Während Leyland mit Burke durch Triest ging, kam es ihm vor, als würde er seine beiden Leben, die bisher in ihm getrennt verlaufen waren, zu einem einzigen verschmelzen. Und auch Burke erlebte es als etwas Großes. »Bisher kannte ich das alles nur aus deinen Berichten und aus Francesca Marcheses Buch, und nun bin ich mit dir zusammen hier und sehe es mit eigenen Augen!« rief er aus. Sie waren vom Flughafen aus zu Leylands Wohnung gefahren, und Burke war begeistert, als ihm Leyland sein Zimmer zeigte, von dem aus er auf den Kanal hinunterblicken konnte. »Und jetzt will ich die Mole sehen, deine Mole«, sagte er, und dabei sah er zehn Jahre jünger aus. Sie setzten sich auf den Rand der Molo Audace und ließen die Beine baumeln. Burke nahm die Sonnenbrille ab und kniff die Augen zusammen. »Dieses Licht«, sagte er. Drüben legte ein Schiff ab und schob eine Welle an, die auf sie zukam. »Achtung!« sagte Burke. »Im Gegenteil«, sagte Leyland und hielt die Beine in die Flut. Verblüfft brach Burke in Lachen aus und stieß nun seinerseits die Beine, die er angezogen hatte, ins Wasser. Es war ein Fest, dass Burke hier war, sie erlebten es beide als ein Fest, und dazu gehörte, dass sie die nächste Fähre nahmen und nach Muggia fuhren, die tropfenden Hosenbeine und Schuhe auf die Reling gestützt. »Ich wünschte, ich müsste hier nie mehr weg«, sagte Burke.
Sophia fiel Burke um den Hals, als sie sich abends in ihrer Wohnung trafen. Das hatte sie in London nie getan. »Wir drei — ein bisschen ist es wie in Hampstead«, sagte sie, »und doch auch ganz anders.« Langsam begann sie, von der Arbeit am Dokumentarfilm zu erzählen. Das Interessante und das Oberflächliche. Das Effekthascherische. Probleme der Scham, wenn man die Kamera auf die Kranken richtete. Wie wichtig es andererseits war, diese Dinge zu zeigen. Die politischen Gespräche, die es im Team gab. »Sie wollen es ausweiten, mehrere Filme in mehreren Städten — immer mit demselben Thema: was aus den Menschen durch die Kliniken wird. Die Faust in der Tasche, aber auch der Versuch zu zeigen, dass vieles nicht anders geht.« Leyland hatte Sophias Anruf von neulich richtig gedeutet: Sie war unsicher, wollte einen Rat. Dabeibleiben oder abspringen? Burke stellte viele Nachfragen und ließ sich ganz auf die Sache ein. Leyland dachte an die Misteln, die Sophia an Weihnachten bei ihm aufgehängt hatte, und an die Befangenheit, die Burke in der Gegenwart von Paolo Michelis gezeigt hatte. »Ich finde die ganze Sache wichtig«, sagte Burke schließlich, »aber am Ende kommt es darauf an, wie du mit diesem Milieu zurechtkommst und wie du dich siehst.« »Würdest du damit zurechtkommen?« Burke zögerte und schüttelte dann den Kopf. »Aber ich bin nie mit irgend etwas so richtig zurechtgekommen.« »Wie finde ich es heraus?« »Noch eine Weile weitermachen und dabei wachsam sein.« Sophia sah Leyland an. Er nickte.
In den nächsten Tagen zeigte Leyland Burke die Stadt. Sie gingen in die Bars, in denen er seinen Kaffee und seinen Grappa zu trinken pflegte, und dann setzten sie sich dem Verlag gegenüber ins Café und ließen sich von Carlotta bedienen. Burke betrachtete die Fassade des Verlags. »Vor einem Jahr hat das alles noch dir gehört, nicht wahr?« fragte er. Leyland nickte. »Tut sicher immer noch weh?« »Es nimmt ab, aber manchmal träume ich davon. Meistens sitzt Livia hinter dem Schreibtisch und nicht ich.« »Darf ich den Schreibtisch sehen?«
Caterina Mizzan und Vera Santin freuten sich über den unerwarteten Besuch und holten Maria Psyroukis dazu. Burke erzählte von den Buchumschlägen, die er für Sean Christie machte. »Jetzt, wo ich drinnen war«, sagte er, als sie wieder auf der Straße standen, »spüre ich noch viel deutlicher, wie schwierig es für dich sein muss.« Da erzählte ihm Leyland, dass alles anders gekommen wäre, wenn der Irrtum in der Diagnose zehn Tage früher entdeckt worden wäre. Er zeigte ihm eine kleine Narbe am Daumen und erzählte von dem Wasserglas, das er am Tag nach seiner Ankunft in London, in Warren Shawns Küche, beim Gedanken an diese zehn Tage zerdrückt hatte, ohne es zu merken. »Ohne diese zehn Tage wäre ich jetzt nicht hier — wären wir jetzt nicht zusammen hier«, sagte Burke.
