Dresden, 16. November 1956,
Nacht

Völlig erschöpft kehrte Heller nach Hause zurück. Bis zum Schluss, bis zu dem Moment, als er die Tür aufschloss und Karin ihm entgegenkam, hatte er gehofft, dass es eine Nachricht von Anni geben würde, dass ein Wunder geschähe und sie bei ihnen am Küchentisch säße. Doch Karins Gesichtsausdruck nahm ihm jede Hoffnung.

Sie fiel ihm in die Arme, kaum dass er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Auch sie hatte vermutlich gehofft, er käme nicht allein nach Hause und hätte Anni gefunden. Still weinte Karin an seiner Schulter.

»Bestimmt ist sie irgendwo untergeschlüpft«, flüsterte Heller und sprach damit auch sich Mut zu. »Sie ist doch ein schlaues Mädchen. Sie wird sich einen Plan gemacht haben.« Er hatte wirklich überall nach ihr gesucht, an allen Orten, an denen sie mit Anni einmal gewesen waren. Er hatte mit vielen Leuten gesprochen und nach Anni gefragt. Vergeblich. Keiner hatte das Kind gesehen.

Mittlerweile war es kalt geworden, bestimmt gab es Frost. Man hatte ihm so viele Männer wie möglich bereitgestellt, was unüblich war. Denn jemand galt erst nach zwei Tagen als vermisst, auch ein Kind. Man hatte bei ihm eine Ausnahme gemacht. Doch auch die vielen Polizisten konnten nichts anderes tun, als nach einem Kind zu suchen, das sich vermutlich versteckte, um nicht gefunden zu werden.

»Ich muss ein bisschen schlafen, dann gehe ich wieder los«, murmelte Heller.

»Dann geh ich jetzt!« Karin hatte sich aus seinen Armen gelöst und sah ihn entschlossen an.

»Es hat doch keinen Sinn, Karin. Lass uns wenigstens etwas schlafen. Alles andere bringt doch nichts.«

»Max, wie soll ich denn schlafen können?«, rief sie verzweifelt.

»Und wo willst du jetzt, um diese Uhrzeit suchen?«

»Ich weiß es nicht.« Plötzlich sah Karin auf. Sie hatte eine Idee. »Doch! Beim Pionierpalast!«

Doch Heller schüttelte resigniert den Kopf. »Dort war ich schon mit mehreren Männern.«

Karin sank in sich zusammen. »Stimmt es, Max, es wurde wieder eine Frau umgebracht? Von diesem Triebtäter?«

»Woher weißt du das denn?« Heller war zu erschöpft, um sich darüber aufzuregen.

»Egal, Max, nur weil du mir so etwas verschweigst, macht es die Sache nicht besser.«

»Es hat außerdem gar nichts mit Anni zu tun«, verteidigte sich Heller müde und hoffte, Karin würde ihm seine Angst nicht anmerken.

 

Heller wälzte sich im Bett hin und her und versuchte, sich zum Schlafen zu zwingen, doch es war zwecklos. Wie Anni ihn angesehen hatte in der Bahn. Hätte er nichts merken müssen? Ihr Rucksack, war der nicht viel praller als sonst gewesen? Wie sie in der Kabine getrödelt hatte, ewig brauchte, bis sie die Jacke ausgezogen hatte, hatte er schon längst in der Badehose dagestanden.

»Max, jetzt weiß ich es!« Karin fuhr hoch. Auch sie hatte nicht in den Schlaf gefunden. Die Leuchtzeiger der Uhr zeigten drei Uhr in der Nacht.

»Sie wird in den Wald gegangen sein! Max, oh, mein Gott, sie wird das Lager suchen, von dem wir ihr erzählt haben. Du weißt schon, das Lager im Wald, in dem du sie und die anderen Kindern damals gefunden hast. Bei dieser Kälte! Max, sie wird erfrieren!« Karin war aus dem Bett gesprungen, zog sich hastig an und warf sich einen Pullover über.

»Karin, halt, überleg doch mal, das ist fast zehn Jahre her!«, widersprach Heller. Aber auch er war aufgestanden und suchte seine Sachen zusammen.

»Dieser Ort im Wald ist der einzige Anhaltspunkt, den sie hat aus ihrem früheren Leben!«