf. Als Jana und ihre Geschwister klein waren, war das auch gar kein Problem: Spätnachts wurden die Kinder in die Kinderwagen gepackt und durch die drei Gassen im Dorf zur Dorfkirche geschaukelt, wo sie dem Chor lauschten und später selig weiterschliefen. Total schön war das, sagt Jana. Diesen Moment versucht die Familie irgendwie weiterleben zu lassen – ein Drama, das aus fünf Akten besteht:
  1. Alle reisen am Tag vorher bei den Eltern an.
  2. Nach der Bescherung versuchen alle, nicht einzuschlafen, was bei denen, die inzwischen selbst Eltern sind, nicht klappt.
  3. Der Rest ist betrunken.
  4. Um kurz vor zwölf rappeln sich alle auf, sind insgeheim total stinkig darüber und ziehen ihre Kinder mit, die ganz offen total stinkig sind, sie passen nämlich nicht mehr in einen Kinderwagen und müssen laufen. Nachts um zwölf. In eine eiskalte Kirche.
  5. Am nächsten Tag sind alle froh, es wieder überstanden zu haben und verabreden sich fürs nächste Jahr.
Total schön, oder? Ändern kann man daran leider nichts, und die Idee, dass man ja alternativ zu einem Weihnachtsgottesdienst am Spätnachmittag gehen könne, trifft auf heftigsten Widerstand: Das ist nämlich keine »echte« Christmette, sondern nur eine Christvesper! (für alle, die in Sachen Religion nicht so firm sind: weniger religiös), und außerdem – vor allem außerdem!
Dass man so unbedingt an etwas festhalten will, weil es »schon immer« so war, verstehe ich trotz allem gut, leider klaffen Vorstellung und Realität aber oft kilometerweit auseinander. Bei uns zuhause war an Weihnachten das Abendessen unverhandelbar, und wer Am Arsch vorbei geht auch ein Weg, Teil 1 kennt, der weiß, wovon ich rede:
Es gab nämlich SCHON IMMER Fondue an Weihnachten. Fleisch-Fondue. Diese Tradition habe ich von der Kindheit und der Jugend in die Erwachsenenzeit und in meine eigene Familie gerettet. Bis jetzt haben sich ihr noch alle unterworfen, Gott sei Dank auch L., alles lief super, und dann kam das Kind. An seinem ersten Weihnachten war das unkompliziert, denn so aufregend wir auch sein erstes Weihnachten fanden, das Kind hat es komplett verpennt. Allerdings gab es durchaus Stressmomente, hauptsächlich wegen dieses blöden Gefäßes, das unter dem Fondue-Topf stehen und den Spiritus beinhalten sollte, was aus zwei Gründen nicht möglich war:
Das Gefäß war verschwunden.
Der Spiritus war verschwunden.
Ausschließlich der Heiligkeit des Abends ist es zu verdanken, dass es an selbigem nicht zu einem ausgewachsenen Streit kam, wer für die Aufbewahrung von Küchengeräten zuständig ist (L.).
Im Jahr darauf war das Kind hellwach und half begeistert bei den Weihnachtsvorbereitungen. Das führte zu hellblauen, rosa, gelben und grünlichen Haaren während der Backzeit bei Kind und Hund, und auch der Baum sah etwas anders aus als sonst: Im untersten Meter des Christbaums hängte das Kind nämlich alles über die Äste, was in seinen Augen als Christbaumschmuck durchging wie zum Beispiel Socken, Stofftiere, Alufolie und zur Freude des Hundes: Wurstscheiben.
Alle waren froh und zufrieden (vor allem der Hund), und dann kam Heiligabend.
