Dresden, 13. November 1956,
später Nachmittag

»Max, die Frau ist nirgends zu finden!«, begann Niesbach, kaum dass er Hellers Büro betreten hatte. Heller war gerade erst dazugekommen, seine Papiere zu sichten. Und Oldenbusch war mit der Suchaktion noch vollauf beschäftigt. Heller sah seinen Vorgesetzten nachdenklich an.

»Die Männer haben Dutzende von Gartenlauben aufgebrochen«, sagte Niesbach und wirkte unzufrieden. »Ständig schlagen die Hunde an, aber es riecht dort eben nach Mensch. Warum glauben Sie denn, dass die Frau sich in der Gartensparte versteckt hält?«

»Haben die Hunde Riechproben bekommen?«

»Ja, Max, aber es sind keine Bluthunde. Die sind für den Polizeiwachdienst ausgebildet. Die zwei Leichenhunde, die wir haben, sind schnell erschöpft. Man darf sie nicht überanstrengen. Außerdem versammeln sich die neugierigen Anwohner an den Toren. Sie wissen ja, wie schnell dummes Zeug geredet wird.« Niesbach verstummte kurz. »Na, ich sehe schon, ich renne bei Ihnen keine offenen Türen ein.« Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich Hellers Schreibtisch gegenüber. »Sie haben jemanden verhaftet? Einen SED-Mann? Erich Schulze.«

»Ich habe einen Mann in Gewahrsam genommen«, korrigierte Heller. »Ich verdächtige ihn, Ilka Gellert instruiert zu haben, die letzte Vergewaltigung zu inszenieren. Die Frau ist zurzeit nicht auffindbar, aber wir suchen bereits nach ihr. Ich will sie hierhaben.«

»Und warum sollte dieser Mann das getan haben?«

»Das will ich herausfinden. Er kennt Schreiber und will ihn schützen. Aber er sagt mir nicht, warum.«

Niesbach nickte. »Dieser Schreiber soll nach Richterbeschluss unter Auflagen freigelassen werden. Seine Entlassungspapiere sind schon in Arbeit. Und die Gegenüberstellung mit den anderen Opfern hat auch nichts gebracht, wie Sie selbst wissen.«

Heller sah auf. »Was ist mit dem Tatbestand der Verführung Minderjähriger oder Verführung einer widerstandsunfähigen Person?«

Niesbach neigte seinen Kopf etwas zur Seite. »In diesem Fall nimmt man wohl Rücksicht auf den körperlichen und geistigen Zustand Schreibers. Es soll ein psychiatrisches Gutachten erstellt werden, ob er aufgrund seiner abnormalen Verhaltensweisen in eine geschlossene Anstalt eingewiesen werden muss. Nach Angaben des Wachpersonals kommt er nicht gegen den Zwang an, ständig zu onanieren.«

Heller winkte ab und verzog das Gesicht. »Ja, ich weiß das. Aber ich will, dass er in Untersuchungshaft bleibt! Können Sie das veranlassen?«

»Heller, Sie haben doch auch Mitleid mit ihm. Es kann ihm nichts nachgewiesen werden, allein, dass er mit diesem Mädchen Verkehr hatte.« Niesbach sah ihm aufmerksam ins Gesicht. »Oder versuchen Sie besonders hart zu sein, um sich kein falsches Mitleid vorwerfen lassen zu müssen?«

Von jedem anderen hätte sich Heller diesen Vorwurf nicht gefallen lassen, aber Niesbach war integer, er wollte nur alle Aspekte in Betracht ziehen.

»Ich halte ihn für verdächtig«, antwortete Heller ruhig. »Ich bin sicher, spricht dieser Schulze, können wir Schreiber knacken.«

Niesbach gab sich mit der Erklärung zufrieden. »Und der andere? Erwin Hübner?«

»Ich werde aus ihm nicht schlau. Theoretisch habe ich nichts gegen ihn in der Hand. Man müsste ihn freilassen und rund um die Uhr beobachten. Andererseits wissen Sie selbst, wie man eigentlich verfahren müsste.«

Niesbach nickte langsam. »In hohen politischen Kreisen erwägt man tatsächlich eine Abschiebung in den Westen.«

Heller hob den Kopf. »Jetzt doch?« Genau dieser Wankelmut war es, der ihn am meisten störte an dieser Partei, diesem Staat. Was heute noch als unumstößlich galt, konnte morgen vollkommen falsch sein.

»Eine schnelle Aktion, verkürztes Verfahren. Innerhalb von zwölf Stunden könnte er weg sein. Ein leeres Zimmer, eine freie Arbeitsstelle. Niemand wird einen Gedanken daran verschwenden!«

Heller schob seine Unterlagen beiseite. »Fragen Sie mich eigentlich oder geben Sie mir nur Auskunft?«

»Ich frage Sie, Heller!«

»Dann sage ich Nein, noch nicht. Erst muss der Fall geklärt sein. Dann sollen Sie ihn der westdeutschen Justiz übergeben. Soll er in Haft bleiben bis dahin.«

 

»Ich bin es, Max!«, sagte Heller wenige Minuten später ins Telefon.

