Zurück in Warren Shawns Haus, las Leyland den ersten Brief, den er an Livia geschrieben hatte, nachdem ihr gemeinsames Leben mit unbegreiflicher, grausamer Plötzlichkeit zu Ende gegangen war. Bevor er ihn zur Hand nahm, rief er sich die Empfindungen in Erinnerung, aus denen heraus er zum Stift gegriffen hatte. Es war gewesen, als müsse er sich mit Worten gegen etwas zur Wehr setzen, was sonst nicht zu ertragen war. Schreiben als Notwehr.
Cara —
es sind erst wenige Tage vergangen, seit wir Dich gefunden haben, still und erloschen. Seither bist Du mir anders gegenwärtig als in den zwanzig Jahren zuvor. Wenn ich in jener Nacht zu Dir hinüberblickte, traf Dich mein Blick nicht mehr an. Was er antraf, waren Dein Gesicht und Deine Gestalt, durch die Du für uns stets aufs lebendigste gegenwärtig gewesen warst und die zu beweisen schienen, dass Du es auch jetzt noch seist. Doch die Reglosigkeit in Gesicht und Gestalt, die mit jedem weiteren Moment, den sie andauerte, an Endgültigkeit gewann, ließ diese Gegenwart immer weiter ausbleichen und verwandelte sie für den Betrachter in eine leblose Anwesenheit, ein bloßes Vorhandensein. Es war unmöglich, diese Verwandlung ohne innere Gegenwehr geschehen zu lassen; es hätte bedeutet, Dich ganz und gar zu verlieren. Und so begann ich, ohne dass ich es beabsichtigt hätte und ohne es richtig zu bemerken, an Deinem stillen Gesicht vorbei in Gedanken mit Dir Verbindung aufzunehmen.
Es ist schwierig, die neue Gegenwart, die Du für mich auf diese Weise gewonnen hast, zu beschreiben. Es ist eine andere Gegenwart als die, die Du für mich hattest, wenn Du in einem anderen Zimmer, außer Haus oder auf Reisen warst. Da konnte ich zu Dir gehen oder Dich anrufen, und dann wurdest Du für die Sinne anwesend. Deine neue Gegenwart ist durch das Wissen geprägt, dass das nie mehr geschehen wird. Soll ich sagen, dass Du nun, wo ich Dich außen nicht mehr antreffen kann, in mir bist? Aber Du bist mir nicht so gegenwärtig wie eine Episode des seelischen Lebens, ein Schmerz, eine Angst, ein aufflammendes Gefühl, und auch nicht so wie ein Erinnerungsbild oder ein Bild der Phantasie. Wenn ich Dir jetzt schreibe, so spreche ich zu Dir und nicht zu einer Vorstellung von Dir. Natürlich erinnere ich mich dabei an Dich, und meine Worte werden von vielen Vorstellungen begleitet. Doch die Gegenwart, die Du für mich hast, ist nicht einfach die dieser Erinnerungen und Vorstellungen, sie ist noch etwas ganz anderes. Es haftet ihr nichts Gespenstisches an, nichts Esoterisches, sie kommt mir ganz einfach und natürlich vor, und doch fehlen mir die Worte, wenn ich sie erklären soll.
Jemand möchte vielleicht sagen, dass ich gar nicht wirklich zu Dir spreche, sondern zu mir selbst. Und natürlich gibt es diesen Unterschied zu früher: Ich weiß, dass Du mir nicht antworten kannst. Deshalb ist es ein einseitiges Sprechen. Trotzdem ist es anders, als wenn ich nur zu mir selbst spreche, sei es laut oder im stillen. Das eine ist, dass die Gedanken, wenn sie aufgeschrieben werden, auf andere Weise zu existieren beginnen: Ich kann ihnen, statt sie nur zu vollziehen, nun mit einer erwägenden und prüfenden Distanz gegenübertreten, sie erlöschen nicht gleich wieder, sondern haben Bestand und sind etwas, auf das ich stets von neuem zurückkommen kann. Indem sie in geschriebenen Worten zum Ausdruck kommen, erlangen sie eine Bestimmtheit, die sie vorher, als stille und flüchtige Episoden des Geistes, nicht besaßen. Und durch diese Bestimmtheit lerne ich erst richtig kennen und verstehen, was ich denke und wer ich in diesen Gedanken bin.