Ab Mittag stand L. in der Küche und bereitete Soßen zu. Das ist toll, und die Soßen, die er macht, sind traumhaft. Er macht immer fünf, sechs verschiedene Soßen – und er ist den ganzen Nachmittag über beschäftigt. Das heißt, ich kam irgendwie nicht dazu, mich und das Kind hübsch zu machen, die letzten Geschenke zu verpacken, und auch die Mahalia-Jackson-CD verliert etwas von ihrer besinnlichen Wirkung, wenn man währenddessen alle paar Minuten ruft: »Nicht den Hund ablecken!«, »Du sollst doch nicht den Hund ablecken« und »Jetzt sage ich es nicht nochmal!«
Als die verdammten Soßen fertig waren, saßen wir um das Fondue: L. noch mit seiner Schürze um, ich in Jogginghose, das Kind stach mit der Fonduegabel in seine Hausschuhe, und wir schoben den Fonduetopf so weit von ihm weg, dass er sich nicht an dem heißen Öl verletzen konnte, was dazu führte, dass wir halb aufstehen mussten, um das Fleisch hineinzugeben, und das Kind wie am Spieß schrie, weil es natürlich das war, was es auch machen wollte. Dann ging das Feuer unter dem Topf aus. L. und ich sahen uns mit aufgerissenen Augen an: Nicht schon wieder!
Alle taten, was sie konnten: L. hob das heiße Öl hoch, ich versuchte mich an der Brennpaste, und das Kind fütterte den Hund mit Eiersoße, aber alles half nichts:
Die Brennpaste ließ sich nicht wieder entzünden.
Aber L. wollte dieses Jahr ganz sicher gehen: »Ich habe vorsichtshalber noch Brennspiritus gekauft!« Triumphierend füllte er die Flüssigkeit in das Gefäß (er hatte sogar ein Ersatz-Gefäß gekauft), und was soll ich sagen: Der Spiritus brannte nicht. Also überhaupt kein kleines bisschen, null, nada, niente. Diesen Spiritus hätte man zur Brandbekämpfung einsetzen können! Schließlich kochten wir unser gutes galizisches Rindfleisch in dem Öl über ein paar Teelichtern hellgrau und ertränkten es in Soße (außer Eiersoße, die war inzwischen im Hund). Allerdings nur kurz, denn das Ganze hatte so lange gedauert, dass das Kind nicht mehr sitzen bleiben wollte, und ich musste doch erst mit dem Glöckchen klingeln und die Musik wieder anmachen! Kurzum: Es war nicht sehr weihnachtlich, zumindest dieser Teil nicht.
»Fondue am Arsch vorbei!«, heißt es seitdem. Also nicht ganz, denn jetzt findet das Fondue-Essen am 1. Feiertag statt. Ganz gemütlich, in Jogginghosen, mit einer Soße weniger und das Kind kann währenddessen spielen oder mit am Tisch sitzen, wie es ihm gefällt. Niemand muss auf die richtige Musik, das Glöckchen und das Timing achten, oder darauf, ob die Geschenke schon an ihrem Platz liegen. Und am Weihnachtsabend selbst gibt es Harmonie-Würstchen mit Kartoffelsalat. Vielleicht wird das eine neue Tradition. Zumindest so lange, bis sie wieder jemand ändert.
DAS DARF MAN NICHT, WEIL BELDEIDIGT!
Ganz klar, niemand will Leute beleidigen. Also eigentlich will man das ziemlich oft, meistens im Straßenverkehr, aber im Groben und Ganzen hat sich der Konsens durchgesetzt, dass es für ein friedliches Miteinander ganz hilfreich ist, wenn man nicht in all den Momenten, in denen man sich denkt »Vollidiot«, laut sagt: »Vollidiot.« Diese Einsicht hat unzählige Beschäftigungsverhältnisse und Ehen gerettet, sowie Prügeleien verhindert, und lediglich wenn die Wut zu hoch kocht oder nach zu viel Bier kann dieser Konsens kurz in Vergessenheit geraten. Also sagen wir, niemand will aus Versehen Leute beleidigen.
Meine Erinnerung mag mich täuschen, aber ich habe den Eindruck, auf dem Gebiet der Empfindlichkeiten hat sich etwas getan:
Als ich vor vielen Jahren in einer Kneipe hinter dem Tresen arbeitete und meinem Kellner-Kollegen Peter und mir langweilig war, kamen wir auf die eventuell dämliche, aber eben auch sehr lustige Idee, die Hitler-Spezialwoche auszurufen. So wie McDonald’s Los Wochos feierte, um mexikanisches Zeug zu vermarkten, hatten wir die Hitler-Woche. Man muss unbedingt dazusagen, dass es sich bei der Kneipe nicht um den Ausschank eines rechtsextremen Vereinsheims handelte, sondern um ein linksalternatives Kneipenkollektiv – deswegen fanden wir es ja auch so lustig. Peter malte sich ein Bärtchen unter die Nase, schlug an den Tischen die Hacken zusammen und fragte die verdutzten Gäste freundlich: »Ond?« Das Brot vorneweg wurde zum »Hitlergruß aus der Küche«, und egal was die Gäste bestellten, Peter bot stets braune Soße dazu an.