»Kommst du später?«, fragte Karin.

»Ja. Ich muss die junge Frau finden, die noch vermisst wird.«

»Aber es suchen doch schon so viele nach ihr!« Der Vorwurf, der in Karins Stimme mitschwang, war nicht zu überhören.

»Ich weiß, aber ich muss.«

»Natürlich musst du. Wie immer, Max. Vergiss aber nicht, dass wir hier daheim auch unsere Sorgen haben.«

»Karin, das vergesse ich nicht. Wie geht es ihr denn?«

»Sie ist ganz ruhig. Auch in der Schule. Frau Spittel sagt, sie ist in sich gekehrt, aber sie geht mit ihr um wie immer. Ich versuche das auch. Sie redet ja auch mit mir, aber eben nur das Nötigste.« Karin schwieg. Heller hörte ihr an, wie sehr es sie belastete.

»Sie wird es verstehen, Karin. Irgendwann. Wir müssen ihr die Zeit geben. Und dann wird es wieder wie vorher sein«, sagte Heller. Doch er spürte, wie das Gewissen an ihm nagte. Dass man Fräulein Koch nicht fand, machte ihm genauso zu schaffen. Dass immer alles zusammenkommen musste.

»Max, lass mich bitte nicht allein damit. Wird es noch lange dauern mit diesem Fräulein Koch? Die ganze Woche?«

»Ich hoffe nicht!«

»Denk daran, dass du Freitag wieder mit ihr zum Schwimmen gehen wolltest.«

Heller schloss für einen Moment die Augen. Das hatte er vergessen.

»Ja, ich denke daran.«

 

Er wusste, dass es zwecklos war. Weder, dass er durch die dunklen Gartenanlagen streifte, noch, dass er die schwach beleuchteten Gassen in den Stadtteilen Wölfnitz und Cotta ablief, die hinter der Schrebergartenkolonie begannen, war erfolgversprechend. Vielleicht war Frau Koch gar nicht in einer der Lauben versteckt. Vielleicht verbarg sie sich in einem der unzähligen Häuser oder, schlimmer noch, wurde dort festgehalten. Er allein würde sie nicht finden können. Und vielleicht war es ja tatsächlich so, dass sie längst verschwunden war, dorthin, wohin immer alle verschwanden, wenn sie es in der DDR nicht mehr aushielten. Da die grüne Grenze inzwischen kaum noch Lücken aufwies, war das Ziel der meisten Flüchtlinge Westberlin.

Wenigstens konnte er seinen Gedanken freien Lauf lassen, während er durch die Dunkelheit lief. Noch war viel Verkehr, Passanten kamen ihm entgegen oder überholten ihn, mit vollen Einkaufsbeuteln auf dem Weg nach Hause. Sie störten ihn nicht. Wem nützte es, wenn Sabine Koch verschwunden war, fragte er sich. War sie vielleicht längst tot, als Zeugin beseitigt worden? Oder war sie vor jemandem geflüchtet, aus Angst? Aber wenn sie von einer Vergewaltigung ihrer Freundin gewusst hätte, noch vor deren Tod, wäre sie nicht zur Polizei gegangen? Wovor also sollte sie flüchten oder vor wem? Was wusste sie? Wer war der Mann, mit dem sie angeblich weggegangen war?

Vielleicht, dachte Heller den Gedanken weiter, hatte man sie längst schon aufgegriffen. Saß sie in einer Zelle des MfS, des Versuchs des ungesetzlichen Grenzübertritts verdächtigt. Man müsste dem nachgehen, auch wenn die Stasi nur ungern mit solchen Informationen herausrückte. Er würde Klaus fragen, das war immer noch der kürzeste Weg.

Klaus. Hellers Gedanken schweiften ab. Wie viele solcher Schicksale waren schon durch seinen Sohn besiegelt worden? Er war ihnen ein fremder Mensch geworden. Ihr eigener Sohn. Klaus war kalt. Zu ihnen. Zu seiner Frau. Allerdings sehr bemüht seiner Tochter gegenüber. Wie es Silvia einmal mit ihrem Vater ergehen würde? Wie lange Erika es wohl noch aushalten würde, so abgehängt zu sein und nicht respektiert zu werden, mit einem Kind, das von seinem Vater nicht gewollt war.

Heller stoppte so abrupt, dass ihm ein Mann, der hinter ihm ging, beinahe in die Hacken trat. »Na, na, na!«, meinte dieser, doch Heller nahm ihn gar nicht wahr. Genau. Das war es. Auf einmal wusste er, wonach sie suchen mussten.

Er musste telefonieren. Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach sechs am Abend.