Ist es so nicht auch, wenn man Tagebuch schreibt? Auch dabei klärt und fixiert man den Inhalt des Geistes, wie man es nur durch Worte kann. Und man richtet sich dabei an niemand anderen als an sich selbst, den Leser der eigenen Worte. Inwiefern ist es anders, wenn ich Dir schreibe? Der Unterschied liegt in dem Bedürfnis, Dir meine Gedanken mitzuteilen und sie in Deinem Geist zu spiegeln — auch wenn es nur eine hypothetische und stille Spiegelung ist. Es macht einen großen Unterschied, ob ich etwas nur für mich selbst denke oder ob ich es für einen anderen darlege, sei es auch nur in Gedanken. Auch in der bloß gedachten Darlegung, die mit keiner Erwiderung rechnen kann, unternehme ich die weitläufige Anstrengung, mich im Denken und Fühlen für einen anderen Geist zu öffnen, mich ihm zu erklären und verständlich zu machen. Und es ist nicht irgendein Geist, sondern der Deine. Was ich Dir schreiben werde, wird von dem Bedürfnis geleitet sein, mich für Dich, wie ich Dich kenne, verständlich zu machen. Ich werde auf Deine Erwartungen, Überlegungen und Gefühle, wie ich sie mir vorstelle, eingehen, selbst wenn ich davon nicht spreche. Dein stilles Urteil wird mir immer ein Maßstab sein, auch wenn ich davon abweichen sollte. Es wird immer ein Zwiegespräch stattfinden, auch wenn ich Deine Stimme nicht ausdrücklich zu Wort kommen lasse. Ich werde mich darin aufgehoben fühlen, auch wenn mich nie mehr Worte von Dir erreichen werden.
Ich war es, der Dich fand. Ich war durstig aufgewacht und sah auf dem Weg in die Küche den Lichtschein im Wohnzimmer. Das Licht der Stehlampe war an, und Du saßest in der Ecke des Sofas, in der Du zum Lesen oft saßest, manchmal ja bis tief in die Nacht. Eine halbvolle Tasse Tee stand auf dem Ecktisch. Du hattest in einem Manuskript gelesen. Dein Oberkörper war zur Seite geneigt, der Kopf, leicht gedreht, war nach vorne gesunken. Die Augen hinter der roten Brille hattest Du geschlossen. Die Hand, mit der Du im Manuskript Notizen gemacht hattest, war aufs Polster gerutscht, der Stift war Dir entglitten und lag am Boden. Auch der Arm, der das Manuskript gehalten hatte, war erschlafft, der Text war Dir vom Schoß gerutscht und wurde nur von der Armlehne daran gehindert, auch zu Boden zu gleiten.
Noch schlaftrunken, dachte ich im ersten Augenblick, Du seiest eingeschlafen. Doch schon als ich quer durchs Wohnzimmer ging, wurde mir klar, dass es so nicht sein konnte. An Deinem Körper war alles erloschen. Es war niemand mehr da, den man hätte aufwecken können, das spürte ich mit einer Klarheit, die mich erstarren ließ. Vor Dir stehend, sah ich, dass Du nicht mehr atmetest. Ich muss nach den Kindern gerufen haben, denn plötzlich waren sie da. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich Dir die Brille abnehme, Deinen Kopf halte und Dich doch noch aufzuwecken versuche. Ich sehe das Gesicht der Kinder vor mir, ratlos, bleich vor Entsetzen. Sophia holte ein zusätzliches Kissen für Deinen Kopf. Sie tat das Manuskript auf den Tisch und legte Deine Hände in Deinen Schoß.