Ich erspare Ihnen die Aufzählung aller Wortwitzchen zu dem Thema, nur soviel: Wir hatten Spaß. Die Gäste hatten mit uns Spaß und lachten herzlich über den HEIL-Butt und veget-arische Gerichte , aber es gab auch Gäste, die das geschmacklos und doof fanden und uns erklärten »Das macht man nicht« und »Darüber macht man keine Witze«. Die Mehrheit waren Alt-68er, die doch noch Anwälte und Zahnärzte geworden waren, an französischem Rotwein nippten und in Altbauwohnungen rundherum wohnten. Rückblickend muss ich sagen: Eventuell war das damals schon geschmacklos und doof, und seitdem die Rechtsextremen so aus dem Ruder gelaufen sind, würde uns das heute vielleicht auch nicht mehr einfallen. Über solche Dinge kann man sich austauschen, irgendjemand wird die Aktion von damals bestimmt unter aller Kanone finden und jemand anders nicht.
Haben Sie jetzt Angst, ich verteidige rassistische Witze? Verstehe ich – ich habe bei meinen Mitmenschen auch immer die Befürchtung, gleich kommt irgendwas, das irgendeine vollkommen unerträgliche Haltung offenbart. Da meldet sich eine Studienkollegin aus alten Zeiten und nach dem ersten Smalltalk, was aus uns geworden ist, tut sich hast-du-nicht-gesehen ein Abgrund auf, der einen entsetzt und ratlos macht. Irgendwas mit den Handys von Geflüchteten oder dass die Fridays-for-Future-Kids erstmal den Dreisatz lernen sollten oder Ähnliches. Was waren das für goldene Zeiten, als dieser Abgrund lediglich die Aufforderung war, bei einem Pyramidensystem einzusteigen oder irgendwelche Kosmetik bei ihr zu ordern, damit habe sie sich jetzt nämlich selbständig gemacht.
Ich breche jetzt aber gar keine Lanze für diejenigen, die verletzende Dinge von sich geben und Kritik daran als »Sprachpolizei« bezeichnen und behaupten »Man darf ja gar nichts mehr sagen«. Überhaupt nicht. Ich habe aber festgestellt, dass es eine neue Art gibt, mit der mir Leute auf die Nerven gehen können, einfach dadurch, dass sie sich moralisch erhöhen. Das Thema zum Zweck ist dann fast egal. Vorbildlich macht das Dirk, ein Freund von L., der Konversationen regelmäßig innerhalb der ersten zehn Minuten durch eine Frage dieser Art unterbricht:
»Waaaas? Du/Ihr _______________________???« sowie:
»Waaaas? Du/Ihr ______________________ NICHT ???«
Also wenn es in einem Gespräch über ein Rezept für Parmesansoße geht, die ganz hervorragend ist und super zu Roastbeef passt, sagt Dirk:
»Waaaas? Ihr esst immer noch Fleisch???«
Entdeckt Dirk in unserem Hausmüll einen Joghurtbecher, den ich aus Versehen nicht in den Plastikmüll sortiert habe: »Du weißt schon, dass der da nicht reingehört?«, und wenn wir noch mit runtergehen und ihn zum Auto begleiten und den Hund mitnehmen: »Lässt du den unangeleint laufen???«
Per Mail und persönliche Nachrichten werde ich dann von Dirk mit Informationen versorgt, die stets seine Ermahnung des letzten Gesprächs untermauern, und zwar anhand von Links zu Online-Artikeln, die sich mit dem Thema beschäftigen. »Waaaas? Du rauchst immer noch???« heißt es am Ende eines Abends im Angesicht meiner Zigarette und Zack! habe ich am nächsten Tag eine Studie über die Lebenserwartung von Rauchern im Posteingang. Dirk fragt auch ab, ob wir am Wahlsonntag ja zuhause sind, und wenn wir ihn im Auto mitnehmen, ob wir das Auto eigentlich oft benutzen? Er hat nämlich gar keins mehr. Und hätte er das richtig verstanden? Meine Mutter kommt mit dem Flugzeug, um uns zu besuchen? Denn das muss man sich ja auch erst mal trauen, in der heutigen Zeit.
