Dresden, 26. Oktober 1956,
später Abend

Niesbach wartete, bis sich alle gesetzt hatten und Ruhe im Beratungszimmer eingekehrt war. Der Mann war inzwischen kahlköpfig geworden, aber immer noch hager in seiner Gestalt. Sein Magen ließ ihm seit Jahren keine Ruhe. Die Beschwerden fesselten ihn regelmäßig mit schweren Krämpfen für einige Tage ans Bett. Heller, als Leiter der Kriminalabteilung 1, war am Tisch links, neben dem Kripochef, ein Platz zugewiesen worden. Rechts neben Niesbach war ein Platz freigehalten worden. Ihnen gegenüber saßen etwa zwanzig Kollegen aus verschiedenen Abteilungen, die man eilig zusammengerufen hatte. Auch einige Männer vom Ministerium für Staatssicherheit waren dabei. Seinen Sohn Klaus konnte Heller unter ihnen nicht entdecken.

»Genossen«, begann Niesbach, »die neuesten Entwicklungen stellen uns vor eine wichtige und sehr dringliche Aufgabe. Unser Versprechen zum Schutze der Bürger unseres Landes wird eingefordert. Wie Sie alle schon informiert worden sind, kam es in den letzten Monaten zu sechs Fällen schwerer sexueller Nötigung, über die gesicherte Kenntnisse vorliegen. Der Täter ging dabei willkürlich vor, weder was die Orte seiner Taten angeht noch die Auswahl seiner Opfer, lässt sich ein bestimmtes Schema ausmachen. Heute gab es einen Leichenfund an der Prießnitz-Mündung. Eine Frau. Sie ist inzwischen nach ihren Papieren als Marie Pressler identifiziert. Die Frau war einundzwanzig, von Beruf Näherin. Sie war schon gestern nicht zur Arbeit erschienen. Wir warten noch auf die Ergebnisse der Untersuchung, doch liegt die Vermutung nahe, dass sie dem Täter gestern zum Opfer gefallen ist. Oberkommissar Heller, bitte!«

Max Heller hatte schon auf seinen Einsatz gewartet. »Es ist nicht sicher, ob der Fundort der Leiche auch der Tatort ist. Es ist möglich, dass der Täter die Frau dorthin brachte, um sie zu verstecken. Wir können auch nicht wissen, ob sie zu dem Zeitpunkt noch lebte. Möglich wäre es. Vielleicht wollte der Täter die Frau vor dem Krankenhaus der Diakonie ablegen, wurde dann aber gestört oder fürchtete, entdeckt zu werden. Wir gehen also nicht von einem Mord, sondern von einer gefährlichen Körperverletzung mit Todesfolge aus. Am Fundort der Leiche wurde ein halber Schuhabdruck im Schlamm gefunden, der auf eine große Schuhgröße hindeutet. Das Opfer war nur eins fünfundfünfzig groß und hatte ein Gewicht von zweiundfünfzig Kilogramm. Ein Mann ist vermutlich ohne Weiteres in der Lage, die Frau allein zu tragen. Wir lassen die Umgebung derzeit überwachen. Vielleicht kehrt der Täter zurück, um die Tote besser zu verstecken, sollte sich der Fund der Leiche nicht schon herumgesprochen haben.«

»Danke, Herr Oberkommissar«, übernahm Niesbach wieder. »Genau aus letztgenanntem Grund hat die Polizeidirektion in Absprache mit der Kreisparteileitung beschlossen, mit dem Fall an die Öffentlichkeit zu gehen. Entsprechende Mitteilungen sind an die Redaktionen der bekannten Zeitungen übermittelt worden.« Niesbach zögerte kurz, sah auf die Uhr und dann zur Tür. Doch wen auch immer er erwartete, es war niemand da.

