Dresden, 4. November 1956,
Vormittag

Heller konnte ein Gähnen nicht mehr unterdrücken und hielt sich die Hand vor den Mund.

»Schlaf doch wieder, du fällst ja gleich vom Stuhl«, meinte Karin. »Ich gehe mit Anni ein bisschen spazieren.«

»Ich will aber wenigstens ein paar Stunden für euch Zeit haben.«

»Max, zwing dich doch nicht. Du wirst doch heute Nacht wieder rausmüssen, oder?« Ein wenig Hoffnung schwang in ihrer Frage mit.

»Ja, muss ich.«

»Na, bitte, dann leg dich noch mal hin, wenigstens auf die Couch.«

Heller nickte ergeben. »In Ordnung. Aber geht nicht in den Wald«, ermahnte er sie noch. Als das Telefon im Flur klingelte, war jedoch alle Müdigkeit sofort verflogen und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er rannte fast hinaus.

»Heller!«

»Wachtmeister Kühn, Zentrale. Vom Revier Bühlau ist schon ein Wagen zu Ihnen unterwegs. Ein Herr Bemmann hat in größter Not angerufen.«

»In größter Not?«

»Es sind schon zwei Streifen zu ihm geschickt worden. Er sprach von einer Anzahl von Leuten, die ihn bedrängten.«

Heller vernahm schon das Quäken einer Sirene, die sich näherte.

»Ist gut. Habe verstanden!« Er legte auf und beeilte sich, in seinen Mantel zu kommen.

»Pass auf dich auf!«, rief Karin ihm hinterher. Er nickte und warf Anni eine Kusshand zu, die sie erwiderte. Aber sie sah nachdenklich dabei aus.

 

Einer der beiden Uniformierten hatte ihm den Platz auf dem Beifahrersitz überlassen. Schweigend und konzentriert raste der Fahrer die Bautzner Straße hinunter, Laub lag auf dem feuchten Kopfsteinpflaster, gelegentlich kamen sie in den Kurven dem Bordstein gefährlich nahe, doch Heller protestierte nicht. Offenbar war Bemmann in höchster Gefahr.

An Bemmanns Wohnung, der Schule, war es jedoch ruhig. Ein paar wenige Passanten waren zu sehen, man hätte meinen können, sie seien nur spazieren, doch etwas lag in der Luft. Heller spürte das. Am Schultor trat ein Polizist auf die Straße und bedeutete ihnen, zu bremsen. Heller kurbelte sein Fenster herunter.

»Ein Dutzend Leute haben versucht, in die Schule einzudringen, auf der Rückseite haben sie Scheiben eingeworfen«, erstattete der Polizist umgehend Bericht. »Manche hatten Knüppel und Eisenstangen dabei. Die Genossen haben den Mann zur Sicherheit mit auf das Revier Neustadt gebracht. Sie hatten zwischenzeitlich Mühe, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Die Leute sind dem Wagen ein Stück hinterhergelaufen. Ich fürchte, sie geben nicht gleich auf!«

Heller nickte und grüßte mit der Hand an der Hutkrempe. »Zum Revier Neustadt«, befahl er dann.

 

Es war unmöglich, das Revier in der Katharinenstraße zu erreichen. Eine Menschenmenge hatte sich angesammelt und blockierte die Straße. Tatsächlich hielten einige von ihnen Schlagwaffen in ihren Händen, Zaunlatten, Stangen, sogar die Zinken einer Mistgabel sah Heller über den Köpfen der Menschen auf und ab hüpfen.

»Gebt ihn raus, gebt ihn raus!«, skandierten die Leute. Einige Uniformierte versuchten die aufgebrachte Menge von der Tür wegzudrängen, doch sie standen auf verlorenem Posten. Es schienen mehr als hundert Leute zu sein, ausschließlich Männer. Immer wieder drängten sie vor, wichen wieder zurück. Es würde nur eine Frage von Minuten, wenn nicht Sekunden sein, bis einer den ersten Schritt wagte.

»Warten wir auf Verstärkung?«, fragte der Fahrer.

Heller zögerte keine Sekunde. »Fahren Sie auf den Bordstein und versuchen Sie, sich zwischen die Leute und das Haus zu stellen!«

»Ich kann doch nicht in die Leute reinfahren!«

»Sollen Sie doch auch nicht. Fahren Sie langsam. Los, vorwärts!«, befahl Heller barsch.

Der Fahrer fuhr an, holperte den Bordstein hoch und näherte sich im Schritttempo den Leuten. Die ersten Männer wichen beiseite, wurden aber von den hinteren wieder vorgedrängt.

»Eh!«, schrie einer. »Mein Fuß, Mensch!« Schon trafen erste Tritte den Wagen.

»Zurück!«, schnaubte Heller. »Los, Mann!«

Der Fahrer ließ den Wagen rückwärtsfahren. Da hörten sie, wie die erste Fensterscheibe im Revier zersprang. Die Menge johlte, und schon versuchte der Erste den Sims zu erklimmen, um ans Fenster zu gelangen. Zwar war das vergittert, doch der Einwirkung echter Gewalt würden die Gitter nicht standhalten können. Die wenigen Polizisten, die noch zwischen der Hauswand und dem wütenden Mob standen, zogen sich eiligst zurück und schoben sich zur Seite heraus. Einer von ihnen ging dabei zu Boden und musste an den Händen herausgeschleift werden. Heller sah, wie dessen Kopf haltlos hin und her baumelte.