Ich habe in solchen Momenten nicht nur große Lust, Dirk zu fragen, ob seine Frühstücks-Mango (»Sooo gesund! Müsst ihr probieren!«) eigentlich aus Ghana bis hierher gewatschelt ist – ich habe auch große Lust, mich danebenzubenehmen. Denn das Ding ist: Ich bemühe mich ja. An allen Fronten, wirklich.
Es gibt Leute, die tun noch viel mehr, als sich nur zu bemühen, und das ist großartig – das tut Dirk aber nicht. Der suhlt sich lediglich in dem Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Nicht auszudenken, Dirk wäre in unsere Hitler-Woche in der Kneipe geplatzt. Soweit muss man aber gar nicht gehen – es reicht, Sie provozieren mit so einer markigen Aussage wie: »Ich mag Brokkoli lieber als Kürbis!« Da können Sie aber in Deckung gehen, denn was Dirk daraus macht, ist: »Du willst also sagen, du magst Kürbisse nicht? Was ist falsch an Kürbissen? Und was ist eigentlich mit Blumenkohl, Karotten und Bohnen? Hm?«
Es ist zugegeben echt schwer, Dirks Drang zum absichtlichen Missverstehen zu unterscheiden von berechtigter Kritik an irgendetwas, aber ich bemerke, dass dieser Drang um sich greift. Ermahnungen von einem Dirk, der sich schützend vor alles stellt, ohne dass ich es angreifen würde, lassen so eine komische Stimmung entstehen, in der er sich wohl fühlt und ich mich schuldig – obwohl ich gar nichts getan habe.
Als wegen des Coronavirus der Staat eine Ausgangssperre verkündete, kursierte im Internet ein Foto von dem 80er-Jahre-Horrorfilm Shining (in dem ein Vater in der Einsamkeit eines abgeriegelten Hotels durchdreht und seine Familie umbringen will). Drunter hatte jemand geschrieben: Ein paar Wochen Isolation mit der Familie – was soll da schon passieren?
Also das ist vielleicht kein Meilenstein des feinsinnigen Humors, aber für einen schnellen Lacher reicht es allemal. Wissen Sie, was der Inhalt des ersten Kommentars unter dem Foto war? Raten Sie:
  1. War es: Haha!
  2. Oder: G EILER F ILM!
  3. Oder war es: Das ist eine Verharmlosung häuslicher Gewalt, so viele Frauen werden täglich Opfer häuslicher Gewalt, damit werden sie auch noch verhöhnt, danke!
Wie Sie bestimmt schon vermuten, ist die Antwort Nummer 3 richtig. Wie Sie hoffentlich ebenfalls vermuten, verurteile ich häusliche Gewalt ebenso sehr, wie ich die Opfer selbiger bedaure. Dieses Problem nimmt während solch einer Situation auch ganz sicher zu, aber die Neigung, wie im Affekt die Umwelt zu belehren, das schafft mich. Weil die Herrschaften natürlich im Prinzip Recht haben, aber hey – lasst doch mal die Kirche im Dorf. Sonst müsste man am Ende noch den Fasching im Kindergarten absagen, weil sich ein Clown, ein Batman und ein Dinosaurier durch die Verkleidungen der Dreijährigen aus der Pinguingruppe angegriffen fühlen könnten … Und natürlich kann man vermitteln »alles außer Indianerkostümen« und auch, warum (das ist den Kindern eh egal, das große Ding ist, dass sie keine Waffen mitnehmen dürfen, und das zu vermitteln ist ja auch kein Problem). An dieser Stelle sollte ich sagen, dass ich selbstverständlich das Dissen von ethnischen Gruppen, Berufsgruppen und ausgestorbener Tiere ebenso sehr verurteile, wie ich ihre Unterdrückung – und im Fall der Dinosaurier auch ihr Aussterben – bedaure. Ich sollte mich auch jedes Mal explizit als Feministin outen, bevor ich aus Versehen über einen Witz lache, der mein Geschlecht (also das weibliche Geschlecht generell, nicht mein persönliches Fortpflanzungsorgan) auf die Schippe nimmt. Aber wissen Sie was: Ich will das nicht. Es ist mir schlicht zu anstrengend.
