Dresden, 10. November 1956,
früher Abend

»Sie haben mich ausgetrickst!«, beschwerte sich Karl Schreiber. Mit gefesselten Händen rieb er sich linksseitig über die Rippen und verzog das Gesicht dabei. Man hatte ihm das Tuch abgenommen, sein Anblick war kaum zu ertragen. Heller zwang sich, dem Mann in die Augen zu sehen.

»Erzählen Sie mir Ihre Geschichte.«

»Würden Sie mir bitte erst sagen, warum Sie mich eingesperrt haben? Ich schwöre, ich habe keinen Kontakt im Westen, die Zeitungen habe ich von einem Freund gekauft, für teures Geld, und ich sage Ihnen auch seinen Namen.«

»Sie werden erfahren, weshalb Sie hier sind. Aber zuerst will ich Ihre Geschichte hören!«

Schreiber verzog seinen verunstalteten Mund, den er wegen der Vernarbungen nicht ganz schließen konnte. Heller erkannte nicht, ob es ein Lächeln war, was er sah, oder ein Ausdruck des Schmerzes. Schon wieder begann der Mann sich zu reiben und zu jucken.

»Meine Haut spannt, wissen Sie. Deshalb die Salben. Sie müssen sie mir zukommen lassen, bitte. Sie haben sie doch gesehen in der Wohnung, im Badezimmer?«

Heller nickte.

»Also, meine Geschichte ist ganz kurz. Ich bin in Schlesien geboren und aufgewachsen. In einem kleinen Dorf nahe Kattowitz. Das ist jetzt Polen, heißt Katowice. Wir sprachen Deutsch, mein Vater besaß ein Gut. Er war im Krieg unabkömmlich. Anfang fünfundvierzig kamen die Russen. Sie haben das Gut geplündert, meinen Vater mitgenommen und umgebracht, genauso meine Mutter. Dann haben sie Feuer gelegt. Ich hatte mich in einer Scheune versteckt. Die brannte lichterloh. Ich konnte mich nach draußen retten, aber ich war schwer verbrannt. Die Deutschen kamen noch einmal zurück, fanden und versorgten mich notdürftig. Als die Russen wiederkamen, ließen sie mich liegen, weil sie wohl dachten, ich würde sowieso sterben. Weil ich nichts mehr am Leibe hatte, legte einer einen Mantel über mich, einen Wehrmachtsmantel.«

»Damit war mein Schicksal besiegelt. Die Russen nahmen mich mit, ich kam in ein Lazarett. Als es mir besser ging, verurteilten sie mich, wegen Werwolf-Aktivität. Fünfundzwanzig Jahre hab ich bekommen. Hab das alles gar nicht verstanden, ich konnte damals noch kein Russisch, das haben mir später andere erklärt. Ich kam in ein Straflager nach Sibirien. Das steht alles in meinen Entlassungspapieren. Nach acht Jahren wurde ich begnadigt. Da waren die Kriegsgefangenen alle schon daheim. Ich kam hierher, nachdem ich es erst in Frankfurt und dann in Cottbus versucht hatte. Da habe ich nirgends eine Stelle bekommen. Hier hatte ich Glück.«

Glück. Pech. Heller atmete durch.

»Kennen Sie eine Fräulein Marie Pressler? Sie ist Näherin.«

Schreiber schüttelte den Kopf. Er hob die verstümmelte Hand und deutete damit auf sein Gesicht. »Ich kenne keine Frauen.«

»Der Name Kristin Brandt, sagt der Ihnen etwas?«

»Herr Oberkommissar, ich sag Ihnen doch: Ich kenne keine Frauen.«

»Sie haben von den Vergewaltigungen mitbekommen? Die Frauen, die nachts überfallen und missbraucht wurden?«

»Ja, das ist schlimm, furchtbar, aber es heißt, man habe den Täter erwischt!«

Heller sah dem jungen Mann, der unablässig zwinkerte, in die Augen. Sonst verzog er keine Miene.