Später gingen sie die Via del Coroneo entlang. Vor dem Gefängnis blieb Burke stehen. »War Andrej hier drin?« Leyland nickte. »Wie lange?« »Neun Jahre.« »Wegen eines einzigen wütenden Faustschlags?« Leyland nickte. Burke trat seine Zigarette mit langsam drehenden Bewegungen der Fußspitze aus, bis nur noch Pulver übrig war. »Lass uns ein Taxi nehmen«, sagte er. »Ich möchte ihn sehen. Jetzt sofort.«
Andrej war mitten in der Arbeit, der Schreibtisch war übersät mit Manuskripten und Zetteln. »Ich habe seit Tagen keinen Menschen mehr gesehen«, sagte er, und er war überglücklich über den Besuch. Sie sprachen über die gemeinsamen Tage in London. »Ich zehre immer noch davon«, sagte Andrej. Dann erzählte er von der Übersetzung, an der er arbeitete. Burke ließ sich den russischen Text zeigen und bat Andrej, daraus vorzulesen. »Stellt euch vor: Roman Nemirov hat mir geschrieben!« sagte Andrej später. »Einfach so. Ein bisschen steif, seine Sätze, kein geübter Briefeschreiber. Aber es hat mich riesig gefreut. Der Mann, heißt es, schreibt sonst nie jemandem.« Ob er Pat Kilroy öfter sehe, fragte Leyland. »Ich bin mehrmals die Woche dort«, sagte Andrej, »und er will mich nie bezahlen lassen. Wenn wir jetzt dahin gehen: Auch ihr werdet nicht bezahlen dürfen.«
Die Trattoria hatte sich verändert: neue Tischtücher, Stoffservietten, Lampions über dem offenen Teil des Lokals. Und Pat war besser angezogen als früher. Es waren mehr Gäste da als sonst. Als die letzten gegangen waren, setzte sich Pat zu seinen Freunden. Allmählich bekomme er die Sache in den Griff, sagte er. »Wie froh ich bin, Notting Hill nicht genommen zu haben! Stellt euch vor: Ich habe einen Kurs für fortgeschrittenes Italienisch belegt. Plötzlich gingen mir meine Fehler und mein begrenzter Wortschatz auf die Nerven. Und es steckt, glaube ich, noch etwas anderes dahinter: Ich will jetzt ganz dazugehören. Ganz hierhergehören. Hierher, nach Italien.« Er zeigte ihnen die hinteren Räume, die Küche, sein Büro. »Wovor mir noch graut: der Computer. Abrechnungen machen, Banksachen, Korrespondenz.« Da legte ihm Burke den Arm um die Schulter, und in der Bewegung steckte die ganze Vertrautheit und Zuneigung aus den Tagen in London. »Du sagst mir, wann du Zeit hast, und ich komme und erkläre dir alles, an mehreren Tagen, wenn nötig.«
Später gingen sie alle den stillen nächtlichen Hafen entlang. Leyland ließ sich mit Pat zurückfallen. »Ich möchte, dass du eines weißt«, sagte Leyland: »Solltest du Geldsorgen bekommen — sag es einfach. Es würde mir gefallen, dir zu helfen. Und ich meine es so: Es würde mir richtig gefallen.« »Das ist …«, sagte Pat heiser und brauchte einen zweiten Anlauf, »das ist gut zu wissen, wirklich sehr gut zu wissen. Manchmal schrecke ich nachts auf.«
Leyland und Burke blieben eine Woche in Triest. Sidney kam von Padua herüber. Er war mit der Übersetzung von Fernando Contis Buch fast fertig und wollte letzte Dinge besprechen. Nachher saßen sie eine Weile still in Leylands Wohnung. Ja, doch, mit der Arbeit auf seiner Stelle komme er gut zurecht, sagte Sidney. Aber? »Ich habe neulich Elena getroffen. Wir waren uns nicht so fremd wie beim letzten Treffen. Für einen Moment hatte ich danach Hoffnung. Aber — nein. Ist so etwas jemals ganz vorbei?« Er vermisste Sophia, und überhaupt vermisste er Triest. »Und unsere ganze Vergangenheit.« Leyland setzte sich zu ihm aufs Sofa und legte den Arm um ihn. »London ist nicht weit. Ein paar Stunden nur. Jederzeit. Das weißt du. Und umgekehrt bin ich jederzeit hier, wenn du es möchtest.« Als sie sich am Bahnhof umarmten, verrutschte Sidney die Brille und fiel fast zu Boden. Leyland setzte sie ihm auf. »Mach’s gut, Papà«, sagte Sidney leise. »Auch mit dem Schreiben.« Leyland nickte stumm. Als sich der Zug in Bewegung setzte, winkten sie sich zu, bis sie füreinander aus dem Blickfeld verschwunden waren.
