Die Sonne schien ins Zimmer, als Leyland am nächsten Morgen aufwachte. An einem Ort das zweite Mal aufzuwachen, war noch keine Gewohnheit; aber es ließ sie ahnen. London, England, hatte er gestern nacht zu Kenneth Burke gesagt. Da hatte er ihn zum ersten Mal lächeln sehen. Leyland blickte zu seinem Haus hinüber. Er saß auf einer Kiste, rauchte und hielt das Gesicht in die Sonne. Der Hund trottete durch den Garten.
Als Leyland an Warren Shawns Schlafzimmer vorbeikam, fiel sein Blick auf Tom Courtenays Buch, das mit den Seiten nach unten immer noch auf dem zweiten Bett lag. Er nahm es mit nach unten, und bei der ersten Tasse Kaffee schlug er es vorne auf. Warren — what a pleasure to meet you, hatte Courtenay hineingeschrieben. Wo mochte er ihm begegnet sein? Dem Vorwort hatte Courtenay Worte seiner Mutter über das Schreiben der Briefe vorangestellt: Its just something that makes a moment stay and you don’t forget that time that’s all. Leyland setzte sich an Warrens Schreibtisch, nahm aus der Schublade ein Blatt und schrieb: Es ist einfach etwas, was einen Augenblick festhält, und dann vergisst man diese Zeit nicht, das ist alles. Das ist alles war nicht gut, dachte er, es klang zu sehr wie: mehr ist da nicht. Als wäre es eine Kleinigkeit, etwas Unbedeutendes, die Zeit anzuhalten und das Vergessen aufzuhalten. That’s all musste man hier übersetzen mit: darum geht es. Oder doch nicht? Vor that’s all würde man eigentlich ein Komma erwarten. Nun war Courtenays Mutter gewiss nicht jemand gewesen, der es mit Rechtschreibung und Zeichensetzung allzu genau nahm, sie schrieb ja auch its statt it’s. Und doch: Das Weglassen des Kommas, das beinahe atemlose Verschleifen mit dem Vorherigen schuf eine charmante Beiläufigkeit, die Leyland im Deutschen gern nachgebildet hätte. … dann vergisst man diese Zeit nicht darum geht es — nein, das konnte man nicht machen; dann schon eher: … dann vergisst man diese Zeit nicht das ist alles. Warum? Und was war mit makes a moment stay? War nicht lässt einen Augenblick verweilen besser, poetischer? Aber aus der Feder von Tom Courtenays Mutter? Making stay. Leyland schloss die Augen und hörte in die Worte hinein, bis er ganz in ihnen drin war. War es nicht auch etwas wie: zum Stehen bringen? Den Augenblick dem Entgleiten, dem Verfließen entreißen? Und war dann nicht festhalten doch besser, präziser?
Die Sonnenstrahlen auf dem Parkett waren gewandert. Er hatte die Zeit vergessen. Er hatte gearbeitet. Mit Worten gearbeitet. Er hatte es in London, England, getan. Und er hatte es tun können, ohne befürchten zu müssen, dass ihm die Worte jeden Moment entgleiten könnten. Wie damals. Er holte eine zweite Tasse Kaffee und zündete sich eine Zigarette an. Jetzt war er bereit, noch einmal dorthin zurückzukehren. Er öffnete die Mappe mit seinen letzten Briefen an Livia und las.
Cara —
ich bin dabei, die Sprache zu verlieren. Zwar kann ich seit einer Stunde wieder reden und schreiben wie vorher. Doch weiß ich nicht, wie lange noch. Ich weiß nicht, ob die Spitze meines Stifts das Ende dieses Briefes noch erreicht, das Ende dieses Satzes, das Ende dieses Worts. Ich weiß nicht, wann sich wiederholen wird, was gestern geschah, als ich die Kontrolle über den Stift verlor. Er zog mit einemmal wirre Linien, trudelte und rollte, und ich musste, gelähmt vor Entsetzen, zusehen, wie alle Ordnung aus den Zeichen verschwand. In jedem Augenblick kann das von neuem geschehen.