Ich habe mich schon selbst dabei beobachtet, dass ich einen sehr schönen Spaß spontan belacht habe und mir im Moment darauf die Gewissensfrage selbst gestellt habe: War das jetzt in Ordnung von mir? Darf ich da lachen?
Dabei haben die Menschen, und das ist das Absurde daran, ein sehr genaues und untrügliches Gespür dafür, ob ein Witz nach unten tritt oder – nicht. Wenn er das tut oder wenn er generell menschenverachtend ist oder rassistisch oder sexistisch oder irgend so etwas Hirnverbranntes, dann finden wir es auch nicht lustig. Zumindest nicht, wenn wir keine Rassisten oder Sexisten sind und auch sonst noch alle Tassen im Schrank haben.
Aber dafür brauche ich keinen Dirk, das merkt man von selbst. Und dieses Wissen erlaubt mir zu lachen, ganz ohne dass ich dieses Lachen vorher eingehend beleuchte, ob es dort draußen erwünscht ist oder nicht. 3
Falls ich Ihnen damit auf die Füße trete, weil Sie tragischerweise erst vor kurzem einen Dinosaurier verloren haben, dann lassen Sie es mich mit einem anderen Beispiel veranschaulichen:
Als ich einmal mit meinem Stiefvater in seinem Auto unterwegs war, wandte er sich mit ernster Miene zu mir und sagte:
»Sag mal, weißt du eigentlich, was man macht, wenn man auf der Autobahn nicht mehr weiß, wo man ist?«, und ich schüttelte den Kopf und sah ihn gespannt an, in Erwartung einer total nützlichen Lebensweisheit, die mir irgendwann in der Not helfen würde.
Da hob er wichtig den Zeigefinger und sagte: »Ganz einfach! Man dreht um und macht das Radio an!«
Und noch während ich irritiert in meinem Kopf nach einer Gedankenverbindung suchte, brach er in schallendes Gelächter aus und schlug sich mit der Hand auf den Oberschenkel. Falls Sie auch so langsam kapieren wie ich: Man wartet darauf, dass im Radio die Meldung kommt, dass zwischen Oberdings und Neubums ein Geisterfahrer unterwegs ist, und schon weiß man, wo man ist. Sagen Sie nichts, ich weiß, dass das ein echt lauer Witz ist. Aber wer möchte, kann jetzt sagen, dass jedes Jahr im Schnitt zwanzig Menschen durch Geisterfahrer auf deutschen Autobahnen ums Leben kommen, und eindringlich in leicht erhöhtem Tonfall: »ES GEHT HIER UM MENSCHENLEBEN!«
Das kann man praktisch immer machen – und ich sollte wohl hinzufügen, dass ich Witze, die menschliches Leid herabwürdigen, ebenso sehr verabscheue, wie ich deren Schöpfer verachte.
Es gibt doofe, mitteldoofe und lustige Witze, die treten manchen auf die Füße und anderen nicht: Ich zum Beispiel komme aus Bayern, und ich musste über diesen Tweet recht breit schmunzeln:
Pray for Bayern!
Da ist nichts passiert, mir tun nur die Leute leid, die da leben 4
Überraschung: Einige Bayern sind deswegen eingeschnappt. (Dirk wiederum würde sich darüber aufregen, dass die Pray-for– Phrase für einen Witz missbraucht und somit wahrhafte Anteilnahme verspottet wird.)
Aber wenn wir soweit mit uns im Reinen sind, lassen wir uns nicht von Dirk kirre machen. Wer sein Umfeld absichtlich missversteht, um zu belehren und sich besser zu fühlen, ist nicht um die Welt, um andere oder gar um sein Gegenüber besorgt, sondern nur um sich selbst. Und schlimmer noch: Es lenkt von Dingen ab, die wir tatsächlich ändern müssen, und sei es nur im Sprachgebrauch, zum Beispiel weil sie von den Betroffenen selbst als beleidigend empfunden werden. Ist ja nicht schwer! Wie gesagt, ich komme aus Bayern. Hier sind sie stolz darauf »Oachkatzlschwoaf« sagen zu können. Da kann »Paprikasauce Ungarische Art« ja kein Problem sein.
