In den nächsten Tagen nahm Leyland die Übersetzung von Cesare Paveses Tagebuch wieder auf. È bello vivere perché vivere è cominciare, sempre, ad ogni istante. Es ist schön zu leben, weil leben anfangen ist, immer, in jedem Augenblick. Zwei Tage nach diesen Worten war ihm damals der Stift entglitten. Danach war es für einige Zeit unmöglich gewesen, zu dem Buch und dem Satz zurückzukehren. »Aber Simon, die Übersetzung ist doch jetzt völlig unwichtig geworden«, hatte Sean Christie damals am Telefon gesagt, als Leyland ihm von der Diagnose erzählte. Doch dann hatte er weitergemacht, und nun, an Warren Shawns Schreibtisch, ging er den dicken Stapel der Blätter durch. Manchmal hielt er inne und setzte sich in Gedanken an all die Schreibtische, an denen er gearbeitet und nach den richtigen Worten gesucht hatte. Der Tisch hinter der Theke des Belsize Retreat Hotels. Er hatte gewackelt, und es hatte wenig genützt, Karton und Bierdeckel unter die Beine zu tun, er wackelte trotzdem weiter, weil der Boden uneben war. An der hinteren Ecke musste jemand etwas sehr Heißes hingestellt haben, da war ein Ring in den Lack gebrannt. Leyland erinnerte sich gerne an den Tisch, an ihm hatte er damals den Aufriss des deutschen Kinderbuchs übersetzt, sein erster Auftrag. In der lauten Wohnung in Camden Town hatte er am Küchentisch gearbeitet, weil die Küche nach hinten hinausging und es dort ruhig war. Harrington Gardens: sein erstes richtiges Arbeitszimmer, ein schwerer, geschnitzter Schreibtisch aus zweiter Hand, das müsse sein, meinte Livia. Doch der wahre Luxus lag darin, dass der Raum mit dem Fischgrätenparkett sonst leer blieb, die Bücher stapelten sich auf dem Boden, es sah nach Arbeit aus, nach Leben, und sie lachten, wenn Sophia mit ihren vier Jahren nach den Büchern griff und vorgab zu lesen — was sie bald danach auch konnte. »Wie ich dich kenne, wirst du ganz nach oben ziehen, unters Dach, der Raum ist wie für dich gemacht«, sagte Livia am Telefon, als sie in Triest das Haus gefunden hatte, in das sie ziehen würden. Dort hatte er dreizehn Jahre gearbeitet, umstellt von deckenhohen Regalen, die vollgestopft waren mit Büchern und Manuskripten. Er saß an seinem Tisch aus schwarz lackiertem Holz, kein Schreibtisch, keine Schubladen, ein einfacher Tisch, und es machte nichts, dass man ihn mit einem Keil stützen musste, damit er nicht wackelte. Den Tisch nahm er mit in seine Wohnung am Kanal. Er vermisste ihn, als er jetzt mit der Hand über Warren Shawns Schreibtisch fuhr, einen Schreibtisch wie von einem Kolonialherrn, Warren mokierte sich über das bombastische Möbelstück, aber er liebte es, und an diesem Tisch waren mehrere Bücher entstanden.
Er war erstaunt, wie weit er mit der Übersetzung gekommen war, mit dem Stift gegen den vermeintlichen Zerfall in seinem Kopf ankämpfend. Der nächste Satz lautete: La ricchezza della vita è fatta di ricordi, dimenticati. Es ging um das verzögernde Komma am Ende des Satzes. In einer deutschen Übersetzung ließe sich das Komma einfach übernehmen: Der Reichtum des Lebens besteht aus Erinnerungen, vergessenen. Doch wie war es im Englischen? Life’s richness is made of memories, forgotten. Ging das? Oder musste das Komma weg: … memories forgotten?