Die Lähmung spürte ich erst in der schreibenden Hand, dann im Arm und im rechten Bein. Links blieb alles intakt; es war, als trennte eine unsichtbare Linie die beiden Hälften des Körpers. Und sie war nicht vollständig, die Lähmung. Mit Mühe konnte ich die Glieder bewegen, aber nicht so, wie ich wollte, und nicht mit der gewohnten Selbstverständlichkeit. Der plötzliche Verlust war mit einem Erschrecken verbunden, das tief in mich hineinschnitt. Mir war, als hätte ich die Hälfte meiner selbst verloren. Dass die Worte nicht mehr kamen wie sonst, merkte ich erst, als ich Sophia anrief. Zum Glück war das Telefon in Reichweite, und ich wählte mit meiner ungeschickten linken Hand mühsam ihre Nummer. Als sie sich meldete, geschah es: Ich konnte keine normalen, ganzen Sätze bilden. Das Entsetzen über die Lähmung der Glieder war nichts, verglichen mit dem Erlebnis dieser Unfähigkeit. Es war keine Unfähigkeit des Denkens, sondern des Sprechens: Ich wusste, was ich sagen wollte, doch die Wörter, die sich zu einem vollständigen Satz gefügt hätten, kamen nicht. Sie kamen nicht! »Papà?« fragte Sophia. »Yes«, sagte ich. »Come. Quick. Stroke.«
Unsere Tochter, sie muss blitzschnell reagiert haben; es dauerte keine Viertelstunde, bis ich die Sirene des Krankenwagens vor der Tür hörte und Sophia mit dem Notarzt hereinkam. In jenen Minuten, während mir der Mund trocken wurde und das Herz bis zum Hals hinauf schlug, versuchte ich, ganze Sätze in den Raum hinein zu sprechen. Please come quickly, I think I have suffered a stroke, versuchte ich zu sagen. Es wollte nicht gelingen, und als ich mir ans Gesicht fasste, war es nass vor Schweiß. Es war nicht, dass ich keinen klaren, gegliederten Gedanken hätte fassen können, oder dass sich mein Geist sonst getrübt hätte. Eher war es so, als wären mir die nötigen Worte und die Ordnung, in der sie kommen sollten, entfallen — aus dem Geist gefallen —, so dass es nicht zu mehr reichte als zu einem Gestammel aus einzelnen Wörtern. Es war eine schreckliche Erfahrung der Ohnmacht: mich nicht mehr auf mich selbst verlassen zu können. Es kommt ja vor, dass einem ein Wort momentan entfallen ist; doch dieses Entfallen ist aufgehoben in dem tröstlichen, zuversichtlichen Wissen, dass es bald wieder dasein wird, nur eine Schwäche von kurzer Dauer, kein Anlass zu erschrecken. In jenem Moment und in den Stunden, die auf ihn folgten, war es anders: Zwar war, was ich spürte, nicht eine Gewissheit, dass die Worte nie wiederkehren würden — wie bei einem Gegenstand, der einem auf der Brücke entglitten und in den Fluten versunken ist —, aber doch die hilflose Furcht, viele meiner Worte könnten für immer weggerutscht sein, unwiderbringlich verschwunden, in das Dunkel einer Unverfügbarkeit geglitten, die keine momentane Schwäche bliebe, sondern ein Verlust auf Dauer.
Wie froh war ich, Sophia zu sehen! »Ganz ruhig«, sagte sie, »kein Grund zur Panik, es kann ganz harmlos sein, eine Störung in der Durchblutung, die schnell vorbeigeht.« Ich hatte am Telefon Englisch gesprochen — das waren Worte, die mir noch am ehesten zur Verfügung standen. Deshalb sprach sie jetzt, gegen ihre Gewohnheit, auch Englisch mit mir. Ich verstehe, was sie sagt, ich verstehe ihre Worte, dachte ich, es ist also nicht alles verloren. Dann hörte ich, wie der Notarzt und der Pfleger miteinander sprachen. Ich verstehe auch das, ich verstehe Italienisch! dachte ich. Inzwischen lag ich im Wagen auf einer Bahre, und Sophia saß neben mir. Sie sprach mit mir auf eine Weise, wie auch Du es getan hättest, und ich hörte ihr mit dem tiefen, erlösenden Vertrauen zu, das ich zu empfinden pflegte, wenn Du mich schützend auf etwas vorbereitetest, was mir Angst machen würde. »Sie bringen dich in die Radiologie«, sagte sie. »Es müssen Bilder deines Gehirns gemacht werden. Sie werden dich in eine Röhre schieben, Papà. Es ist eng dort, sehr eng. Und es ist laut — es rattert, knarrt und knattert, es brummt und dröhnt. Du mit deiner Klaustrophobie: Es wird eine Tortur sein. Aber es muss sein, sie müssen sehen, was los ist. Es hilft nur eines: Du musst die Augen die ganze Zeit geschlossen halten. Mach sie bitte auf keinen Fall auf! Denn der Abstand zwischen Gesicht und Deckenwölbung der Röhre ist klein, schrecklich klein. Versuche, dich auf deinen Atem zu konzentrieren, ihn langsam zu machen. Stell dir vor, du bist auf der Fähre nach Muggia. Stell dir das Wasser vor, die weiße Gischt, die du ja stundenlang betrachten kannst. Es dauert etwa zwanzig Minuten. Dann holen sie dich heraus, und ich warte draußen auf dich.