In der Nacht nach diesem Abschied wachte Leyland auf und setzte sich an den Schreibtisch. Zu Burke hatte er vor der Abreise gesagt, Louis Fontaine gebe es nur in London. Jetzt stellte er überrascht und beglückt fest, dass das nicht so war.
Fontaine schreckte auf. Er war inzwischen an das Geräusch der Stühle auf dem Steinboden in der unteren Wohnung gewöhnt, und neulich, als Julie einen Tag weg war, hatte er sich dabei ertappt, dass er es vermisste. Jetzt wurden wieder Stühle gerückt, doch das Muster der Geräusche war nicht das gewohnte. Er trat auf die Terrasse. Julie kam mit einem jungen Mann aus der Wohnung und blickte hoch. »Das ist mein Sohn Philippe«, sagte sie. »Philippe, das ist Louis Fontaine, der hier einige Zeit verbringt.« Sie stellte drei Kaffeetassen auf den Tisch vor der Wohnung, und Fontaine setzte sich dazu, verwundert, wie leicht es ihm fiel. Es stellte sich heraus, dass Philippe in Lyon Kunstgeschichte und Archäologie studierte und gekommen war um zu sehen, wie es der Mutter nach dem Brand in ihrem Haus in Pau ging. Er war ein Junge mit hellem, gelocktem Haar und einem wachen Blick aus dunklen Augen. Ein Junge, der leicht zu verletzen war, dachte Fontaine. Der Vater, der Architekt, sei nicht einverstanden mit seiner Studienwahl, sagte Philippe, er sage immer: brotlose Kunst. Julie ging einkaufen, und Fontaine blieb bei Philippe sitzen. Der Junge wollte wissen, wie Fontaine seine Studienwahl getroffen hatte, und auf einmal war Louis dabei, über sein ganzes Studium zu sprechen und über seine Zeit als Lehrer. »So hat mein Vater nie über sich gesprochen«, sagte Philippe und bestand darauf, dass er mit ihnen zu Abend aß.
Bevor er schlafen ging, notierte Fontaine: Einen Sohn haben. Wir waren nicht unglücklich, dass Jeanne keine Kinder bekommen konnte. Da waren all die Bücher zu lesen, all die Reisen zu machen. Aber nun Philippe, der zuhörte, nachfragte, einen Rat brauchte: Es hat mir gefallen.
Am nächsten Morgen stand eine Tischtennisplatte vor dem Haus, und Philippe spielte mit seiner Mutter. Fontaine trank auf der Terrasse seinen Kaffee. Er rechnete: Es war dreiundfünfzig Jahre her, dass er im Keller des französischen Seminars in Paris gespielt hatte. Es hatte zwei Rangordnungen gegeben: diejenigen, die im Studium gut waren, und diejenigen, die im Tischtennis vorne lagen. Es ärgerte die anderen, dass er, der Bücherwurm, auch im Keller immer besser wurde. Jetzt winkte Philippe und lud ihn ein mitzuspielen. »Viel zu lange her!« rief Fontaine. Doch das ließ Philippe nicht gelten, und schließlich griff Louis zum Schläger. Die Bewegungen waren eingerostet, aber langsam wurde es besser. Da passierte es: Als er sich nach einem Schmetterball von Philippe bückte, um ihn doch noch zurückbringen zu können, fuhr ihm ein heftiger, schneidender Schmerz ins Kreuz, und er konnte sich nicht mehr bewegen. Philippe kam sofort und stützte ihn, aber er konnte keinen Schritt gehen. Da hob ihn Philippe hoch und trug ihn hinauf auf sein Bett.
Jacques Moreau, der Arzt, kam jeden Tag herüber und behandelte ihn, und manchmal kam Colette mit. Julie und Philippe kochten für ihn. Jean Lescaut brachte Kuchen. Philippe verschob die Rückkehr nach Lyon. Als er sich wieder aufsetzen und schreiben konnte, notierte Fontaine: wie in einer Familie.
