Dresden, 27. Oktober 1956,
Vormittag

Ein weiteres und durchaus etwas heikles Vorhaben hatte Heller seinem Kollegen unterschlagen. Oldenbusch, der immer um Konsens bemüht war, sollte sich nicht unnötig aufregen.

Heikel war sein Vorhaben insofern, als dass er Doktor Schellbach aufsuchen und ihn mit den Ergebnissen seiner Arbeit konfrontieren wollte. Das hatte er bei Kassner nie tun müssen, doch dem jungen Arzt wollte er genauer auf den Zahn fühlen. Er hatte seinen Besuch vom Apparat des ABV schon telefonisch angekündigt, damit er sicher sein konnte, dass Schellbach vor Ort war.

Heller klopfte an die Tür von Schellbachs Büro.

»Kommen Sie nur herein!«, rief Schellbach mit offensichtlich um Autorität bemühter Stimme. Als Heller den Raum betrat, stand er hektisch auf. Dabei kratzten die Stuhlbeine unnötig laut über den Fußboden.

»Herr Oberkommissar«, begrüßte er Heller und beugte sich weit über den Tisch, um Heller die Hand zu reichen. Dann deutete er auf den Stuhl vor dem Tisch.

Schellbach wirkte trotz seines weißen Kittels außerordentlich jung, er konnte kaum mit dem Studium fertig sein. Er war ein großer, sehr schlanker Mann mit dunklem, sauber gescheiteltem Haar.

»Ihnen sind Zweifel gekommen bezüglich meiner Untersuchungen an der Toten?« Schellbach ging ohne Umschweife in die Offensive.

»Keine Zweifel.« Heller hatte sich seine Worte schon zurechtgelegt. »Es hat kurzfristig eine unerwartete Entwicklung gegeben, und dem will ich nur gründlich nachgehen.«

»Was möchten Sie denn wissen?«

»Ist es wirklich ganz auszuschließen, dass die Frau durch andere Verletzungen als die von Ihnen beschriebenen ums Leben kam? Sie fanden keine Hämatome, keine Würgemale, Einstiche oder dergleichen, stimmt das? Wurde eine toxikologische Untersuchung vorgenommen?«

»Eine andere Todesursache ist völlig ausgeschlossen«, antwortete der Mediziner kategorisch. »Der Befund ist eindeutig.«

»Haben Sie die Untersuchung am Fundort der Leiche vorgenommen?«

»Dort und gründlicher noch in den Räumlichkeiten der Pathologie. Es gibt keinen Zweifel, dass die Frau an ihren inneren Verletzungen verblutete. Durch massiv gewaltsames Eindringen in die Scheide kam es zu Einrissen im Gewebe und starken Blutungen, die nur mit schneller ärztlicher Hilfe hätten gestillt werden können.« Das Gesicht des jungen Mannes wurde rot.

»Haben Sie Samenflüssigkeit finden können?«

»Nein, aber das steht im Bericht. Es ist anzunehmen, dass der Täter nicht zum Erguss kam oder das Ejakulat durch die starken Blutungen ausgespült wurde.« Schellbach hatte sehr schnell gesprochen, es klang wie auswendig gelernt.

»Schon gut, ich wollte nur ganz sichergehen. Betrachten Sie das bitte nicht als Affront gegen Sie.« Heller erhob sich schon wieder. Auch wenn sein Besuch momentan keine weiteren Erkenntnisse gebracht hatte, so würde sich der junge Arzt vielleicht doch noch einmal zu einer genaueren Untersuchung entschließen können.

Heller stand auf, reichte ihm zum Abschied die Hand. Schellbach erhob sich hastig und schüttelte sie kurz. Ihm war seine Empörung anzusehen, aber er wusste offensichtlich nicht, wie er damit umzugehen hatte.

 

»Genosse Heller!«, rief jemand über den Hof, als Heller beinahe wieder bei seinem Dienstfahrzeug angelangt war. Heller sah sich um und wartete dann auf den jungen Polizisten, der ihm entgegeneilte und salutierte.

»Genosse Niesbach wünscht Sie zu sprechen.«

Heller nickte und kehrte ins Haus zurück. Hatte Schellbach sich etwa schon beschwert, fragte er sich amüsiert. Er hatte sich nichts vorzuwerfen.

Frau Schindler in Niesbachs Vorzimmer nickte ihm freundlich zu und winkte ihn in Niesbachs Büro durch. Dabei erhob sie sich und nahm ihre Jacke und die Tasche von der Garderobe.

»Schönes Wochenende wünsche ich«, verabschiedete sie sich.

Erst jetzt bemerkte Heller die zwei Mäntel, die noch an der Garderobe hingen. Er klopfte an und betrat Niesbachs Büro. Er ahnte, dass Niesbach sowjetischen Besuch hatte. Doch dann war er durchaus erstaunt, dass es Alexej Saizev war, der mit Niesbach am Tisch saß und sich mit ihm auf Russisch unterhielt. Die Männer unterbrachen ihr Gespräch.