Sie schoben mich in einem Rollstuhl durch den Gang. Bei der Radiologie war Hochbetrieb, es ging hektisch zu, in meiner Erinnerung fliegen die weißen Mäntel, die Türen schwingen und knallen, die Stimmen sind laut und gereizt. Im Warteraum saßen mehrere Leute im Rollstuhl. Ich bin einer von ihnen, dachte ich, und es kam mir vor, als sei ich im Laufe der letzten Stunde aus der Welt der Gesunden hinabgestürzt in die Welt der Versehrten, die im Dämmerlicht des Raums, wie in einer Vorhölle, auf ihre schreckliche Diagnose warteten. Sophia kam mit einem Becher Wasser und einer Tablette gegen die Kopfschmerzen. »Ruhig atmen, Papà; Augen schließen; ans Wasser denken«, sagte sie und fuhr mir mit der Hand übers Haar.
Andere kamen vor mir dran. Es dauerte eine Ewigkeit. Ich suchte mein Gedächtnis nach Wörtern ab, arabischen, maltesischen, griechischen. Einige kamen, dann sprach ich sie leise vor mich hin, und manchmal übte ich sie still im Inneren. Ich hatte das Gefühl, sie einer — wie soll ich sagen — nebligen Trägheit entreißen zu müssen. Dann wieder dachte ich an Sophias Worte: eine Störung in der Durchblutung. Meine Migräneanfälle hatten ja nie eine Aura gehabt: keine Blitze, keine Sehstörungen, auch sonst keine Ausfälle. Konnte es trotzdem jetzt die Migräne sein? Eine seltene, komplizierte Variante davon? Konnte es sein, dass mangelnder Blutfluss die Worte blockierte, sozusagen austrocknete? Und dass mir der spätere Fluss des Blutes die Wörter wieder zutragen würde? Ich kann so etwas überlegen, dachte ich, ich kann nachdenken, ich bin also, abgesehen von den Wörtern, noch ganz im Besitz meines Geistes. Das beruhigte mich. Doch dann ließ mich ein anderer Gedanke aufschrecken: Ich muss es aufschreiben, aber ich werde es nicht aufschreiben können, vielleicht nie mehr.
»Sie sind Maximilian Brunner?« fragte die Assistentin und legte das Formular auf die Ablage. Nein, sagte ich und nannte meinen Namen. Sie warf einen Blick auf das Formular daneben. »Ach so, gut.« Sie half mir aus dem Rollstuhl und schob mich in die Röhre. Coffin, dachte ich. Zu harmlos, zu freundlich. Sarg. Das ist dunkler, härter, endgültiger. Ich habe die Augen nur einmal geöffnet und mit dem nächsten Lidschlag die sofortige Panik unterdrückt — den heftigen Impuls, die Arme anzuwinkeln und das Gehäuse mit aller Kraft zu durchstoßen, koste es, was es wolle. Dann kam das Rattern und Knattern, das dröhnende Gebrumm. Ich hörte Sophias beruhigende Stimme und stellte mir die weiße Gischt vor, dazu das Rauschen des Wassers und das Tuckern des Schiffsmotors. Doch mehr noch half mir, dass mir tebut einfiel, das maltesische Wort für Sarg, dann die albanischen Wörter, tabut und arkivol, Archiv, dachte ich, ich liege hier wie in einem Archiv, ich liege hier wie ein Toter in einem dröhnenden Archiv, einem knatternden Tabu-Archiv. Und wieder war ich glücklich zu spüren, dass mir nur die lauten Wörter der Sprache entglitten waren und nicht die stillen Wörter des Geistes.