»Nach Angaben der betroffenen Frauen, die bisher zu einer Aussage bereit waren, schlich sich der Täter von hinten an seine Opfer an, immer waren es dunkle Gassen oder dunkle Abschnitte in Parks. Er legte ihnen den linken Arm um den Hals, bedrohte sie mit einem pistolenähnlichen Gegenstand. Er zwang sie, sich bäuchlings auf den Boden zu legen, dann legte er sich auf sie, presste ihnen die Waffe in die Rippen oder an die Schläfe und verging sich an ihnen. Danach verschwand er. Der Täter trug eine Maske oder ein helles Tuch über dem Kopf, in das er Augenlöcher hineingeschnitten hat. Dies ist unser einziger Anhaltspunkt. Die Anzahl der Männer wird aufgestockt, an allen Plätzen dieser Stadt, auch im Großen Garten, müssen an strategischen Punkten Posten stehen. Jeder, der verdächtig erscheint, muss kontrolliert werden. Er muss diese Maske bei sich haben und womöglich eine Waffe. Auf Anfragen aus der Bevölkerung soll geantwortet werden, wir sind ihm auf der Spur. Wir müssen Geduld beweisen. Der Täter wird sich denken können, dass wir verstärkt kontrollieren. Vielleicht zieht er sich zurück. Dagegen spricht die Meinung von Professor Doktor Meusel, den wir zur Beratung hinzugezogen haben. Meusel ist Leiter des Psychologischen Instituts. Er geht von einem triebhaften Verhalten aus. Die ersten Vergewaltigungen waren noch im Abstand von einigen Wochen erfolgt, jetzt verkürzt sich der zeitliche Abstand, so dass zwischen den letzten beiden Taten nur noch eine Nacht lag, was darauf hinweist, dass der Täter inzwischen seine Hemmungen gänzlich verloren haben muss. Bitte!« Niesbach gab einem Kollegen das Wort, der sich gemeldet hatte.

»Es kam doch schon die Idee auf, dem Täter mit einem Lockvogel eine Falle zu stellen. Wollen wir das nicht in Angriff nehmen?«

Niesbach verzog das Gesicht. Er war genauso wenig dafür wie Heller, das hatten sie schon besprochen. »Da der Täter im gesamten Stadtgebiet agiert und buchstäblich überall auftauchen kann, würde ein Lockvogel wohl gar nicht genügen. Außerdem kann ich es nicht verantworten. Wir wissen nicht, ob der Täter tatsächlich eine Waffe bei sich trägt und in der Not Gebrauch von ihr macht.«

Gemurmel wurde laut, welches Niesbach mit einer Handbewegung unterband. Bittend sah er zu Heller.

»Kollegen«, bat Heller um Gehör. »Ich bin beauftragt, eine Kommission, bestehend aus zehn Männern unterschiedlicher Abteilungen, zu gründen. Deren Aufgabe wird es sein, das Umfeld aller Opfer zu erforschen.«

»Warum denn das?«, rief Oberkommissar Helfrich dazwischen. Heller hatte damit gerechnet.

»Es mag sein, dass der Täter doch nicht so zufällig zuschlägt, sondern die Opfer eine Zeitlang beobachtete oder sie sogar kannte.«

»Aber die Opfer kannten sich nicht untereinander. Das haben wir längst überprüft!« Helfrich musste glauben, Heller zweifele seine Arbeitsmethoden an.

»Das heißt nicht, dass der Täter sie nicht kannte«, brummte Oldenbusch leise, doch seine tiefe Stimme war deutlich zu vernehmen. Heller schüttelte knapp den Kopf und hoffte, Werner würde das sehen. Er wollte keinen Streit mit seinen Kollegen.

Niesbach unterband jede weitere Diskussion. »Dass Oberkommissar Heller mit der Gründung der Kommission beauftragt wurde, hat die Direktion bestimmt. Er verfügt über genügend Erfahrung, um zu wissen, was zu tun ist. Und die Lage ist zu ernst, als dass wir uns über Kleinigkeiten in die Haare geraten.«

Heller ließ das unkommentiert. Er bemerkte seit einiger Zeit, dass man im Umgang mit ihm eine andere Taktik eingeschlagen hatte. Anstatt ihn dauerhaft zu agitieren, in die Partei einzutreten, schlug man ihn nun zur Belobigung vor, übertrug ihm neue Kompetenzen und beförderte ihn jetzt sogar. Es war, als wollte man nach außen zeigen, schaut wie offen wir sind, auch jemand wie Heller, bürgerlich, parteilos, gehört zu uns.

Da war ihm seine vorherige Rolle lieber gewesen.

Eine Tür klappte und ein junger Uniformierter eilte in den Raum, zögerte kurz, doch Niesbach winkte ihn heran. Der Polizist reichte Niesbach eine Mappe.