Still, fast regungslos, blieben wir sitzen, ich weiß nicht, wie lange, die Zeit der Uhren war in jener Nacht außer Kraft gesetzt. Wir spürten, ohne darüber ein Wort zu verlieren: Noch wollten wir niemanden rufen, noch sollte die Welt draußen bleiben. Ab und zu trafen sich unsere Blicke. Es waren Blicke der geteilten Fassungslosigkeit, der entsetzten Ungläubigkeit und der Anstrengung, im Ansturm von Schmerz und Angst nicht unterzugehen. Manchmal streiften unsere Blicke Deine reglose Gestalt auf dem Sofa nur, doch manchmal blieben sie auch länger auf ihr ruhen, und dabei spürten wir bei uns selbst und bei den anderen die gewaltige Anstrengung, die es kostete, dem Anblick standzuhalten.
Wenn ich den Blick dann wieder abwandte, war es, weil ich diese schreckliche Reglosigkeit nicht länger ertragen konnte. Bilder von Dir, wie Du ranntest, gestikuliertest, lachtest und tanztest, wie Du mit Deiner Energie, Deiner Wachheit und Deinem unbändigen Willen in den nächsten Augenblick, die nächste Stunde, die nächste Zukunft hineingingst, überfluteten mich plötzlich. Es konnte doch nicht sein, dass all das zu Ende war, abgeschnitten und vernichtet von einer plötzlichen und unwiderruflichen Stummheit und Regungslosigkeit. Die Bilder Deiner Lebendigkeit, mit der wir alle gelebt und geatmet hatten, stürzten heran mit der Wucht einer gewaltigen inneren Brandung, einer Brandung, die wie eine unbeherrschbare Revolte war. Ich hörte Deine Schritte auf dem Parkett im Verlag, dazu Deine Stimme, wenn Du telefoniertest, ich sah, wie Dein Haar fliegen konnte, auf dem Boot oder wenn Du ranntest, ich sah, wie Du die rote Brille ins Haar schobst und lachtest, die Espressotasse in der Hand, ich hörte Dich toben, wenn Du Dich betrogen fühltest, ich saß neben Dir im Auto, wenn Du im Alfa Romeo plötzlich das Gaspedal durchtratest, so dass man in den Sitz gedrückt wurde — es konnte doch nicht sein, dass all das von einem Moment auf den anderen zu Ende war, unwiderruflich, nein, nein, das konnte einfach nicht sein.
Und wenn ich dann doch wieder den Mut aufbrachte, zu Dir hinzusehen, schien Dein stilles Gesicht noch ein bisschen stiller geworden zu sein. Deine Züge schienen eine Spur weiter zurückzuweichen, es war ein Gesicht, das sich aus der Welt zurückgezogen hatte und nie wieder dahin zurückfinden würde. Die Haut schien noch einmal eine Nuance blasser geworden zu sein, das ganze Gesicht überzog sich langsam und unaufhaltsam mit dem Eindruck der Abgeschiedenheit, es war, als vollendete die schiere Reglosigkeit ihr eigenes, zerstörerisches Werk.
»Ich möchte, dass wir hören, was sie zuletzt gelesen hat«, sagte ich. »Dass wir die Worte hören, die sie als letzte vor sich gesehen hat, und die Gedanken denken, die sie als letzte gedacht hat.« Sidney nahm das Manuskript und begann, aus dem Text vorzulesen. Er las und las, ich setzte mich in Gedanken an Deinen Platz und hörte mit Deinem Geist zu, ich hörte die Worte und dachte die Gedanken, wie Du sie meiner Vorstellung nach gelesen und gedacht hattest. Ich tat es mit solcher Hingabe, dass es mir für Momente zu vergessen gelang, dass Du nie mehr ein Wort hören und nie mehr einen Gedanken denken würdest.