DAS DARF MAN NICHT, WEIL MAN SONST EIN SCHLECHTER MENSCH IST!
Ganz klar, es gibt eine Menge Dinge, die einen, wenn man sie denn tut, als schlechten Menschen outen. Leute umbringen zum Beispiel. Schlecht. Ganz schlecht. Mit Waffen oder Plutonium handeln, betrügen, bebomben und in der Pause einer langen Autofahrt erschöpft an der Tanke einen Kaffee im Wegwerfbecher kaufen … oh, wait:
Vielleicht ist das gar nicht sooo schlimm. Also das mit dem Kaffee. »Doch«, sagt Dirk. Seit er den Joghurtbecher in meinem Hausmüll gesehen hat, ist er da wachsam. Das ist er, weil er die Umwelt und das Klima schützen will (unter anderem), und ich finde das ein super Anliegen, und auch wenn Dirk mir das nicht abnimmt: Ich will das alles auch. »Aber der Wegwerfbecher …«
Ja nun.
Wann hat das eigentlich angefangen? Also, ich meine diese Idee, dass diejenigen, die den Müll produzieren, schon mal nicht verantwortlich sind für die Vermüllung des Planeten – sondern Eva Meier, die vor dem Joghurt-Regal steht.
Eva Meier ist durch ihren Konsum außerdem schuld an der Massentierhaltung, an den schlechten Arbeitsbedingungen der Erntehelfer, und weil sie sich ein Handy gekauft hat, auch gleich an der Suizidrate der Belegschaft des Elektronikunternehmens in Taiwan, das die Teile dafür liefert.
Diese Verschiebung der Schuld ist schon ziemlich alt und außerdem genau so gewollt: Bereits in den 1950er-Jahren gab es in den USA eine Kampagne mit dem wunderbaren Namen Keep America Beautiful , mit dem Ziel, die zunehmende Vermüllung durch Einweg-Plastikprodukte einzudämmen. Was in der Kampagne nicht gefordert wurde: staatliche Rahmenbedingungen, die Unternehmen zwingen, weniger Müll oder umweltfreundlichere Verpackungen zu produzieren. Stattdessen war ein Indianer zu sehen, der mit seinem Kanu durch einen vermüllten Fluss paddelt, im Hintergrund qualmende Schlote und verstopfte Autobahnen. Aus dem Off ertönte dazu eine sonore Stimme: »People start polution, people can stop it.« (Menschen beginnen mit der Umweltverschmutzung, Menschen können sie stoppen.) Es hieß wohlgemerkt nicht: »Wachstumsorientierte Wirtschaftsriesen beginnen mit der Umweltverschmutzung, Wachstumsorientierte Wirtschaftsriesen oder die Politik können sie stoppen.«
Finanziert wurde die Kampagne zu einem großen Teil von Firmen wie Coca Cola, Pepsi Cola und Philipp Morris, also von Konzernen, die einen Großteil der Einwegverpackungen produzieren, die in der Umwelt landen. Mülltüten, Wattestäbchen, Strohhalme, Plastikflaschen für Shampoo oder Getränke, all der Kram. Das heißt so viel wie: Hier, kauft diesen, unseren unverträglichen, umweltschädlichen Müll, den man nach einmaligem Benutzen wegschmeißen muss, aber habt wenigstens ein schlechtes Gewissen dabei, und seht zu, wie ihr dieses Problem in den Griff bekommt! Grüße!
Und dann sitzt man da auf dem Sofa und sieht sich eine Doku darüber an, wo unser Müll eigentlich hintransportiert wird und wie es dort deswegen aussieht, und fühlt sich schrecklich, weil man sich heute schon wieder mit einem Wattestäbchen im Ohr rumgebohrt hat. Ich bekomme das weltweite Müllproblem einfach nicht in den Griff, das muss ich mir eingestehen, und das, obwohl ich so gut es geht, Verpackungsmüll vermeide und recycle und alles – aber: Ist die Lösung des weltweiten Müllproblems eigentlich meine Aufgabe? Und warum wird es mir so schwer gemacht? Bei der Müllvermeidung und auch beim »korrekten« Einkaufen?