Niesbach setzte seine Lesebrille auf und überflog den Inhalt der Mappe.

»Also«, begann er, »Doktor Schellbach bestätigt, das jüngste Opfer starb an inneren Blutungen als Folge des gewaltsamen Eindringens in die Scheide. Vermutlich hätte man ihr helfen können, wäre sie zu einem Arzt gebracht worden. Vielleicht war es kein Mord, aber der Täter nahm ihren Tod zumindest billigend in Kauf.«

»Oder er wusste nichts von ihren Verletzungen, weil er gleich nach der Tat flüchtete«, fügte Heller hinzu.

 

»Das macht die Sache nicht besser«, sagte Niesbach.

Die Sitzung war vorüber, und sie saßen zusammen in Niesbachs Büro. Heller wusste, was gemeint war.

»Es ist ein juristischer Unterschied. Sexuelle Nötigung, Totschlag, Verletzung mit Todesfolge, Todesfolge billigend in Kauf genommen, Mord.«

Niesbach nickte ungeduldig. »Heller, ich muss es Ihnen bestimmt nicht sagen, aber die Ansage von oben ist eindeutig. Dieser Mann muss geschnappt werden. So etwas darf es hier bei uns nicht geben. Und ehrlich gesagt, die Idee mit dem Lockvogel scheint mir bei genauerer Betrachtung immer besser. Wir müssen agieren, anstatt zu reagieren. Wir müssen Ort und Zeit vorgeben. Es kann nicht jede Person überprüft werden.«

Heller entfuhr ein leises Schnauben. Es gab ein ganzes Ministerium, das sich genau damit beschäftigte, dachte er bei sich. Aber er hielt sich zurück. Er zeigte auf den Stuhl neben sich.

»Genosse Niesbach, für wen war der freie Stuhl gedacht? Hatte sich noch jemand angekündigt?«

Niesbach hob die Schultern. Heller kannte diese Geste. Sein Chef durfte ihm nichts erzählen.

»Heller, die Angehörigen des Opfers sind noch nicht informiert. Übernehmen Sie das, bitte!« Das war eine Aufforderung.

»Ich wollte mich sowieso da umsehen«, sagte Heller und sah Niesbach offen in die Augen. »Die Herren vom MfS haben noch nicht zufällig einen Zusammenhang zwischen den Opfern entdeckt?«

»Wir wüssten es«, erwiderte Niesbach schnell. »Zumindest in diesem Fall«, fügte er hinzu.

»Gut.« Heller erhob sich. »Wurde die Frau von jemandem als vermisst gemeldet?«

»Soviel ich weiß, nicht.«

Heller dachte kurz nach. »Es ist nach Mitternacht. Ich werde die Angehörigen morgen aufsuchen, was meinen Sie?«

»Vielleicht ist es besser.« Niesbach sah zum Fenster, durch dessen Ritzen der Wind fauchte. »Ich mag den Herbst nicht. Eine unangenehme Jahreszeit.«

Niesbach schwieg ein paar Sekunden, bevor er seinen Blick vom pechschwarzen Fenster löste. »Heller, ich werde demnächst aus dem Dienst scheiden. Aus gesundheitlichen Gründen. Mein Magen.« Fast entschuldigend hob er die Schultern. »Ende des Jahres. Ich hoffe, wir können diese Sache bis dahin abschließen.«

Heller hob leicht das Kinn. Er hatte damit schon gerechnet. Niesbach war in seinem Alter, und seine dauerhaften Magenbeschwerden ließen vermuten, dass es sich vielleicht doch nicht nur um harmlose Magengeschwüre handelte. Doch was immer es war, Niesbach trug es mit Fassung, und dafür zollte Heller ihm noch mehr Anerkennung.

»Und falls Sie sich fragen, wer meine Nachfolge antreten wird: Die Direktion hat zwei Kandidaten dafür ins Auge gefasst.«

»Appelt?«, fragte Heller. Der hatte Niesbach in den letzten Jahren immer mal vertreten. Ein korrekter Mann, soweit es seine Linientreue zuließ.

Niesbach nickte. »Ja, Appelt kommt infrage. Und Sie, lieber Heller!«