Sidney hörte auf vorzulesen. »Hier hören ihre Markierungen auf, hier hat sie aufgehört zu lesen«, sagte er tonlos. Eine Weile blieb sein Blick noch auf dem Text, dann klappte er das Manuskript zu und legte es zurück auf den Tisch. »Sie hat auch Musik gehört«, sagte Sophia und zeigte auf den Plattenspieler, bei dem das Lämpchen an war. Sie ging und schaltete ein. Es waren Partitas für Klavier von Bach. Nach einer Weile stand sie auf und löschte das Licht. Wir haben die ganze Platte gehört. Im Dunkeln versuchten wir uns vorzustellen, wie die Töne für Dich geklungen hatten. Wir hatten Angst vor dem Ende der Musik und waren jedesmal froh, wenn es nach einer Pause noch weiterging.
Das fahle Licht eines regnerischen Wintermorgens sickerte durch die Vorhänge. Langsam tauchte Dein weißes Gesicht, vom Kissen gestützt, aus der Dunkelheit auf, und es war unerträglich, denken zu müssen: Das beginnende Licht wird nichts mehr ändern. Ich ertappte mich bei der verborgenen Hoffnung, mit Anbruch des Tages möchte alles vorbei sein, und Du möchtest zusammen mit uns in den neuen Tag eintreten. Sie war so mächtig, diese Hoffnung, dass sie sich, kaum dass der Verstand sie korrigiert hatte, erneut Bahn brach. Nie zuvor hatte ich auf diese Weise erlebt, dass etwas endgültig war: durch nichts rückgängig zu machen. Es war nahezu unmöglich, diesem Gedanken Raum zu gewähren.
Ich habe mich neben Dich aufs Sofa gesetzt. Ich habe es spontan und ohne Überlegung getan. Kaum war die Bewegung vollendet, wusste ich sie nicht mehr zu deuten. Die Kinder haben darin den Wunsch gesehen, mit Dir noch eine Weile allein zu sein, und sind hinausgegangen. In der Nacht hatte ich Deinen Kopf gehalten und gespürt, wie erkaltet Dein Gesicht bereits war. Ich wollte diese Kühle nicht noch einmal spüren. Du sahst bleich aus und abgeschieden, zurückgezogen aus der Welt, für immer. Eingefallen sahst Du noch nicht aus, aber man konnte ahnen, dass es bald geschehen würde. Wie nimmt man in einem solchen Moment Abschied? Was ist die richtige Weise, und was bedeutet die Redensart? Ich habe versucht, Dein stilles Gesicht offen und furchtlos zu betrachten, begleitet von dem Gedanken: Sie wird nie mehr aufwachen. Lange habe ich diesen Blick nicht ausgehalten. Ich schloss die Augen und dachte zurück an das, was Du nach dem Tod Deines Vaters und Deiner Mutter gesagt hattest. Tot und dead, sagtest Du, seien schreckliche Wörter von dumpfer Grausamkeit, Du würdest hören, wie jemand mit der stumpfen Seite eines Beils auf einen morschen Baumstumpf schlüge. Außerdem seien es Wörter, die merkwürdig abrupt endeten, vorzeitig, noch bevor sie richtig zu Ende seien. Auch morto sei schwer und grausam, aber weniger abrupt und weniger wie ein Schlag, das Schwere liege in der wiederholten Dunkelheit der beiden Silben, und Du dachtest an einen Tunnel ohne Ausgang, der sich steil nach unten in die Erde bohrt.
Du siehst: Ich ließ Dich, neben Deiner reglosen Gestalt sitzend, über Wörter reden, es war unser erstes Zwiegespräch. Und es ging weiter, dieses Zwiegespräch. Du hättest Dir gewünscht, sagtest Du damals, dass man Deine Eltern kremieren könnte, sie selbst hätten es sich auch gewünscht. Die Vorstellung, verwesen zu müssen, war ihnen schrecklich. Doch das Gesetz ließ es nicht zu, obgleich die Kirche schon lange keine Einwände mehr hatte. Vor kurzem nun hatten wir beide gelesen, dass das Gesetz geändert worden war, und wir versprachen uns, von der neuen Möglichkeit Gebrauch zu machen. Das Feuer, sagtest Du, ist nicht etwas, was man dem Toten antut, es ist ein Schritt, der dem Verfall und der Verwesung zuvorkommt, ein befreiender Schritt also. Du hättest gewollt, dass man Deine Asche auf See verstreute. Um als Körper ganz zu verschwinden. Doch das lässt das Gesetz noch nicht zu. Und so wurde Deine Urne zu Deinen Eltern in die Grabwand gestellt. Es war für mich nur noch ein symbolischer Akt, in dem Du nicht mehr gegenwärtig warst.
