Leyland fand keinen Schlaf. In Gedanken ging er noch einmal durch Oxfords Straßen. Was war es bloß, was er gesucht hatte? Man konnte enttäuscht sein, etwas nicht zu finden, auch wenn man es nicht benennen konnte. In den Wochen nach der Diagnose hatte er sich manchmal vorgestellt, wie es wäre, noch einmal durch die Stadt zu gehen. Er war ganz sicher gewesen zu wissen, was er da in sich finden würde. Es war eine Gewissheit, die etwas Imaginäres betraf, etwas, was in dem Augenblick zerstob, als er aus dem Zug stieg. Und dann war er so trocken durch die Stadt gegangen — ja, doch, trocken war das treffende Wort. Wie froh war er gewesen, dem Jungen, der keine Luft bekam, helfen zu können. Ein Augenblick der Gegenwart.
Es war drei Uhr, als er sich an Warren Shawns Schreibtisch setzte, eine Stunde wie zwischen den Tagen. Es würde der erste Brief an Livia sein, den er hier schrieb. Er blickte hinüber ins Wohnzimmer zu dem Sofa, auf dem sie gesessen hatte, als sie den Onkel besucht hatten und er ihr die Karte des Mittelmeers zeigte, vor mehr als dreißig Jahren.
Cara —
wie sonderbar es ist, mir zu vergegenwärtigen, wie es vor langer Zeit war, ich zu sein. Ein großes Erstaunen, dass ich auch der von damals war. Und ein tiefes Erschrecken, dass ich einmal so weit weg von mir, wie ich heute bin, sein konnte. Wie war es möglich, dass ich mich damals bei mir selbst gefühlt habe? Oder war es am Ende gar nicht so? Bin ich durch die Welt gegangen, ohne mich irgendwo zu fühlen — sozusagen nur in einem Zwischenraum in mir selbst, mich fälschlich bei mir selbst wähnend, da man ja irgendwo sein musste? Ist es vielleicht immer so: dass man in sich selbst nur in Zwischenräumen lebt und gar nie bei sich ankommt, sondern nur den Zwischenraum vergrößert? Und bin ich vielleicht auch jetzt nur in einem solchen Zwischenraum? Bei dem Gedanken wird mir unheimlich. Wie groß die Unwissenheit über uns selbst doch ist, mit der wir leben.
Ich möchte wissen, wie ich der geworden bin, der ich bin. Nicht an der Oberfläche, nicht den äußeren Stationen nach, sondern im Inneren. Es geht nicht darum, welchen Straßen ich gefolgt bin, sondern welchen Gedanken und Empfindungen. Ich möchte spüren, wie aus dem einen Erleben ein anderes geworden ist und dann ein weiteres. Man spürt ja nicht recht, wie man sich verändert, und im Rückblick ist man ein anderer, und dann auch wieder nicht.
Das Vergessen beginnt mich zu beschäftigen und, umgekehrt, die Idee der lückenlosen Erinnerung — der Fähigkeit, im Inneren Episode nach Episode des eigenen Lebens rekapitulieren zu können. Manchmal spüre ich, wie die eine Schattierung des Erlebens in eine andere hinüberspielte. Das ist — warum auch immer — eine beglückende Erfahrung. Dann wieder ist zwischen verschiedenen Episoden des Erlebens ein stummes Dunkel, als hätte sich das Leben hinter meinem Rücken abgespielt, und ich frage mich, wo ich damals war. Sich an bestimmte Episoden nicht mehr erinnern können, sogar an ganze Perioden: Früher, als ich nach vorne lebte, energisch, freudig und außer Atem, spielte das keine Rolle. »Das liegt so weit zurück, das habe ich doch vergessen«, sagte ich und mochte hinzufügen: »Gott sei Dank!« Und nun erscheint es mir mit einemmal als ein Verlust, dieses Vergessen, in gewissen Fällen als eine dunkle, schmerzliche Lücke, eine kleine, lautlose Katastrophe. Es macht mich sprachlos, dass ich mich so vergessen konnte, und darüber hinaus: dass ich dieses Vergessens in keiner Weise gewahr geworden bin. Es kommt mir vor, als hätte ich mich mit unbedachter Wucht nach hinten in eine bewusstlose Vergangenheit gestoßen. Aber da war doch etwas, eine gelebte Zeit — und ich weiß davon nichts mehr!
Als Leyland sich gegen Mittag des nächsten Tages mit der Kaffeetasse an den Schreibtisch setzte, fügte er dem Brief noch etwas hinzu:
Ich hatte einen meiner Wortträume — einen dieser Träume, in denen ein vertrautes Wort plötzlich als rätselhaft vor mir steht und ich versuche, es zu entschlüsseln. Es war das Wort entgleisen. Ich dachte das deutsche Wort und auch das französische, dérailler. Zwei Bilder rangen um die Vorherrschaft: das Bild eines düsteren, verrußten Zuges, der zum Stillstand kommt, weil seine Räder mit hässlichem Knirschen im Schotter des Bahndamms versinken; und das Bild eines anderen, rätselhaft leichten Zuges, der sich den alten Schienen entwindet, um auf einem neuen, helleren Geleise Fahrt aufzunehmen, eine schnelle, geräuschlose Fahrt, auf der man im Wind das eigene Herz schlagen hört. Jetzt, wo ich wieder eine Zukunft habe, wünschte ich, ich könnte auf die zweite, leichte und helle Art entgleisen.