»Genosse Saizev kennen Sie ja, Max«, begrüßte Niesbach Heller.

Saizev erhob sich und zog die Uniform straff. Heller nickte und reichte dem Russen lächelnd die Hand. Auch wenn sie sich selten und eher zufällig trafen, verband sie doch mehr als eine normale Bekanntschaft. Soweit Heller wusste, war der Russe inzwischen verheiratet und hatte ein Kind. Alexej hatte etwas zugenommen und spürbar an Elan eingebüßt, obwohl er erst um die dreißig war. Heller vermutete, dass das an Saizevs jetziger Tätigkeit beim Geheimdienst lag, die vermutlich hauptsächlich aus Papierkram bestand. Oder war das die Folge der vielen bitteren Enttäuschungen, die der Russe erlebt hatte?

»Kann es sein, dass wir immer nur zusammenkommen, wenn es schlechte Nachrichten gibt?«, sagte Saizev. »Nur ist es diesmal kein Psychopath, weder ein männlicher noch weiblicher, der mich zu Ihnen bringt.«

Heller wusste, worauf Saizev anspielte. Diese Sache damals war wohl der größte Tiefschlag in Saizevs Leben gewesen, auch wenn er es mit Lässigkeit zu überspielen versuchte. »Es war wohl Ihr Platz, der bei unserer letzten Sitzung frei geblieben war?«, half ihm Heller.

Saizev setzte sich wieder und Heller nahm sich einen freien Stuhl.

»Man ist sich in höheren Kreisen noch nicht einig, wie man mit der Angelegenheit verfahren soll«, begann Saizev. »Ich will es auch kurz machen. Mit Bekanntwerden der konterrevolutionären Aufstände in Ungarn und interner Gerüchte, Teile der hier ansässigen Erste-Garde-Panzerarmee würden nach Ungarn verlegt, kam es vor einigen Tagen zu einer Fahnenflucht. Zwei Soldaten desertierten. Wir suchen nach ihnen, vermuten, dass sie noch nicht weit gekommen sind. Sie verstecken sich hier irgendwo, im Wald. Vielleicht sind sie auch ins Elbsandsteingebirge geflohen. Nahrungsmittel und Kleidung haben sie vermutlich gestohlen. Beide können kein Deutsch und gelten als gefährlich. Sie wurden wegen wiederholten Schlägereien, Diebstahl und Erpressung zu einigen Monaten Haft verurteilt. Genau genommen gelang ihnen also die Flucht aus einem unserer Militärgefängnisse.«

»Und damit kommen Sie zu uns?«, fragte Heller, weil er nicht aussprechen wollte, was er wirklich vermutete.

Aber Saizev durchschaute ihn sofort. Er hob beinahe tadelnd die Augenbrauen. »Heller, Sie wissen, worauf ich hinaus will. Es ist den beiden durchaus zuzutrauen, dass sie sich an den Frauen vergangen haben.«

»Meinen Sie nicht, die haben gerade andere Sorgen?«

Saizev hatte jetzt die Arme verschränkt. »Aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit sind schon schlimmere Dinge geschehen. Die beiden wissen, dass es so gut wie unmöglich ist, aus der DDR zu flüchten. Und sie wissen, welche Strafe ihnen droht. Ich wollte Sie nur informiert wissen. Demnächst werden Sie unterrichtet, wie Sie offiziell damit umgehen sollen. Man will natürlich vermeiden, dass schlechtes Licht auf die glorreiche Rote Armee fällt.«

Saizev hatte das vollkommen ernst gesagt und Heller konnte nicht heraushören, ob Saizev es ironisch meinte oder nicht. Die ersten Vergewaltigungen waren vor Wochen geschehen, wusste Heller, wenn die beiden Soldaten kürzlich erst geflüchtet waren, konnten sie damit nichts zu tun haben.

»Warum genau saßen sie denn im Gefängnis?«

Saizev hob wieder die Augenbrauen, antwortete jedoch nicht.

»War es ihnen vor ihrer Inhaftierung erlaubt, die Kaserne zu verlassen?«, fragte Heller weiter, auch wenn Niesbach neben ihm tief durchatmete.

Saizev zwinkerte ihn nur traurig an.

»Welchen Grund hatten die beiden denn, zu desertieren, wenn ihre Chancen so gering sind?«

Niesbach stöhnte leise auf. Heller wusste warum, mit seiner Frage hatte er gerade ein Tabu gebrochen. Es hieß, die Zustände in den Kasernen der Sowjets seien furchtbar.

Unvermittelt lächelte Saizev nun doch, wenn auch nur kurz. »Sie waren eingesperrt. Das genügt manchem schon zur Flucht. Sie haben sich durch eine Wand gegraben. Nun müssen wir dickere Wände mauern. Und mehr Zement benutzen.«