Es war inzwischen taghell, es gab Leute, die die Straße entlanggingen, es gab den Bus und in der Ferne die Sirene der Feuerwehr, die Uhr schlug von der Kirche her die Stunde, es war alles wie immer, und es war alles fremd und überflüssig und ging uns nichts an. Das stille Zwiegespräch hat mir am Ende geholfen aufzustehen und zum Telefon zu gehen. Es war, als würdest Du mich nun bitten, Dir zu helfen. Ich strich Dir ein letztes Mal übers Haar und übers Gesicht, und im Moment der Berührung hatte ich für einen Augenblick das Gefühl, Dich noch einmal erreichen zu können. Dann sah ich das Auto der Polizei und des Notarztes in unsere Straße einbiegen und dahinter den langen schwarzen Wagen. Sidney ist hinausgerannt, als sie kamen. »Ich wollte nicht sehen, wie sie Maman wegtrugen«, sagte er, »ich wollte es um keinen Preis sehen, das durfte nicht das letzte Bild von ihr sein, und die ganze Zeit, während ich um eine Biegung nach der anderen lief, bis hinauf in den Wald, musste ich dagegen ankämpfen, es mir vorzustellen, und ankämpfen musste ich auch gegen das schlechte Gewissen, Dich und Sophia damit allein gelassen zu haben.« Sophia ist neben mich getreten, als sie Dich wegtrugen. Wir drehten uns um und blickten in den regnerischen Tag hinaus. Wir haben gemeinsam gehört, wie die Tür ins Schloss fiel.
Dein Platz war leer, und Deine Abwesenheit füllte den Raum. Die halbvolle Tasse Tee stand immer noch auf dem Ecktisch. Niemand hatte sie angerührt, und doch stand sie jetzt anders da als in der Nacht. Sie war nichts mehr, nach dem Du noch greifen würdest, und doch war es auch nicht so, dass sie einfach dastand wie andere Gegenstände, sie zeugte immer noch von dem Leben, in dem sie eine Rolle gespielt hatte und das unwiderruflich zu Ende war. Wir haben sie immer wieder betrachtet, die Tasse, und haben sie stehenlassen. Schließlich nahm Sophia sie behutsam vom Tisch und trug sie in die Küche. Ich bin ihr nachgegangen und habe zugesehen, wie sie die Tasse ausspülte und zum Trocknen ins Gestell legte. Sie tat es langsam, zögerlich, und am Ende stützte sie sich auf den Rand des Waschbeckens, als ob ihr schwindlig sei.
Das Wegräumen der Tasse war, so kam es mir vor, die erste in einer langen Reihe von Handlungen, die uns von Dir wegführten, hinein in ein Leben ohne Dich. Gegen jede einzelne dieser Handlungen haben wir uns gesträubt, bis die Umstände uns dazu zwangen. Jemand hatte Deinen Stift vom Boden aufgehoben, und nun lag er neben Deiner Brille auf dem Tisch. Beides haben wir tagelang dort liegenlassen. Die Teetasse war etwas Zufälliges gewesen, etwas Dir Äußerliches, und deshalb empfanden wir es nicht als Eingriff in Dein Leben, wenn wir sie wegräumten. Die Brille und Dein Stift dagegen — es kam uns, wenn wir ans Wegräumen dachten, wie ein Angriff auf Dich als Leserin vor, auf Dich, die Du so sehr eine Frau gewesen warst, die las und schrieb und nachdachte. Erst Tage später habe ich sie bei mir auf den Fenstersims gelegt, an einen Ort, wo mein Blick oft hinglitt.