»Herr Schreiber, wir verdächtigen Sie, der Täter zu sein.«

Schreiber schien kein bisschen überrascht zu sein. Er reagierte kaum, sondern schwieg nur ein paar Sekunden.

»Das war abzusehen«, sagte er dann. »Das musste ja so kommen. Klar, der Krüppel war’s, der Aussätzige!«

»Herr Schreiber, Sie sind identifiziert worden. Eine der Frauen hat Sie erkannt.«

Nun schnaubte Schreiber ein höhnisches Lachen. »Lassen Sie mich raten, hat sie mich als Krüppel beschrieben? Hat sie gesagt, ich sah ganz schrecklich aus im Gesicht?«

»Zynismus bringt uns hier nicht weiter. Ich bin Polizist, und Sie säßen nicht hier, hätten wir nicht einen begründeten Verdacht.« Das sagte Heller zu einem, der schon mal »Pech« gehabt hatte.

Schreiber schüttelte den Kopf. Seine Augen tränten.

»Ach ja, und wer soll das sein, der mich erkannt hat?«

Das konnte und wollte Heller ihm nicht beantworten. Stattdessen stellte er eine andere Frage. »Woher haben Sie das viele Geld?«

»So viel ist das gar nicht!«

»Herr Schreiber, Sie könnten sich selbst am besten helfen, wenn Sie meinen Fragen nicht dauernd ausweichen würden. Wie kommt es, dass Sie sich Fernseher, Radio, Fahrräder und Moped leisten können? Oder ist das alles gestohlen?«

»Das ist alles ordentlich gekauft«, protestierte Schreiber. »Ich habe das Geld eben einfach, oder ist das jetzt auch verboten? Ich habe es im Lager verdient. Und später in Frankfurt.«

»Womit?«

»Ich hatte da eine gute Stelle.«

»Sind Sie nicht weitergezogen, weil Sie keine Stelle fanden?«

»Ich war bei einer alten Dame untergekommen. Die hatte Mitleid mit mir. Sie gab mir viel Geld. Ich zog erst weg, als sie starb.«

»Warum erzählen Sie das nicht gleich?« Heller schlug sein Notizbuch auf und notierte sich das. Zwar hatte er es auf Band, doch ihm war aufgefallen, dass der Anblick dieses Buches mehr Druck auf Verdächtige ausübte. Das Tonband vergaßen sie schnell, doch das geschriebene Wort in diesem kleinen Buch machte ihr Gesagtes zu etwas Greifbarem. Das Lügen fiel schwerer.

»Warum? Weil sie starb und die Leute anfingen zu tuscheln, der Krüppel hätte die Dame umgebracht!«

»Was Sie aber nicht haben.«

»Was?« Aus Schreibers linkem Auge löste sich eine Träne und wurde zu einem richtigen Rinnsal. »Haben Sie mich deshalb eingesperrt? Sie ist an einem Herzinfarkt gestorben, das haben auch die Ärzte bestätigt. Sagen Sie schon, haben Sie mich deshalb eingesperrt?«

Heller vollendete den letzten Satz in seinem Buch. »Der Name der Frau!«, fragte er, ohne Schreiber anzusehen.

»Mathilde Brockmann«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Sie wohnte im Mühlenweg 14.«

»Wir überprüfen das.«

»Natürlich.« Schreiber lehnte sich zurück und winkte resigniert ab. »Wenn mir schon mal was Gutes passiert …« Er schnaubte verächtlich.

»Ihre Wohnung wird gerade gründlich durchsucht«, begann Heller aufs Neue, »gibt es da vielleicht irgendein Versteck, von dem wir nichts wissen? Finden wir vielleicht irgendetwas, von dem Sie mir lieber gleich berichten wollen?«

»Nein, nichts.« Schreiber drehte seinen Kopf zur Seite. Dass ihm Tränen über die linke Gesichtshälfte liefen, schien er nicht zu bemerken.