Er sah, dass Kenneth Burke im Garten mit dem Hund spielte. Er ging hinüber und zeigte ihm den Satz. Komma oder nicht? Burke nahm das Buch und setzte sich auf eine Kiste. »Komma«, sagte er nach einer Weile. »Ist wichtig für den Sinn. Nimm es weg, und es klingt albern: Der Reichtum des Lebens besteht aus vergessenen Erinnerungen. Kurz und trocken, peng. Und im Grunde sinnlos, denn wie könnten all die Erinnerungen, wenn sie einfach nur vergessen wären, den Reichtum ausmachen? Das wäre doch ein Reichtum, den man gar nicht kennte, nicht kennen könnte. Und wie könnte es dann Reichtum sein? Das Komma ändert alles: Erst werden wir daran erinnert, wie wichtig Erinnerungen sind — wieviel vom Leben Erinnerung ist —, und dann, nach dem Komma, werden wir daran erinnert, wie oft wir diesen Schatz vergessen, und ich lese die Verzögerung im Komma auch als Aufforderung, sich diesen vergessenen Schatz wiederzuholen — durch Erinnern. Dann ist es ein tiefer, ein wegweisender Satz. Das Komma macht aus einem banalen, tumben Satz einen großen Satz.« Leyland sah ihn an. »Was ist?« fragte Burke. »Rede ich Unsinn?« »Nein, Kenneth«, sagte Leyland, »das Gegenteil, das genaue Gegenteil. Was du sagst, könnte gar nicht richtiger sein. Und ich bin — wie soll ich sagen — glücklich, dass du mit mir zusammen über dieses Komma nachgedacht hast. Nun weiß ich, dass du verstehst, was ich dort oben die ganze Zeit mache«, und er deutete auf das Fenster des Arbeitszimmers. »Ja, doch, ich habe so eine Idee«, sagte Burke. »Ich habe ja auch Warren dort oben sitzen sehen. Manchmal ist er herübergekommen und hat mich gefragt, wie dieser oder jener Satz klinge. Ich mochte das.«
Leyland holte sich die Kiste, an der Billy schnüffelte, und setzte sich neben Burke. »In der Zeit, als ich mit der falschen Diagnose lebte, hat mich oft die Frage beschäftigt, was wichtig ist. Ich habe darüber mit einem Mann gesprochen, den ich als einen Freund betrachte. Andrej Kuzmín. Er ist Russe und übersetzt für den Verlag Texte von Exilrussen. Er sprach davon, wie er in den Nachrichten die Bilder von Elend sieht und dann unsicher am Schreibtisch sitzt. ›Kann man im Ernst darüber nachdenken, ob man ein Komma oder ein Semikolon setzen soll, wenn andere nicht wissen, wo sie schlafen können, ohne zu erfrieren?‹ fragte er.« Burke zog an der Zigarette. »Manchmal, wenn ich Warren dort oben sitzen sah, wie er in seinem bequemen, warmen Haus über seinen morgenländischen Texten brütete, dachte ich an die armen Teufel in Hackney, denen ich geholfen hatte. Fünf Leute in einer Einzimmerwohnung, feucht, schimmelig, Geruch nach Abort und schlechtem Essen. Ich habe dir ja erzählt, wie mich soziale Ungerechtigkeit empört. Aber es war in Ordnung, dass Warren dort oben saß. Das hatte mit Warren zu tun, mit der Art, wie er war. Aber auch mit der Leidenschaft für Worte und Gedanken. Davon hatte ich zu wenig, irgendwie. Es gibt, denke ich heute, keine Rangliste des Wichtigen, auf der man Elend und Kommata vergleichen könnte. Wichtig — das ist nichts Einheitliches. Der Russe — er soll ruhig über sein Komma nachdenken.«
An diesem Tag vergaß Leyland über seiner Arbeit die Zeit. Er hatte in der frühen Dämmerung sogar die Lampe angemacht, ohne es zu merken. Später, während auf dem Herd der Reis gar wurde, las er in der Küche einen Brief an Livia, in dem er diese Erfahrung beschrieben hatte.
Cara —
wenn mich eine Übersetzung gefangennimmt und mich ganz in sich hineinzieht, weg von der Welt, dann vergesse ich alles und blicke nach Stunden erstaunt auf die Uhr: Wo ist die Zeit geblieben? Das ist nicht ein Erlebnis des Verlusts und des Versäumens, es ist glückliches Erstaunen darüber, dass es mir — anstrengungslos — gelungen ist, meine innere, ganz eigene Zeit zu leben und mich vom Diktat der Uhrzeit zu lösen, ein Gefühl der Freiheit. Wenn ich aus dieser Erfahrung erstaunt und glücklich auftauche, scheine ich für einen kurzen Augenblick die indische Lehre zu verstehen, dass bei sich selbst sein ein Überwinden der Zeit ist, und dass die Zeit, wie wir sie messen und besprechen, verglichen damit eine pure Illusion ist. Ich will dann mehr davon, ziehe am hellichten Tage die Vorhänge zu und den Stecker des Telefons heraus. Eigentlich gibt es die Zeit gar nicht, sagen die indischen Lehrer, sie ist bloßer Schein, Ausdruck der Selbstvergessenheit, ja eigentlich die raffinierteste und tückischste Form dieser Vergessenheit, ihre offizielle Form, der alle huldigen als der Grundform der Wirklichkeit, auf die hin alles auszurichten ist. Dabei ist sie etwas ganz Illusorisches, das uns gefangenhält und von uns selbst entfremdet. Der zwanghafte Blick auf diese scheinbare Wirklichkeit, diesen Wirklichkeitsschein, ist die eine große Barriere, die uns den Weg zu uns selbst versperrt und uns im Gefängnis der zeitlichen Äußerlichkeit festhält. Wir hetzen diesem Schein, dieser Fata Morgana, ein Leben lang hinterher, den Blick ängstlich und schwitzend auf die Uhr gerichtet.