Burke fand Leyland am Schreibtisch, als er aufstand. »Doch nicht etwa Fontaine?« fragte er. Leyland nickte lächelnd. »Aber erzählen willst du sicher nicht?« »Später«, sagte Leyland. Es war ihr letzter Tag in Triest, und sie verbrachten ihn auf dem Wasser. »Nach dieser Reise liegen London und Triest ganz dicht beieinander«, sagte Leyland. »Und dass ich über Fontaine sowohl hier als auch in London schreiben kann — es ist eine gewaltige Entdeckung. Als bräuchte ich jetzt keine der beiden Städte mehr, um zu Hause zu sein. Als würde das Schreiben reichen.« Abends trafen sie sich mit Sophia und Andrej noch einmal in Pats Lokal. »Lass uns ein Shuttle zwischen hier und London einrichten«, sagte Pat. »Gratis und nur für uns. Jederzeit abflugbereit.«
Als sie spät nach Hause kamen, hatte Leyland das Bedürfnis, die Eindrücke der letzten Tage für sich und Livia festzuhalten.
Cara —
mit Kenneth Burke durch Triest zu gehen — es war, als legte sich noch einmal eine neue Schicht Zeit über die Stadt. Da war die Zeit mit Dir und den Kindern, die so schrecklich abrupt endete, dann meine Zeit im Verlag, die Zeit nach der Diagnose, wo alles zu Ende schien, dann die neue Zukunft und die Besuche von London aus. Und nun die gemeinsamen Schritte mit Kenneth durch die vertraute Stadt, die, weil ich sie ihm zeigen konnte, auch ein bisschen wieder wie neu war.
Gestern rief mich Paolo Michelis an: Sein Roman ist fertig. Er war gerade auf dem Postamt gewesen und hatte ihn an Caterina Mizzan geschickt. »Stell dir vor«, sagte er am Telefon immer wieder: »zehn Jahre!« Ich habe ihn nach London eingeladen, um es zu feiern. Und dann werde ich mit der Übersetzung beginnen.
Aber vor allem werde ich an Louis Fontaine weiterschreiben. Kenneth weiß in den Umrissen, worum es geht. Er ist der einzige. Sophia und Sidney haben sich nach dem Schreiben erkundigt, aber als ich ausweichend geantwortet habe, fragten sie nicht weiter. Ich war froh darüber. Aber ein bisschen auch enttäuscht. Ihre Diskretion war, als ließen sie mich im Stich. Andererseits ist es auch etwas Kostbares, dass nur Kenneth und ich dieses Geheimnis teilen. Wie schwankend und uneindeutig all solche Empfindungen doch sind!
So, wie er bisher geworden ist, gibt es Helles wie Dunkles in Fontaine. Er findet in lauter kleinen Dingen ins Leben zurück. Es sei wie aufwachen, sagt er. Aber die dunklen Empfindungen, mit denen er in den Süden gereist ist — sie bleiben. So ist die Figur. Was würdest Du gerne lesen, was nicht? Was würdest Du dazu sagen, dass das Dunkle bleibt? Was ist es für ein Unglück, dass ich das alles nicht mit Dir teilen kann!
Als sie am nächsten Morgen über den Wolken waren, erzählte Leyland davon, wie es mit Fontaine weitergegangen war. »Mit jedem Tag ist er mehr dort, in Mérindol«, sagte Burke. »Du kannst ihn nicht, wie geplant, nach vier Wochen abreisen lassen, als sei nichts gewesen.« Leyland nickte. »Ich überlege, ihn probeweise nach Paris fahren zu lassen. In der Wohnung sitzen, die vertrauten Gegenstände berühren. Das Klingeln des Telefons hören. Nicht abnehmen. Unten das Geräusch der Stühle auf dem Steinfußboden vermissen. Die Fragen von Philippe vermissen. Ich denke, er will ihn in Lyon besuchen. Und was soll aus Christine und Colette werden.« »Und Julie?« »Das weiß ich noch gar nicht.«
Der Sinkflug nach Heathrow begann. »Du könntest ihn irgendwann ganz nach Mérindol ziehen lassen«, sagte Burke. Leyland drehte überrascht den Kopf. »Dann — nun ja, dann würde aus der kurzen Erzählung ein langer Roman.« »Warum nicht?« sagte Burke.
Das Flugzeug landete. Sie standen in der Schlange für die Passkontrolle. Die Reihe war an Leyland. Der Beamte nahm seinen Pass entgegen und warf ihm einen prüfenden Blick zu. Dann gab er ihm den Pass zurück. »Welcome home, Sir«, sagte er.