Draußen warteten Sophia und Sidney. »Du mit deiner blöden Migräne«, sagte Sidney grinsend. »Du … blöd … Asthma«, sagte ich. Es ist ein Spiel zwischen uns. Wenn ich ihn besuche und rauchen will, gehen wir auf den Balkon. »Du mit deinem blöden Asthma«, hatte ich beim ersten Mal gesagt, als er den Rauch wegblies. »Du mit deiner blöden Migräne«, hatte er geantwortet, und dann waren wir in Lachen ausgebrochen. Von da an war es ein Ritual, ein kostbares Ritual der Verbundenheit. Ich war glücklich darüber, dass es uns auch jetzt trug, und dass ich unseren Sohn damit auf die gleiche Art erreichen konnte wie vorher. Wenn das Blut in meinem Gehirn wieder normal floss, würden auch meine Worte fließen wie gewohnt.
Ich bat die beiden, mir aus dem Rollstuhl zu helfen und mich beim Gehen zu stützen. Wir standen schon, da geschah etwas mit mir, was ich nicht hatte kommen sehen und was wie eine Explosion war, etwas Gewalttätiges, wie ich es an mir nicht kannte: Ich trat mit dem linken, dem festen Bein so heftig gegen den Rollstuhl, dass er krachend gegen die Wand stieß. Es war mir danach, hinterherzulaufen und noch einmal zu treten. »Nicht doch«, sagte Sidney und hielt mich mit festem Griff zurück. Die Leute auf dem Gang guckten betreten. »Andiamo!« sagte Sophia mit einem forschen Lächeln, das ihre Verlegenheit nicht zu überdecken vermochte. Sidney sah mich mit einem Blick an, für den ich dankbar war, denn er sagte: Das hätte mir auch passieren können. In jenem Moment war er mir so nahe wie schon lange nicht mehr.
Sie hätten für mich ein Bett reserviert, sagte Sophia, als wir den Flur entlanggingen. Vor einer Tür blieb sie stehen und öffnete sie. Im Zimmer lagen zwei Männer mit verbundenen Köpfen. Einer der beiden Männer stöhnte, der andere leckte sich die trockenen, aufgesprungenen Lippen. Es war unmöglich, nicht daran zu denken, wie ich mit einem solchen Verband aussehen würde. Und dass mein Kopf vorher kahlgeschoren würde. Abrupt drehte ich mich um. »No«, sagte ich. »In Ordnung«, sagte Sophia, »wir gehen ins Schwesternzimmer und warten auf Moretti, sie kennen mich dort ja noch.« Einen Moment zögerte sie, dann nahm sie die Wasserflasche vom Nachttisch und füllte die Gläser der beiden Männer nach.
Im Schwesternzimmer war niemand. Sie setzten mich auf einen Stuhl. Sophia nahm ein Lexikon aus dem Regal und blätterte hastig. »Es kann die Migräne sein. Hier: migraine accompagnée mit Lähmungserscheinungen und Sprachstörung, es ist eine Störung bei den Botenstoffen und bei der Durchblutung des Gehirns, es verschwindet in der Regel innerhalb eines Tages, die Symptome bilden sich vollständig zurück, danach ist alles wieder in Ordnung.« Sie nahm meine Hand und sah mich an. »Es ist nichts weiter als ein Migräneanfall. Anders als die Anfälle, die du kennst, aber trotzdem nur Migräne. Morgen ist alles vorbei. Es wird alles sein wie vorher. Tausende von Leuten haben das, in unregelmäßigen Abständen. Manche haben es nur ein, zwei Mal in ihrem Leben.«
Wir warteten auf Doktor Moretti, den Stationsarzt, der die Bilder sehen und uns den Befund mitteilen würde. Je länger es dauerte, desto fadenscheiniger erschien mir die Geschichte mit der Migräne. Es gab keinen Grund, warum die verfließende Zeit Zweifel säen sollte. Trotzdem. Sophia ging und sagte Bescheid, wo wir seien. Sidney las den Artikel im Lexikon. Dann las er ihn noch einmal. Er hielt mir das Buch hin. Ich schüttelte den Kopf. Als Sophia zurückkam, sah ich durch die offene Tür einen Patienten im Schlafrock und mit bunt bestickter Kappe auf dem verbundenen Kopf. Mit der Kappe, die an einen Fez erinnerte, schien er zu sagen: Gut, ich bin ein am Kopf Operierter, ein Beschädigter, beschädigt dort, wo es am gefährlichsten ist; aber ich bin immer noch genau derselbe wie zuvor, an mir selbst hat sich nichts geändert.