Stets sind es Wörter, die mir helfen, den Bann der Zeitlichkeit zu brechen. Etwas im Geiste der Poesie, also ganz der Form und der stimmigen Melodie verpflichtet, in Worte fassen: Es ist ein Weg, sich von der Illusion der Zeit als Form der Geschäftigkeit freizumachen. Poesie verlangsamt die Zeit, hebt sie auf und befreit uns von ihr, sei es die Poesie der Worte in der Literatur oder die Poesie der Töne in der Musik. Sie schafft Gegenwart, eine gewissermaßen ewige Gegenwart, ewig, weil sie immer da ist und durch nichts aufgehoben werden kann. Wie ärgerlich ist es deshalb, wenn im Konzert der letzte Ton verklungen ist, die Leute aufstehen und die Kleider zu rascheln beginnen. Der Ärger, den ich darüber empfinde, ist tief und heftig, denn von diesem Moment an zählt wieder das Falsche: die Uhrzeit, die Luftspiegelung der Zeiger. Und ein ähnlicher Abstieg wird mir zugemutet, wenn das Telefon klingelt und die Welt der falschen Zeit durch das Instrument hindurch höhnisch nach mir greift. Eben noch war ich ganz bei mir selbst, in Worte versunken, die richtigen Worte, und nun dringen die falschen Worte an mein Ohr, Worte, die nach Datum und Uhrzeit fragen und mich zwingen, den Kalender aufzuschlagen, mein Leben zu berechnen und auszurechnen, mich in die Zeit der Uhren und Kalender hinaus zu zerstreuen, und nachher ist es schwer, in die Poesie und ihre zeitlose Gegenwart zurückzufinden. Hätte ich nur nicht abgehoben, denke ich, hätte ich bloß nicht abgehoben!
Seit ich Dir schreibe und Dir mein Leben erzähle, habe ich eine neue Form der Versunkenheit kennengelernt. Es ist die Versunkenheit in die Erinnerung. Bedeutsame Erinnerungen besitzen eine Macht, die wie Magie anmuten kann: Sie können den geschäftigen, lauten Fluss der äußeren Zeit außer Kraft setzen und uns in eine längst vergangene Situation zurückversetzen. Wir bleiben mitten im lärmenden Verkehr stehen und sind plötzlich ganz woanders, viel näher bei uns selbst als im Trommelfeuer der äußeren Eindrücke. Neulich blieb ich so auf dem Corso stehen und befand mich plötzlich mit Dir im Zug von Aylesbury nach London und einige Momente später im Wohnzimmer von Richter Escott, der über David Cliburn und seine verzweifelte Tat sprach. Auch später noch, in Pats Kneipe, hielten mich diese Bilder gefangen, und ich vergaß, die Pizza zu essen.
Dabei kann die Zeit des Erinnerns lang sein, weil die Zeit des Erinnerten lang ist. Oder die Zeit des Erinnerns ist lang, das Erinnern dauert und dauert, weil mich der kurze Moment des vergangenen Geschehens stets von neuem fasziniert, die Faszination im einen Augenblick facht die Faszination im nächsten an.
Wenn ich meine Erinnerungen hier am Tisch zu Papier bringe, geschieht mit ihnen noch etwas anderes als auf der Straße. Ungestörte Erinnerung bringt eine Aufmerksamkeit mit sich, die in die Tiefe des Erinnerten zu blicken vermag. Hingegeben an eine vergangene Szene, spüre ich, wie entscheidend sie gewesen ist und was sie zu meinem Leben beigetragen hat. Wie ich in der Mansarde des Belsize Retreat Hotels auf dem Bett liege und die Sirene der Feuerwehr höre. Wie ich nachts in Harrington Gardens das Telefon höre, das damals, als Dein Vater gestorben war, so laut und hartnäckig geklingelt hat. Und wie ich damals, mit siebzehn, nach London fuhr, Paddington Station, Jugendherberge, ein Geruch nach Knoblauch und Putzmittel. Was in der Ruhe solchen Erinnerns wächst, ist Verstehen: So habe ich es erlebt, so entstand das eine aus dem anderen, so bin ich geworden, wer ich bin. Die Zeit des Erinnerns ist eine Zeit des Verstehens. Es ist, so will es mir vorkommen, das Bedürfnis nach solchem Verstehen, das die tiefe Versunkenheit schaffen kann, von der ich gesprochen habe.