Wenn ich versuche, korrekt einzukaufen, muss ich auf Zack sein, weil Hersteller verschleiern, wo ihr Zeug herkommt, wo es verpackt wurde und, falls lebend, wo es wie aufgezogen und gefüttert wurde, wie ihre Arbeiter gehalten werden und welche Strecken Arbeiter und Tiere auf sich nehmen mussten. Bezeichnungen sind absichtlich irreführend, Inhaltsstoffe ohne Lupe und Lexikon der chemischen Grundbegriffe nicht lesbar, Verpackungsgrößen täuschen über den tatsächlichen Inhalt und … und so weiter. Ich weiß nicht, welche Nudeln mit Eiern ohne Kükenschreddern hergestellt wurden und ob der Mozzarella von einer Kuh stammt, die schon mal Tageslicht gesehen hat, und irgendwie denke ich, das ist meine Verantwortung, das herauszufinden und eventuellen Täuschungsmanövern der Industrie nicht auf den Leim zu gehen. Und dann kommt mir in den Sinn, wie cool das wäre, wenn ich einfach Dinge kaufen kann, weil ich weiß, dass die geltenden Standards garantieren, dass dieser Einkauf kein Desaster für Tier, Mensch oder Umwelt darstellt. Es wäre doch total toll, wenn es Leute gäbe, die sich, gerne gegen Steuergelder, genau darum kümmern – oh Moment. Die gibt es ja.
Ich möchte diese Verantwortung hiermit zurückgeben, an die Verursacher und an die Stellen, deren Job es ist, diese Verursacher in die Pflicht zu nehmen. Deswegen mache ich trotzdem mit beim lokalen Cleanup-Event, und ich versuche trotzdem, die Umwelt zu schonen, aber ich will mit meinen persönlichen Kaufentscheidungen der Politik nicht die Arbeit und den Konzernen nicht die Verantwortung abnehmen. Ich will nicht, dass wir uns gegenseitig Vorwürfe machen (beziehungsweise Dirk mir), anstatt das große Ganze zu sehen. Und ich kann mich für den Umweltschutz einsetzen und trotzdem saumüde an der Tanke den Kaffee to go kaufen ohne meine Glaubwürdigkeit zu verlieren.
ALSO WANN IMMER IHNEN SO ETWAS BEGEGNET
Den CSU-ler darf man nicht.
Den Sex, den man gerne hätte, darf man nicht.
Gefallen wollen darf man nicht.
RTL statt Arte darf man nicht.
DIE SPECIALS
Als Mutter darf man nicht …
Als Frau darf man nicht …
Als politisch korrekte Person/Feministin/Verheiratete/Single/20-oder 50-jährige/Türkin oder Angelsächsin darf man nicht …
Würstchen an Weihnachten darf man nicht.
Witze über Bayern darf man nicht.
Die Dings-Musik darf man nicht, und die Y-Filme sind Schund.
Den Kaffee an der Tanke darf man nicht …
… und außerdem – Zucker!
Oder setzen Sie ein, was bei Ihnen nicht gedurft werden darf und dann schicken Sie das mit einem eleganten Schwung – Zack! – genau: am Arsch vorbei.
Das darf man eben alles schon. Und lassen Sie sich bloß nicht verrückt machen von denen, die sagen »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!«. Natürlich dürfen sie. Sie dürfen über alle Themen diskutieren, die Ihnen in den Sinn kommen, und all das passiert ja auch. Und über all das können wir uns austauschen, und man kann auch mal nicht einer Meinung sein, und auch das darf man. Nur diese Diskussion als Ort für Hass und Hetze missbrauchen, das ist halt unter aller Kanone.
So schlau wie ich daherrede über Vielfalt und dass es völlig in Ordnung ist, wenn man selbst oder jemand anders irgendeiner festgelegten Norm nicht entspricht, so schwierig ist, hat es sich herausgestellt, das im Affekt auch anzuwenden – und zwar in dem Moment, in dem ich einen neuen Mann kennengelernt habe (unnötig zu sagen, dass Jana sich sehr lange und sehr laut ins Fäustchen gelacht hat).
Wo der plötzlich herkommt? Und was mit L. passiert ist? Warten Sie – ich schiebe da schnell ein Kapitel zum Thema ein.