Dresden, 16. November 1956,
später Vormittag

Oldenbusch stellte den Wagen in der Glacisstraße am Bordstein ab.

»Warten wir noch kurz?«, fragte er angesichts des heftigen Regenschauers, der gerade niederging. Heller brummte zustimmend.

Nach fünf Minuten wurde ihm jedoch die Zeit zu lang. »Komm, es ist doch gleich da drüben!« Ohne auf Oldenbuschs Antwort zu warten, stieg er aus, warf die Wagentür zu und eilte gebückt über die Straße in den Torbogen des Wohnhauses. Ein Handwerker in grauer Arbeitskleidung öffnete die schwere Holztür und zuckte erschrocken zurück, als er Heller sah.

Inzwischen kam Oldenbusch angelaufen.

»Wollen Sie hier rein?«, fragte der Mann. Er trug eine hölzerne Kiste mit Handwerkszeug.

»Zu Frau Wuttke.«

»Ich kenne hier keinen, ich bin nur zur Reparatur bestellt.« Er zeigte auf eine frisch reparierte Stelle, direkt neben dem Schloss. »Hier wird immer wieder mal eingebrochen. Einfach mit einem Kuhfuß aufgehebelt. Diebe. Die glauben, sie können von hier in den Laden da einsteigen.« Jetzt deutete er mit dem Daumen nach nebenan, wo sich ein privat geführter Eisenwarenladen befand. »Aber da ist ja eine Brandmauer dazwischen.«

»Und das geschieht oft?«, fragte Heller.

»Na ja, einmal im Jahr etwa.«

»Aber dieser Einbruch ist von heute?«, fragte Heller nach.

»Heute Nacht, ja. Ich habe das nur schnell erledigt, hab ja da drüben gleich meine Werkstatt.« Nun zeigte er in die andere Richtung.

»Werner, komm!« Heller nickte dem Mann zu und betrat dann den Hausflur. »Zweites Obergeschoss«, las er auf der Haustafel. Eilig gingen sie die Stufen hinauf. Es gab zwei Türen auf der Etage. Neben der einen stand der Name WUTTKE auf dem Schild. Sie war geschlossen, doch bei genauerem Hinsehen war zu erkennen, dass sie aufgebrochen worden war. Ein abgesplittertes Holzstück war nachträglich wieder in die Bruchstelle geklemmt worden, damit die verräterische helle Stelle bei flüchtiger Betrachtung nicht auszumachen war. Heller presste nur mit einer Fingerspitze gegen das Türblatt und drückte die Tür ohne Mühe auf. Vorsichtshalber zog er die Pistole, doch er ahnte bereits, dass sie zu spät kamen.

»Frau Wuttke?«, rief er halblaut. »Polizei. Mein Name ist Heller. Sie kennen mich!« Er rümpfte die Nase, es roch unangenehm, nach erkaltetem Essen, vielleicht nach Grießbrei. Er winkte Oldenbusch mit dem Kopf nach links. Im Flur war es dunkel. Oldenbusch tastete nach dem Lichtschalter und machte das Licht an. Jetzt sahen sie gestickte Bilder an der Wand. Eine hölzerne Garderobe, an der eine Jacke hing. Drei Türen. Küche, Wohn- und Schlafzimmer, vermutete Heller. Die Toilette hatte er auf der halben Treppe gesehen. Oldenbusch ging zur hintersten Tür.

»Frau Wuttke?« Heller machte die Tür gegenüber der Wohnungstür auf. Es fiel nur wenig Licht durch den schmalen Spalt im Fenstervorhang, doch das genügte Heller.

»Mensch, verdammt!«, schimpfte Oldenbusch, der neben ihm stand. »Verdammt und zugenäht. Dieser Sauhund!«

Heller steckte seine Pistole weg und trat an das Bett, auf dem die junge Frau lag. Sie, die so gelitten hatte unter der Demütigung und den Schmerzen, die ihr zugefügt worden waren, lag jetzt auf dem Rücken, in einer seltsam verrenkten Haltung, ein Bein angewinkelt und zur Seite gekippt, das andere langgestreckt und wie im Krampf angespannt. Ihr Kopf hing über die Bettkante. Das Nachthemd war ihr bis über die Brust geschoben worden. Sonst war sie nackt. Um ihren Kopf hatte man ein Tuch geschlungen, welches straff durch den Mund gezogen worden war. Ihre stumpfen Augen blickten starr zur Eingangstür, das Entsetzen spiegelte sich noch immer in ihnen.

So hatte sie Heller angesehen, als er einen Blick in das Zimmer geworfen hatte. Wieder eines dieser Bilder, die Heller in schlaflosen Nächten und in wirren Träumen nicht aus dem Kopf bekommen würde.

Heller berührte mit zwei Fingern ihren Hals. Dann drückte er die zerwühlte Decke beiseite, auf der Frau Wuttke lag, um ihre Armen zu sehen. Anscheinend waren die Hände der Frau auf dem Rücken gefesselt. Was ihr Mörder ihr angetan hatte, bevor sie starb, war eindeutig.

Oldenbusch war näher getreten und ließ den Lichtschein seiner Taschenlampe über den toten Körper gleiten. Am Hals der Leiche zeigten sich dunkle Flecken, Blutergüsse.

»Würgemale. Er hat sie mit bloßen Händen erwürgt. Außerdem ist hier eine starke Schwellung am linken Jochbein. Er hat sie vermutlich zuerst niedergeschlagen.« Oldenbusch richtete sich schwer atmend auf. Er hatte alle Mühe, ruhig zu bleiben. »Wurde sie …?«

»Ja!«, unterbrach ihn Heller.

»Aber er wird doch nicht am selben Tag, an dem er entlassen wurde …?«

Wieder fiel ihm Heller ins Wort. »Warum nicht? Ihm könnte klar gewesen sein, dass sie die Einzige war, die ihn tatsächlich identifizieren könnte. Und seinen Trieb hat er auch nicht unter Kontrolle. Aber noch wissen wir nichts, Werner, denk daran!«

Heller verstummte. Nun war genau das geschehen, was nicht hätte passieren dürfen. Noch eine Frau war tot. Sie war ermordet worden. Das hier war kein Unfall. Für Sabine Koch musste man das Schlimmste befürchten.

»Wir müssen die anderen Frauen beschützen«, rief er. Aber wie sollte das organisiert werden? Und für wie lange? Bis sie einen Täter hatten? Ob Schreiber schon wieder in Gewahrsam war? Oder war er verschwunden? Fühlte er sein Handeln durch sein Schicksal legitimiert?

Noch war nichts bewiesen. Rein gar nichts.