Ich bin versucht zu sagen: In der Erinnerung sehe ich die Dinge zum ersten Mal richtig — so, wie sie sind. Weil ich mich ihnen in der Stille ganz konzentriert widmen kann, unabgelenkt von dem sonstigen Geschehen, das sie bei der ersten Begegnung umspült hat. Etwa, wenn ich jemandem in einer lauten, lebhaften Gesellschaft begegne. Der Mann oder die Frau machen einen großen Eindruck auf mich, und ich spüre sofort, dass sie mich weiterhin beschäftigen werden. Aber ich werde im Gewühl gezogen und gestoßen, das Gesicht verschwindet in der Menge, und ein Schwall von anderen Eindrücken schiebt sich zwischen mich und jene Wahrnehmung. Später, auf dem stillen Weg nach Hause, holt die Erinnerung das Gesicht hervor, und nun kann ich so lange und so ungestört dabei verweilen, wie ich will. Ich löse es aus den übrigen Eindrücken heraus und betrachte es ganz ruhig — wie zum ersten Mal. Die erinnerte Gegenwart als die besonnene Gegenwart, die nicht nur Wucht des Eindrucks ist, sondern Erkenntnis.
In diesen Tagen bereitete sich Leyland auf die Reise nach Oxford vor, die er sich vorgenommen hatte. Es war ja, äußerlich gesehen, keine lange Reise. Doch im Inneren würde er eine große Distanz zurücklegen, denn er wollte sich vergegenwärtigen, was eigentlich mit ihm geschehen war, als er damals, statt zur Schule zu gehen, in den Zug nach London gestiegen war. Vier Jahre zuvor war die Mutter verunglückt. Der Verlust war so groß gewesen, dass er, auch Jahre danach, manchmal wie betäubt durch die Gegend lief und in der Schule immer öfter versagte. Und der Vater? Was hatte er mit seiner Flucht zu tun?
Hier, in diesem Haus, hatte er mit Warren Shawn über den Vater gesprochen. Das war in den Tagen gewesen, bevor er Livia und den Kindern nach Triest gefolgt war. In jenen Tagen hatte ihn eine merkwürdige, unverstandene Verlassenheit überkommen, und er hatte in Harrington Gardens oft mit Migräne im Bett gelegen. Triest — war das richtig? Warren Shawn freute sich, als er vor der Tür stand. Das war der Nachmittag, als er ihn wegen seines Zögerns zunächst beinahe ausschimpfte, und es war auch der Nachmittag, als er plötzlich verstand, dass der Traum von all den Sprachen des Mittelmeers eigentlich nur ein Traum war und vielleicht besser ein bloßer Traum bleiben sollte — eine Art Metapher für die Leidenschaft der Wörter, wie er dann in seinem Brief geschrieben hatte. Warren hatte dann gekocht, und in der Küche hatte er über seinen Bruder gesprochen. Zum ersten Mal erfuhr Leyland, was der frühe Tod von Lydia Sartorius für ihn bedeutet hatte. Dass er im Verborgenen zu trinken begann, im Beruf grobe Fehler machte und beinahe entlassen worden wäre. »Ashton ist ein zutiefst unsicherer Mensch«, hatte Warren gesagt. »Seine hochfahrende und unerträglich britische Art ist vor allem dazu da, das zu verbergen. Christopher Sheldon Leyland, sein Vater, hielt nichts von ihm und ließ ihn das spüren. Von mir hielt er auch nicht viel, aber irgendwie hat mir das weniger ausgemacht als Ashton. Der einzige von uns dreien, der zählte, war Stuart Scott. Deshalb hasst ihn Ashton. Das geht so weit, dass er seinetwegen alle Ärzte hasst.« Dann erzählte Warren, wie sehr es den Vater getroffen hatte, dass sein Sohn aus Oxford und der Schule davonlief. Wie sehr er sich abgelehnt fühlte, und wie wenig er verstand, dass es auch mit seiner Art und seinen Erwartungen zu tun hatte. »Er kann sich überhaupt nicht mit den Augen eines anderen sehen«, sagte Warren. »Wer kann das schon; aber er schon gar nicht.«
Leyland war damals nach Oxford gefahren und war über Nacht im Hause seines Vaters geblieben. Zum ersten Mal hörte er von ihm, wie sehr er Lydia vermisst hatte. Überhaupt sprach der Vater das erste Mal von Gefühlen, und danach war es zwischen ihnen einen Abend lang so wie noch nie zuvor. Triest? Ein Verlag? Er betrachtete das Foto von Livia. Leyland hatte ihm das Buch von Francesca Marchese über Triest mitgebracht. Er schlug es auf und sah, wer es übersetzt hatte. »Rather proud of you«, sagte er. Er blieb unter der Tür stehen, bis der Sohn um die Ecke bog. Das hatte er noch nie getan.