Schwestern kamen und gingen. Eine Stunde war vorbei, es war nach acht. Durch das geöffnete Fenster kam die Luft eines heißen Juliabends. Die Blätter des Ventilators an der Decke drehten sich mit einem leisen, schleifenden Geräusch. Wir warteten.
Als Doktor Moretti schließlich erschien, gehetzt und fahrig, öffnete er die Tür nur kurz. »Keine Hirnblutung«, sagte er knapp, »nichts, was wir heute nacht tun müssten. Die Bilder gehen morgen früh an Leonardi. Weil es dein Vater ist, wird er das selbst machen wollen. Neun Uhr in seinem Zimmer.« Er warf Sophia eine Schachtel mit Schlaftabletten zu. »Gib ihm davon zwei.« »Moment noch«, sagte Sophia und ging zur Tür. »Ich nehme ihn mit zu mir nach Hause. Nur, damit Sie Bescheid wissen.« »Auf deine Verantwortung«, sagte Moretti und war draußen.
In Sophias Badezimmer sah ich mich im Spiegel: Augenlid, Wange und Lippen hingen rechts ein bisschen herunter, es gab Bläschen im Mundwinkel, die ich nicht spürte. Am schlimmsten waren die Bläschen: ein Zeichen, dass ich nicht mehr wusste, was mit mir geschah.
»Das ist der Grund, warum ich als Schwester nicht auf die Neurologie wollte«, sagte Sophia plötzlich. »Köpfe, die in Gaze eingewickelt sind. Jeder andere Verband, an jeder anderen Stelle. Nicht dieser. Leonardi hätte mich gern auf der Station gehabt. Ich sagte ihm die Wahrheit. Va bene, sagte er, und nach einer Weile noch einmal: va bene. Das werde ich ihm nie vergessen, vor allem die Wiederholung. Er geht nach Mailand. Seine Leute werden ihn vermissen.« Es war nicht gut, dass sie das sagte. Jetzt sah ich wieder die weißen Köpfe in den beiden Betten vor mir. Ich fuhr mir durchs Haar und war froh zu spüren, wie voll es war.
Morettis Schlaftabletten habe ich nicht genommen. Ich wollte mich nicht betäuben und mir noch mehr abhanden kommen. Ich lag im Dunkeln auf Sophias Bett. Die Kinder müssen gedacht haben, ich schliefe. Und sie dachten nicht daran, dass die Tür nur angelehnt war. »Keine Hirnblutung, hat Moretti gesagt«, sagte Sidney leise. »Es kann also Migräne sein. Es könnte aber auch …« »Ja«, sagte Sophia, »es könnte.« »Nichts, was wir heute nacht tun müssten. Auch dann würde das stimmen«, sagte Sidney. »Ja«, sagte Sophia. »Er hat die Bilder gesehen. Sollen wir …« »Nein«, sagte Sophia heftig. »Wenn ich es hören muss — dann nicht von ihm.« Er hatte sie geduzt, sie hatte Lei zu ihm gesagt. Es war gut zu wissen, dass ich das bemerkt hatte. Ich war noch da. Noch.
Das Wort Tumor haben wir nicht in den Mund genommen. Manchmal nimmt das Wort einer Sache den Schrecken, und es ist eine Befreiung, es auszusprechen. Doch manchmal spüren wir: Das Wort würde den Schrecken noch größer machen. Dann halten wir es unter Verschluss. Und manchmal verwechseln wir die beiden Fälle.
Ich fiel in einen unruhigen Schlaf und träumte von Zimmern mit weißen Köpfen, es schien eine endlose Flucht von Zimmern und Köpfen. Ich schlug mit den Ellbogen gegen die Wand der Röhre. Ich trat gegen den Rollstuhl und merkte, dass mir das Bein nicht gehorchte. Draußen wurde es früh hell, ein heißer Julimorgen.