Heller ließ sich einige Augenblicke Zeit. Was würde das Leben für so einem Mann noch bereithalten, fragte er sich. Ob er nun der Täter war oder nicht, was konnte einer wie er hoffen? Dass sich eine Frau fand, die über seine Verstümmlung hinwegsehen konnte? Die sich von materiellen Dingen beeindrucken ließ? Oder bezog er seinen Lebenswillen daraus, dass er Frauen überfiel, sich von ihnen mit Gewalt holte, was er sonst nicht bekam? Oder ging es ihm um die Erniedrigung, die er ihnen zufügen wollte, Rache für die täglichen Abweisungen, die er erfuhr? So schwer es ihm fiel, er musste den jungen Mann darauf ansprechen.

»Herr Schreiber, würden Sie sich als psychisch stabil bezeichnen?«

Nun stutzte Schreiber kurz und die gesunde Gesichtshälfte färbte sich tiefrot. Seine Selbstsicherheit, der Anflug von Fatalismus, mit dem er bisher aufgetreten war, verlor sich in diesem Augenblick. Er wusste sofort, worüber Heller sprach.

»Sie haben es bemerkt?«, fragte er leise und sah verstohlen zu dem Tonbandgerät, das neben ihnen stand.

Heller beugte sich ein wenig vor. »Sie haben es sogar vorhin in der Zelle getan, zweimal, dabei waren Sie keine zwei Stunden eingesperrt.«

Schreiber hob die Hände und bedeckte sein Gesicht. »Ich komm nicht dagegen an. Ich muss das tun, immer. Das fing schon an, als ich noch im Lazarett lag. Aber ich tu es immer so, dass es niemand merkt.«

»Woran denken Sie, wenn Sie das tun?«, fragte Heller. Er sollte einen Psychologen einschalten, dachte er. Dem Mann müsste man helfen. Doch zuerst ging es darum, einen Fall zu klären.

»Warum müssen Sie das denn wissen?« Schreiber genierte sich offenbar und wand sich auf seinem Stuhl. »Ich denk an nichts. Ich tu das einfach, aber müssen wir darüber sprechen?«

»Gut, sprechen wir nicht mehr darüber. Herr Schreiber, tun Sie mir den Gefallen und sagen Sie einmal laut und deutlich dawei und charascho. Dann lasse ich Sie für heute in Ruhe.«

»Ich darf heim?«

»Nein, das haben Sie falsch verstanden. Ich lasse Sie schlafen für heute, Abendessen bekommen Sie noch. Aber bitte sagen Sie zuerst dawei und charascho, ich benötige das auf dem Band.«

»Wieso? Warum?« Schreiber schien ehrlich irritiert.

Heller verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Das Band lief unterdessen weiter, und Schreiber starrte es an wie ein gefährliches Tier.

»Also gut«, gab der junge Mann nach einigen Sekunden nach. »Dawei, charascho. Sind Sie zufrieden?«

»Flüstern Sie es!«

»Bitte?«

»Sie sollen es flüstern. Stellen Sie sich nicht so an. Tun Sie es einfach, dann gehe ich.«

»Also gut. Dawei, charascho, dawei, charascho, dawei, charascho.«

Heller drückte die Stop-Taste, dann erhob er sich. »Ich lasse Ihnen heute noch Ihre Salbe zukommen.«

»Und einen Anwalt, bekomme ich auch einen Anwalt?«

»Zuerst ermitteln wir. Einen Strafverteidiger bekommen Sie, wenn es zu einem Prozess kommt.« Heller klopfte an die Tür. Ein Wächter öffnete ihm.

»In seine Zelle abführen! Entnehmen Sie das Tonband und lassen es ins Kriminalamt bringen. Umgehend!«, befahl Heller und ging grußlos davon.