Es gab eine Kleinigkeit, eine winzige Begebenheit, die sich mir eingeprägt hat: was Sophia mit Deiner Teetasse gemacht hat. Nach dem Ausspülen hatte sie sie zum Trocknen ins Gestell getan. Inzwischen war sie trocken. Sophia streifte sie mit ihrem Blick und blieb einen Augenblick lang reglos stehen. Jetzt nahm sie sie zögernd aus dem Gestell und öffnete den Geschirrschrank, um sie hineinzustellen. Sie hatte die Tasse schon angehoben, da hielt sie mitten in der Bewegung inne. Als griffe eine innere Sperre. Sie schloss die Schranktür wieder und setzte die Tasse auf die Ablage neben das Gestell. Sie verschob sie ein bisschen und dann noch einmal ein bisschen, es war, als könnte sie die Tasse nicht loslassen. Wir wussten alle nicht weiter, wir wussten es bis in die kleinsten Bewegungen hinein nicht.
An diesem Tag und an denen, die darauf folgten, lag in all unserem Tun ein Zögern und eine rückwärtsgewandte Ungläubigkeit: als sei es nicht richtig, wenn wir unser Leben ohne Dich fortsetzten. Als würde dadurch etwas zerstört, was wir hätten bewahren müssen. Dabei spürten wir, dass es nichts nützte, sich dagegen zu sträuben und zu stemmen, die Zeit stieß und trieb uns unbarmherzig in die nächste Stunde und den nächsten Tag hinein. Der Postbote brachte ein Paket für Dich. Wir machten es erst Stunden später auf. Deinen Namen auf dem Etikett zu lesen, war mit tiefem Erschrecken verbunden: Du würdest nie mehr auf etwas antworten können, was man Dir schickte. Das Telefon ließen wir klingeln. Irgendwann aßen wir eine Suppe. Wir taten es in der Küche und im Stehen, am Tisch mit einem leeren Platz zu sitzen, war unmöglich.
In dem Zimmer zu sitzen, in dem Du neben mir eingeschlafen und aufgewacht bist — plötzlich half kein Zwiegespräch mehr, die Wucht Deines Fehlens überwältigte mich. Doch dann begann ich Deinen Blick auf mir zu spüren, einen Blick, der von mir erwartete, dass ich in den Verlag gehen und Bescheid sagen würde. Auf dem Weg dahin ging ich in der Kanzlei Deines Anwalts vorbei. Ich ließ mir bestätigen, was ich eigentlich schon wusste: Ich war nun der Inhaber des Verlags. Als Du es vor Jahren so geregelt hast, kam es mir sehr abstrakt vor, wie etwas, was immer eine bloße Möglichkeit, ein reines Gedankenspiel bleiben würde, etwas, was mich gar nicht wirklich betraf. Und nun saß ich diesem Anwalt gegenüber, diesem Alois Furlan. Er traute mir den Verlag nicht zu. Ich könnte nicht sagen, dass er unfreundlich war oder herablassend, aber es war klar: Er traute es mir nicht zu. »Zum Glück haben Sie ja Vittorio Albanese«, sagte er.
Ich ging in eine Bar, trank einen Kaffee und dann noch einen. Die Gedanken überstürzten sich. Ich dachte zurück an die Wochen, damals in London, als wir geschwankt hatten, ob Du den Verlag übernehmen solltest. Und nun sollte der Verlag plötzlich mir gehören. Ich dachte an die Telefongespräche mit Dir, wenn Du von den Messen angerufen und über die Hektik gestöhnt hattest, über Nächte, in denen Du Manuskripte überfliegen und schnelle Entscheidungen treffen musstest. In solchen Momenten, sagtest Du, seist Du gar nicht mehr sicher, dass es damals richtig war, nach Triest zurückzukehren. All das würde nun auf mich übergehen. Konnte ich das? Wollte ich es?