Wir wurden von Leonardis Sekretärin in sein Sprechzimmer geführt. Auf dem Schreibtisch lag der Umschlag mit den Bildern. SIMON CURTIS LEYLAND stand in den großen Buchstaben eines Filzstifts drauf. Mein Name auf dem Papier, unter dem die Bilder meines Gehirns lagen: Ich spürte, wie mir heiß wurde. Niemand sollte in mein Gehirn hineinsehen dürfen, niemand, nicht in mein Gehirn, das war etwas, was niemanden etwas anging, es erschien mir wie ein unglaublicher, unerträglicher Eingriff, eine widerwärtige Indiskretion, eine Invasion meiner Person, die man hätte verhindern müssen, um jeden Preis. Einen Moment lang war ich versucht aufzustehen, den Umschlag an mich zu reißen und zu verschwinden. Aber ich hätte es ja nicht gekonnt!
Leonardi betrat den Raum mit energischen, fließenden Bewegungen, auf dem Gesicht ein Lächeln, das die Erinnerung an einen Scherz mit der Sekretärin sein mochte. Das Lächeln erlosch, als er den bangen Ausdruck auf unseren Gesichtern sah. Er nickte Sophia und Sidney zu und streifte mich mit einem prüfenden Blick, dann setzte er sich. Er sah mich an. »Sie sind Signor Leyland?« Ich nickte. »Sie verstehen Italienisch?« Wieder nickte ich. »Würden Sie mir bitte sagen, wie es Ihnen heute morgen geht?« Leonardi sprach seine Frage ruhig und sanft aus. Es kam mir vor, als läge in seinen Worten ein Versprechen: Sie brauchen keine Angst zu haben, ich weiß das, was Sie sagen werden, richtig einzuordnen.
Panik überkam mich. Ich kann es doch nicht sagen. Sophia berührte mich an der Schulter. »Versuch es einfach, Papà«, sagte sie. »Es ist doch Doktor Leonardi.« Ich glaube, ich stammelte etwas wie: »I … not know … say.« Sophia schloss die Augen auf die Art, auf die sie sie immer schließt, wenn sie dagegen kämpft, von Gefühlen übermannt zu werden. Ihr Gesicht wurde hart und kantig. »Man würde sich daran schneiden, wenn man es berührte«, hast Du einmal gesagt.
»Das ist nicht schlimm, das kann passieren«, sagte Leonardi, und ich war ihm dankbar, dass er es nicht wie zu einem Kind sagte, sondern wie zu einem Erwachsenen, dem etwas Harmloses misslungen ist. »Würden Sie jetzt beide Arme ausstrecken«, und er machte es vor, indem er die Arme auf gleiche Höhe brachte. Ich streckte den linken Arm aus und versuchte, den rechten nachzuziehen. Es ging besser als in der Nacht, aber der Arm schaffte es nicht auf gleiche Höhe und sank dann kraftlos herunter. »Immerhin, es geht doch schon wieder«, sagte Leonardi. Ich klammerte mich an seine Worte und spürte den verzweifelten Wunsch, sie möchten bedeuten, dass es nur ein ungewöhnlicher Anfall von Migräne sei, wie das Lexikon ihn beschrieb.
»Dann wollen wir mal sehen, was die Bilder sagen«, sagte Leonardi jetzt und zog die Bilder aus dem großen Umschlag. Es gab ein reibendes, schleifendes, körniges Geräusch, ein Geräusch voller Unheil. Er klemmte die Bilder mit raschen, routinierten Bewegungen an den erleuchteten Röntgenschirm und setzte sich wieder.
Er sah es sofort. Gewiss hatte er schon viele solcher Bilder gesehen. Trotzdem erschrak er. Während er vorgab, genauer hinsehen zu müssen, geschah etwas mit seinem Gesicht, das schwer zu beschreiben ist. Vielleicht könnte man sagen: Das Gesicht wich eine Spur zurück, gewissermaßen nach innen, wie unter der saugenden Wucht einer unsichtbaren, feindlichen Energie, und die Züge schienen unter dieser Wucht zu zerlaufen, zu zerfließen wie auf einem Aquarell vor dem Trocknen.