Dreizehn Jahre später, als Leyland nach Livias Tod vor der Frage stand, ob er den Verlag übernehmen sollte, war er wieder nach Oxford zu seinem Vater gefahren, ein bisschen verwundert über sich selbst. Die Begegnung hatte vieles verändert, und als er wieder in Triest war, hatte er zum Stift gegriffen.
Cara —
ich bin nach Oxford zu meinem Vater gefahren. Er ist jetzt fünfundsiebzig, mager und still, das Haar schütter, alles Auftrumpfende und Herablassende ist verschwunden, seine Augen blicken enttäuscht und müde. Zu Deinem Tod hatte er mir ein paar steife Zeilen geschrieben. Er hätte sich die Reise nach Triest nicht zugetraut, sagte er jetzt. Und später: Er habe nicht stören wollen. Das hat mich gewürgt. Ich habe ihm vom Verlag erzählt und von der Entscheidung, die vor mir lag. Etwas veränderte sich in seinem Blick, es sah aus wie Stolz. »Du ein Verleger — wer hätte das gedacht«, sagte er. Da begann ich zu erzählen, wie es damals in Oxford, mit siebzehn, in mir ausgesehen hatte. Ich dachte an Warrens Worte und vermied alles, was ihn erneut kränken könnte. Ich sprach von Konfusion, Prüfungsangst, dem Hunger nach Leben, nach Leben mit den Lichtern der Großstadt, und von der Leidenschaft für Wörter, dem Gefühl, dass alles andere uninteressant sei, Zeitverschwendung. Er hörte gebannt zu, es war, glaube ich, für ihn eine Erlösung zu erfahren, dass ich nicht einfach vor ihm und dem, wofür er stand, davongelaufen war.
Er machte einen Vorschlag, den ich ihm nicht zugetraut hätte: Wir könnten zusammen bei den berühmten Colleges vorbeigehen und uns im Angesicht der ehrwürdigen Mauern vergewissern, wie unwichtig es war, ob man dort angenommen und anerkannt wurde. Es wurde ein unvergesslicher Spaziergang. Er hatte ja, bevor er in den Staatsdienst eintrat, im St. John’s College Jura studiert. Wir kamen beim College vorbei und gingen durch die Höfe. Ein Schild auf dem Rasen sagte: Do not step on the grass unless accompanied by a senior member of the staff. Plötzlich brach mein Vater aus — das ist das Wort — und ging mit stampfenden Schritten über das Gras. Und nicht genug: Er rammte die Schuhspitze in den Rasen, er rammte und rammte, bis er einen ganzen Brocken herausgelöst hatte, der nun dunkelbraun und hässlich auf der tadellos gepflegten grünen Fläche lag. Schwer atmend stand er nachher neben mir. »Das musste sein«, sagte er.
Von da an war es anders zwischen uns, und ich blieb drei Tage. Auf seinem Schreibtisch, der sonderbar leer und verlassen neben dem großen Globus stand, war ein Foto meiner Mutter. Früher hatte es nicht dort gestanden. Lydia Agnes Sartorius. Mein Vater liebte die Melodie des Namens und sagte ihn immer vollständig. Ich erzählte, wie wir Dich gefunden hatten. Er nickte nur und schloss die Augen. Er war wieder auf Mutters Beerdigung, und sein Gesicht wurde alt, ich meine nicht die Runzeln. Ich dachte an die Entgleisung nach ihrem Tod, von der Warren gesprochen hatte. Er habe in seinem Testament verfügt, sagte er, dass Ménanne Somerfeld das Haus bekomme. Ob ich damit einverstanden sei? Sie sei ja leider nicht geblieben. Nach einer Weile fügte er hinzu: bei ihm geblieben.
Wie weit ich mit meiner Entscheidung sei, fragte er am letzten Abend. Ich fühlte mich wie auf einem Boot im Nebel, schlingernd und von verschiedenen Strömungen herumgerissen, sagte ich. Ob er mir einen Rat geben könne? Es war das erste Mal, dass ich ihn so etwas fragte. Ein solcher Vater war er nie gewesen. Er hat Asthma und darf nicht rauchen. Jetzt wollte er eine Zigarette. Er hustete und rauchte mir die Packung leer. »Irgendwie fände ich es nicht — loyal, den Verlag zu verkaufen, an irgendwen«, sagte er. »Loyal — komisches Wort vielleicht, ich weiß, denn den alten Pertot und seine Frau gibt es nicht mehr, und auch Livia würde es ja nicht erleben müssen. Niemand, der verletzt sein könnte. Und trotzdem. Verstehst du?« Ich nickte. »Aber du willst übersetzen? Nichts lieber als das? Eigentlich nur das?« Wieder nickte ich. »Und beides zusammen?« Wir tranken Whisky und machten fiktive Stundenpläne, Tagstunden und Nachtstunden, Arbeit im Verlag und Arbeit an Übersetzungen, Schlaf und Migräne, und was war mit den Kindern? Am nächsten Morgen hatte ich rasende Kopfschmerzen, und Vater hustete. »Sir«, sagte ich, als ich ihm die Hand gab. Er lächelte, er verstand alles, was nach diesen vollen, reichen Tagen in dem einen Wort lag. »Good luck, son«, sagte er und berührte mich am Arm.