»Stopp!«, rief Heller und riss die Tür auf, kaum dass der Wagen zum Stillstand gekommen war. »Mitkommen! Waffen raus, aber niemand schießt!«, befahl er und zog selbst seine Pistole.

»Aus dem Weg!«, rief er und richtete den Lauf auf den erstbesten Mann, den er sah. »Aus dem Weg, ich schieße!«

»Gebt das Schwein raus!«, rief einer von hinten. »Von euch wollen wir doch nix!«

»Weg hier, auseinander!«, donnerte Heller. »Der Mann ist unschuldig!«

»Kaum ist er frei, hat er die Nächste vergewaltigt!«, schrie es zurück.

»Schluss jetzt!« Heller drang zwar vor und wusste hinter sich die beiden Uniformierten, auch die anderen schlossen sich ihnen wieder an. Die Männer wichen etwas zurück, doch selbst zu sechst oder siebt waren sie machtlos, die Meute auf Dauer in Schach zu halten. Er konnte nur auf schnellstens eintreffende Verstärkung hoffen.

»Wir holen das Schwein raus! So oder so, der hängt heut noch!«, brüllte eine Stimme, und die Menge begann zu johlen. Heller hörte, wie einer der Polizisten seine Waffe durchlud.

»Ruhig bleiben!«, mahnte er. »Der Mann im Revier ist unschuldig! Gehen Sie nach Hause, so helfen Sie uns nicht.«

»Warum haben Sie ihn denn aufs Revier gebracht, wenn er unschuldig ist?«, rief jemand.

»Sie da!« Heller glaubte ein Gesicht erkannt zu haben. »Sie da!« Schon zog sich der Mann zurück und versuchte in der Menge zu verschwinden.

»Herr Brandt, ich habe Sie erkannt!« Heller lief jetzt in die Gruppe hinein, und tatsächlich tat sich eine Gasse auf. Die Menge fühlte sich plötzlich nicht mehr anonym, auch wenn es nur ein Name war, den Heller gerufen hatte.

»Herr Brandt, der Mann hier war das nicht!« Heller gelang es, den Mann am Arm zu fassen. Die Polizisten hinter ihm hatten den Anschluss verpasst. Hinter Heller hatte sich der Kreis wütender Menschen wieder geschlossen.

»Sie können nicht durch die Gegend laufen und Leute zum Lynchmord aufwiegeln«, fuhr Heller Kristins Vater an.

»Was soll man denn noch glauben? Jeden Tag steht was anderes in der Zeitung!«, verteidigte dieser sich.

»Trotzdem können Sie nicht losziehen und irgendjemanden aufhängen. Was, wenn es der Falsche ist? Was, wenn die Leute einen anderen als den Täter ausmachen? Können Sie das kontrollieren? Stellen Sie sich vor, es erwischt Sie demnächst selbst, glauben Sie, man hört Ihnen zu, wenn Sie Ihre Unschuld beteuern?«

Heller merkte, dass er dem Mann damit den Wind aus den Segeln genommen hatte, dass sein Widerstand schwand, und damit auch der Zorn der Umstehenden. Die Situation entspannte sich etwas.

»Gehen Sie auseinander«, nutzte Heller die Gelegenheit. Auffordernd schaute er sich um, die Pistole noch immer in der Hand, aber auf den Boden gerichtet. »Gleich werden hier Laster mit Soldaten eintreffen. Verschwinden Sie, dalli!«

 

»Sehen Sie, was Sie angerichtet haben!«, klagte Bemmann. Er war blass im Gesicht und seine Finger zitterten. Er war kaum in der Lage, seine Zigarette zu halten.

Heller holte tief Luft, schwieg dann aber. Er verstand den Mann. Selbst er spürte, wie das Adrenalin seinen ganzen Körper vibrieren ließ. »Wurden Sie körperlich angegriffen?«

»Sie haben doch gesehen …«

»Hat man Sie körperlich angegriffen?«, unterbrach Heller ihn ungehalten. Auch er war aufgewühlt, so eine Situation ging an keinem spurlos vorüber. Ein falsches Wort da draußen auf der Straße und alles hätte geschehen können.

»Nein, ich hatte zum Glück das Telefon, und die Polizisten waren rechtzeitig zur Stelle, da waren draußen gerade zwanzig Mann.«

»Haben Sie einen Ort, an dem Sie vorläufig unterkommen können?«

Bemmann hob die Schultern. »Bei meiner Mutter vielleicht. Doch nicht für lange. Sie ist sehr alt und hat nur ein Zimmer, das ist ja kein Zustand. Entschädigt mich jemand dafür?«

»Machen Sie mal halblang!«, knurrte Heller ihn an und brachte Bemmann damit zum Schweigen. »Die Lage muss sich erst mal beruhigen. Spätestens wenn wir den richtigen Täter dingfest gemacht haben. Vielleicht kann ich veranlassen, dass jemand bei Ihnen zu Hause Wache hält die nächsten Tage. Wäre Ihnen das lieber?«

Bemmann zögerte kurz. »Muss ich dem Logis geben?«

Heller schnaubte und schüttelte den Kopf. »Ein Wachposten. Vor der Tür. Der soll hauptsächlich zur Abschreckung dienen.«

Bemmann schien zufrieden zu sein. »Gut, wenn das so ist, dann gern.«