Jetzt drehte er mir das Gesicht zu, und gleichzeitig griff seine Hand nach dem Zeigestock auf der Ablage, es war, als suchte er Halt am Stock, oder vielleicht auch am Greifen, um das, was er sagen musste, mit fester Stimme sagen zu können. Das Gesicht, das sich vorher unter der Wucht des Schreckens schutzlos geöffnet hatte, hatte sich wieder zu festen, entschlossenen Zügen zusammengefügt — zu den Zügen eines Arztes, der es gewohnt war, schreckliche Diagnosen zu verkünden. Doch ganz bereit war er noch nicht. Für ein paar Sekunden sah er mich schweigend an, und es kam mir vor, als bäte er mit seinem Blick zum voraus um Entschuldigung für das, was er sagen musste. Vielleicht aber zögerte er einfach bei dem unaufhaltsamen, grausamen Gedanken, dass er gleich Worte sagen würde, die in der Seele des Mannes, der ein bisschen schief vor ihm auf dem Stuhl saß, alles verändern würden.
Die Hand schloss sich fest um den Zeigestock. »Es gibt keine Möglichkeit, Ihnen das schonend beizubringen«, sagte er jetzt, drehte sich zu den Bildern und fuhr mit dem Stock die Konturen eines unregelmäßigen, in vielfältigen Grau- und Weißtönen heraustretenden Gebiets entlang, das sich vom übrigen Teil des Gehirns grell und schreiend abhob, wie eine Mondlandschaft mit Kratern von giftiger Helligkeit und sandigen, nach außen wuchernden Flächen in matterem Grau. »Es ist ein Tumor«, sagte Leonardi. »Und leider bösartig. Ein Glioblastom. Glioblastoma multiforme in der Fachsprache. Was Sie hier sehen …«, wollte er fortfahren, da bin ich abrupt aufgestanden und die wenigen Schritte zum offenen Fenster gegangen. Die Bewegungen gelangen mir besser als erwartet, es war, als würde ein unbändiger, panischer Wille, ein Fluchtwille, alle Hürden der Lähmung überspringen und dem Körper eine Kraft verleihen, die er eigentlich gar nicht hatte. Sidney ist aufgesprungen und hat mich gehalten, bis er sicher war, dass ich fest stand. Die Hand am Fenstergriff, blickte ich in den Regen eines heftigen Morgengewitters hinaus. Ich wünschte mir, in diesen Regen hinausspringen und auf der Stelle alles auslöschen zu können.
»How much time?« fragte ich. Es waren die einzigen Worte, die kamen, und ich war froh, dass überhaupt welche kamen. »Schwer zu sagen«, sagte Leonardi. »Wenn wir nichts machen: ein paar Monate, vielleicht ein Jahr. Etwas länger, wenn wir schneiden und bestrahlen. Ganz beseitigen oder aufhalten können wir ihn nicht. Ein Eingriff würde …« »Nobody cut … my brain«, unterbrach ich ihn und erschrak über die heisere Heftigkeit meiner Stimme. Ich umklammerte den Fenstergriff so fest, dass es weh tat. »Nobody open head. No rays.«
Ich löste die Hand vom Fenstergriff und holte zitternd eine aufgerissene Zigarettenpackung aus der Hemdtasche. Ich schüttelte sie und fischte dann mit den Lippen eine heraus. »Papà …«, begann Sophia. Leonardi machte eine beschwichtigende Handbewegung. Er sah sich um, holte aus dem Regal eine Schale, trat neben mich und stellte sie auf den Fenstersims. »Rauchen Sie ruhig«, sagte er und berührte mich am Arm. »Und natürlich zwingt Sie niemand zu einem Eingriff.« Dann setze er sich wieder an den Schreibtisch. Intervento, dachte ich, Eingriff. Jemand greift in den Kopf hinein. Ins Gehirn!
Das Feuerzeug fiel mir aus der Hand. Sophia hob es auf und gab mir Feuer. Ein Windstoß trieb den Rauch ins Zimmer. Leonardi hustete. Die Zeit stockte. Sie würde erst wieder fließen, wenn ich etwas sagte. Ich nahm noch einen Zug. Dann drückte ich die Zigarette in der Schale aus. »Thank you«, sagte ich, »thank you very much.« Ich sagte es, glaube ich, nicht scharf, nicht schneidend, und doch kamen mir meine Worte wie ein Schnitt vor, der die Verbindung zu allen anderen durchtrennte. Ich machte einen Schritt auf die Tür zu. Sidney und Sophia sprangen auf und stützten mich. »Möchten Sie die Bilder mitnehmen?« fragte Leonardi. »No!« sagte ich, und dieses Mal muss es schneidend geklungen haben. »Va bene, dann kommen sie ins Archiv«, sagte er ruhig. Sophia drehte sich noch einmal um und warf ihm einen Blick zu. Dann gingen wir hinaus.