Warum hatte es der Erschütterung durch Deinen Tod bedurft, um eine solche Begegnung möglich zu machen? Wieviel Zeit hatten wir zwischen uns verloren. Ich wartete auf die Wirkung des Migränemittels. Durch das Zugfenster blickte ich auf die Landschaft und die Backsteinhäuser mit den doppelten Kaminen. Ich fühlte mich zu Hause. Auch bei mir selbst. Ich dachte an Warrens Haus und den Blick, den man aus dem Fenster hatte. In diesem Haus alt werden. Und die Kinder?
Keine zwei Jahre später hatte sein Vater mitten in der Nacht angerufen und gesagt, dass er Krebs habe, gegen den nichts mehr zu machen sei. Am nächsten Tag rief ihn Leyland an und lud ihn nach Triest ein. Warren Shawn fuhr mit seinem Bruder nach Heathrow, Leyland holte ihn in München ab und flog mit ihm nach Triest. Auch diese Begegnung hatte er zu Papier gebracht.
Cara —
»Ich gehe in kein Krankenhaus!« war das erste, was Vater sagte, als er in München aus dem Flugzeug kam. Er klopfte mit dem Stock auf den Boden, und mir ist, als hätte er sogar aufgestampft. Ich mochte sein Aufbegehren und seine Entschlossenheit, und es war ein guter Auftakt für seinen Besuch. Es waren noch keine zwei Jahre verflossen, seit ich ihn in Oxford besucht hatte, aber er schien seither um viele Jahre gealtert und sah sehr zerbrechlich aus. Er hatte sich auf eine Reise in den Süden vorbereitet und trug einen weiten, hellen Anzug, dazu einen Strohhut. Es war lange her, dass er in einem Flugzeug gesessen hatte, und als die kleine Maschine in Richtung Triest abhob und dabei heftig schaukelte, zitterten seine Hände mit den dunklen Venen auf den Armlehnen.
Darmkrebs, sagte er. Nur noch wenige Monate. Seinem Arzt, der ihn sofort hatte einweisen wollen, hatte er die Zusage abgerungen, ihn mit Medikamenten und Hausbesuchen bis zum Ende zu begleiten. Und Ménanne Somerfeld würde öfter von Brighton kommen. Mit Stuart Scott, der ja Arzt ist, muss er sich schrecklich gestritten haben. Wir waren schon im Anflug auf Triest, da sagte Vater unvermittelt: »Ich werde viel Morphium verlangen und es horten, bis ich genügend zusammenhabe. Und Stuart kann mich mal.« Ich legte meine Hand auf die seine. Wir haben uns nicht oft berührt in diesen Tagen, aber öfter als all die Jahre zuvor.
Wie soll ich sagen: Es waren Tage, die uns aufgewühlt haben, uns beide. Über die Krankheit und die knappe Zeit haben wir nur selten gesprochen und dann mit dem Understatement zweier Briten, zweier verknöcherter Briten, wir überboten uns darin, und einmal brachen wir darüber in Lachen aus. Gelacht haben wir sonst nur noch einmal: in Erinnerung daran, wie er den Schuh in den Oxforder Rasen gerammt hatte. Ich habe im Wohnzimmer geschlafen, wachte oft auf und ging ins Schlafzimmer, um nach ihm zu sehen. Er lag mager und weiß in den Kissen, man sah, dass der Tod nicht mehr weit war. Ich setzte mich in den Sessel und hörte seinen flachen Atemzügen zu. Ich versuchte zu verstehen, wie es mit uns gewesen war. Ich kam nicht weit. Fünfunddreißig Jahre war es her, dass ich aus seinem Haus davongelaufen war. Er war ein Fremder und doch nicht.
Im Verlag blieb er mehrmals stehen und nahm die Räume mit dem Blick in sich auf. »Dass das jetzt alles dir gehört«, sagte er. Ob ich einmal daran gedacht hätte, meinen Namen auf die Tafel neben dem Eingang schreiben zu lassen? Vera Santin und Maria Psyroukis behandelte er mit seiner steifen britischen Höflichkeit. Dann blieb er jeweils ein bisschen länger als nötig stehen, und ich konnte sehen, wie ihn die Frage beschäftigte, wie ich zu den beiden Frauen stand. Irgendwie, dachte ich in diesen Momenten, kannte ich den Alten ja doch ganz gut. In meinem Büro setzte er sich plötzlich hinter den Schreibtisch und ließ den Blick kreisen wie einer, der über das alles herrscht. Er sah überhaupt nicht krank aus, sondern wie ein Verleger, der immer noch alles unter Kontrolle hat. Ich wünschte, ich hätte ein Foto von ihm gemacht. Aber wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn auch so vor mir. Es ist das wichtigste Bild, das ich von seinem Besuch mitnehme.