Ich spürte, dass ich nicht geschlafen hatte, das Zeitgefühl geriet durcheinander. Eigentlich fühlte ich mich gar nicht in der Lage, in den Verlag zu gehen. Es war mir schwindlig, als ich die Treppen hochstieg und Albanese sagte, er möge alle zu einer Besprechung zusammenrufen. Ich weiß nicht mehr, was genau ich gesagt habe, ich war kurz und knapp, und es war danach sehr still im Raum. Sie möchten zunächst einfach weitermachen, sagte ich, über die Zukunft würden wir später sprechen. Dann ging ich in Dein Büro.
Deine Post lag auf dem Schreibtisch. Ich erschrak über Deinen Namen, der Dich nicht mehr erreichen konnte. Ich setzte mich auf Deinen Stuhl. Ich war ja nicht oft hier gewesen. In diesem Augenblick spürte ich, wie wenig Anteil ich an Deiner Arbeit genommen hatte, wie groß der Abstand war, den ich zwischen mich und den Verlag gelegt hatte, obwohl ich für ihn arbeitete. War das richtig gewesen? Musste es Dich nicht enttäuscht haben? Draußen begann es zu dämmern. Auf dem Flur hörte ich die Schritte der anderen, sie traten, so schien es mir, besonders leise auf. Ich blieb im Dunkeln sitzen. Ich spürte die Vorboten der Migräne. War es vorstellbar, dass ich in Zukunft hinter diesem Schreibtisch sitzen und den Verlag leiten würde? Ich setzte mich in Gedanken hinter die kleine, schäbige Empfangstheke des Belsize Retreat Hotels. Ich hatte Heimweh nach London, nach der tube, nach dem Nebel über der Themse. Was sollte ich machen?
Vera Santin kam herein. Sie machte das Licht an und fuhr zusammen, als sie mich sah. Ich hatte noch nie länger mit ihr gesprochen. Nun bat ich sie, sich zu setzen. Ob es Dinge gebe, die sofort erledigt werden müssten, fragte ich. Die Briefe in der Mappe, sagte sie. Ich schlug die Mappe auf und blätterte. Dein Name, darüber Platz für die Unterschrift. Meine Unterschrift sei ab sofort rechtskräftig, hatte der Anwalt gesagt. Doch es war unmöglich, ich spürte es sofort, als ich nach dem Stift griff. Sie möge in Deinem Auftrag unterschreiben, sagte ich zu Vera. Wir suchten beide nach Worten, um das Gespräch weiterzuführen, und fanden sie nicht.
Später setzte ich mich hier in Deinem Zimmer an den Schreibtisch. Die Kinder hatten das Zimmer nicht betreten. Auf dem Weg nach Hause nahm ich mir vor, es nicht zu einem unberührbaren Ort, einem Sanktuarium, werden zu lassen. Die Tür machte ich langsamer auf als sonst. Ein Rest Deines Parfums hing in der Luft. Ich trat im Dunkeln ans Fenster und sah hinaus, wie Du es so oft getan hast. Später machte ich Licht und sah mich um. Wie leer ein Raum sein kann. Ich setzte mich und zog die Mappe mit dem Briefpapier heran. Wenn ich wieder klar denken könnte, würde ich Dir auf diesem Papier zu schreiben beginnen. Ich betrachtete den Stift, mit dem ich es tun würde. Wir hatten ihn in Paddington gekauft, an einem regnerischen Frühlingstag vor langer Zeit.
Leyland legte den Brief zur Seite. Es war nicht nur Notwehr gewesen, ihn zu schreiben. Es war auch darum gegangen, durch das Suchen nach den richtigen Worten die Konturen seines Erlebens zu erkunden. Herauszufinden, was genau er empfand. Manchmal hatte er innegehalten und mit Verwunderung gespürt, dass er zum ersten Mal dabei war zu entdecken, wer er war.