Ein anderes wichtiges Bild: wie er auf dem Schiff sitzt, den Hut in den Nacken geschoben, eine Sonnenbrille auf der Nase. »Ich fürchte, ich war kein besonders guter Vater«, sagte er auf einmal. »Bist du es?« Die Frage hatte eine Wucht und Direktheit, die mich aus der Fassung brachten. Keine Ahnung, sagte ich, wirklich überhaupt keine Ahnung. Es stimmte in jenem Moment, und es stimmt auch jetzt noch. Auch ich sei meinen Kindern sicher vieles schuldig geblieben, sagte ich nach einer Weile. Er und ich — nun ja. Auch ich hätte es ihm ja nicht gerade leichtgemacht. Und dann Mutters Tod. Er nickte.
Er betrachtete Dein Bild auf meinem Schreibtisch, das Foto mit der schwarzen Jacke, der Zigarette in der Hand und dem zur Seite gewandten Blick. »Ich hätte sie gerne gekannt. Livia, nicht wahr? Warst du glücklich mit ihr?«
Er wollte die Kinder sehen, denen er ja noch nie begegnet war. Das einzige Bild, das die beiden von ihm kannten, war jenes alte Foto, über das Du Dich oft mokiert hast: der alte Herr vor dem Eingang zu seinem Amt, hochgewachsen, mit Weste, Fliege und Melone, steht linkisch da und blickt griesgrämig und auch ein bisschen überheblich in die Kamera. Davon war nicht mehr viel übrig. Vater bewegte sich mit kleinen Schritten, langsam und steif, und beim Essen zitterten ihm Messer und Gabel. Doch wenn er sprach, war er kein alter, gebrechlicher Mann. Er sprach das phantastische britische Englisch einer versinkenden Welt, und mit seinen sprachlichen Manierismen überbot er alles, was die Kinder von mir gewohnt waren. Sidney und Sophia genossen es, ich war fast ein bisschen eifersüchtig. Es war ihre Art, meinen Vater zu nehmen: ihn spüren zu lassen, dass sie seine Sprache mochten. Er wusste nicht, wie man Enkeln gegenübertrat, und manchmal schien ihm gar nicht recht gegenwärtig zu sein, dass sie meine Kinder waren. Irgendwie waren sie einfach junge Leute, mit denen er gerne reden mochte, aber auch nicht zuviel. »It was good to meet you, after all«, sagte er beim Abschied und gab den beiden die Hand. »God bless you.«
Am letzten Abend gingen wir zu Pat Kilroy und aßen draußen. Pat wusste, wen er vor sich hatte, noch bevor ich den alten Herrn vorgestellt hatte. Er benahm sich so tadellos britisch, dass wir fast lachen mussten. Plötzlich dann verfiel er in seinen irischen Tonfall, und ein bisschen war es, als würde er den Alten auf die Probe stellen wollen, auf welche auch immer. Da nahm der Alte den irischen Tonfall auf und fuhr mit so vielen irischen Wendungen fort, dass es uns die Sprache verschlug. Er hatte, sagte er, im Amt viele Jahre mit einem Iren zusammengearbeitet, es war die einzige Freundschaft, die sich beruflich ergeben hatte. Der Ire zeigte ihm sein Land. Da wurde mir mit beklommenem Erstaunen klar, dass ich vom Leben meines Vaters, wie es in den letzten Jahrzehnten gewesen war, so gut wie nichts wusste. Pat servierte zwischendurch, aber etwas von meinem Erstaunen hat er bemerkt. Als wir gingen, stand er beim Eingang, rauchte und sah uns lange nach.
Zu Hause saßen Vater und ich im dunklen Wohnzimmer. »I am dying«, sagte er. Was hätte ich sagen können?
Auf dem Flug nach München hatte er Angst. Es war nicht Angst vor dem Fliegen. Bevor er in die Maschine nach London stieg, hielten wir uns fest. »Sir«, sagte ich und hoffte, dass er sich an unseren damaligen Abschied in Oxford erinnerte. Er tat es. »Good luck, son«, sagte er. Ziellos irrte ich durch den Flughafen und fragte mich, ob ich nicht hätte mitfliegen sollen. Um ein Haar verpasste ich das Flugzeug nach Triest.
Und noch einen Brief über seinen Vater fand Leyland in der Mappe.
Cara —
wir haben meinen Vater beerdigt. »Ich habe das Morphium jetzt zusammen«, sagte er bei unserem letzten Telefongespräch. Ob er mich noch einmal sehen möchte, fragte ich. Lieber nicht, sagte er, er sehe nicht mehr gut aus. Was sagt man in einem solchen Moment? Am Telefon?
Als sich der Sarg in die Erde senkte, hatte ich ein überwältigendes Gefühl der Vergeblichkeit: all die Anstrengung für nichts. Auf der Fahrt nach London, vorbei an all den doppelten Kaminen, fragte ich mich, was das Gegenteil dieser Vergeblichkeit wäre, dieser futility, das englische Wort kommt mir vernichtender vor als alle anderen Wörter, die ich dafür kenne. Ich wusste die Antwort nicht. Wann ist ein Leben nicht vergeblich? Und noch etwas anderes beschäftigte mich auf der Fahrt: dass ich das bei einem Leben empfand, das im Alter zu Ende gegangen war, und nicht bei einem Tod, der jemanden, wie Dich, mitten aus dem Leben gerissen hatte. Müsste es nicht umgekehrt sein? Der Unterschied im Empfinden blieb, auch als ich länger darüber nachdachte. Ich rief mir in Erinnerung, was Warren Shawn, der auf dem Friedhof ganz abseits stand, über seinen Bruder gesagt hatte: ein zutiefst unsicherer Mensch, keine Anerkennung vom Vater, Alkohol nach Lydias Tod, seine hochfahrende Art als Tarnung, sein Hass auf Stuart Scott, der allein zählte. Stuart Scott war mit Anna und Victor da. Wie erstaunt war ich, dass die auch älter geworden sind! Wir tauschten, wie damals, russische und polnische Wörter, aber sonst waren wir uns fremd. Stuart Scott, weit über achtzig, stützte sich auf einen Stock. War ihm klar, warum Vater ihn mit solcher Heftigkeit abgelehnt hatte?
Ich saß lange mit Ménanne Somerfeld in Vaters Haus, das ihr jetzt gehört. Ich erzählte ihr von seinem Besuch in Triest, von der Szene mit dem klopfenden Stock, als er aus dem Flugzeug kam, und davon, wie er sich im Büro in einer Haltung hinter meinen Schreibtisch gesetzt hatte, als gehöre das alles ihm. Ja, sagte sie, er habe immer die Kontrolle behalten wollen, bis zuletzt. Am Morgen des Tages, den er für sich als den letzten bestimmt hatte, bat er das Pflegepersonal wegzugehen und am nächsten Morgen wiederzukommen. Als Ménanne gegen Mittag kam, war er vollständig angezogen, mit Schlips, Weste und Uhrenkette. Er bat sie, sich zu setzen. Sie wusste, was jetzt kam, seine Absicht kannte sie seit langem. »Es ist soweit«, sagte er. »Passen Sie gut auf alles auf«, und er machte eine Geste, die das ganze Haus einschloss. Er bat sie, nach Brighton zu fahren, ihn von dort anzurufen und dann dafür zu sorgen, dass es für den Rest des Tages Zeugen für ihre Anwesenheit gab. »Damit niemand auf falsche Gedanken kommt.« Auf der Fahrt nach Brighton sah ihn Ménanne immer wieder unter der Tür stehen, er konnte sich nur mühsam aufrecht halten. Sie sah, wie er die Tür ein letztes Mal schloss. Was mag er in den letzten Stunden gemacht haben, bevor er das Morphium nahm?
Auf dem Weg zum Bahnhof kam ich beim College vorbei, wo Vater den Schuh ins Gras gerammt hatte. Ich fürchte, ich war kein besonders guter Vater. Bist du es? Wir hinterlassen tiefe Spuren in unseren Kindern, unweigerlich, und sie haben manchmal ein Leben lang damit zu tun, sie zu entdecken und zu entziffern. Was sind die Spuren, die ich, ohne es zu wissen, in Sidney und Sophia hinterlasse? Ich wünschte, wir hätten mehr über diese Dinge gesprochen, Du und ich. Und wie ich diese Worte schreibe, spüre ich eine überwältigende Sehnsucht, mit Dir zu sprechen. Nicht nur über die Spuren, die wir in den Kindern hinterlassen. Nicht nur darüber, was das ist: Vater sein und Mutter sein. Nein, über alles. Und es kommt mir vor, als seien die zwanzig Jahre, in denen wir das Leben geteilt haben, viel zu kurz gewesen, viel zu wenig Zeit, um sich in den Gedanken und den Gefühlen so nahe zu kommen, wie ich es mir jetzt, wo es Dich nicht mehr gibt, erträume.