Dresden, 18. November 1956,
früher Vormittag

Es gab keinen Grund für verdecktes Vorgehen. Mit quietschenden Reifen bremsten die Laster und PKW vor Schulzes Anwesen in Gorbitz. Die Männer sprangen von den Ladeflächen, sprengten das verschlossene Tor mit einer Ramme und strömten auf den Hof. Sie verteilten sich, während ein kleinerer Trupp unter der Leitung Oldenbuschs die Tür zum Wohnhaus aufbrach und eindrang.

»Polizei!«, rief Oldenbusch. »An die Wand, Hände hinter den Kopf!«

Heller hörte Frau Schulze in Panik schreien. Er wusste selbst nicht, wohin er zuerst gehen sollte. Überall waren Leute, er würde nur im Wege stehen. Doch vielleicht scheute er sich nur, dem Mann ins Gesicht zu sehen, der seinem Kind etwas angetan hatte. Vielleicht scheute er sich, weil er nicht wusste, ob er sich beherrschen konnte. Mit den Händen in den Manteltaschen ging er zu der großen Linde in der Mitte des Hofes und lehnte sich an ihren Stamm. Bald darauf kamen einige Männer aus der Scheune, um Bericht zu erstatten.

»Nichts«, meldete einer. »Keine Bodenklappen, keine Verstecke.«

»Helfen Sie im Wohnhaus mit!«, befahl Heller.

Auch die anderen hatten keine Erfolge zu berichten. Einen Kartoffelkeller hatte man gefunden, den alten Brunnen ausgeleuchtet, auch im Haus war nichts Auffälliges entdeckt worden. Nirgendwo eine Spur. Heller entschloss sich, selbst mit den Schulzes zu reden, die man inzwischen auf den Hof gebracht hatte, wo sie dem Wetter schutzlos ausgesetzt unter der Bewachung zweier bewaffneter Polizisten ausharren mussten.

 

Frau Schulze zitterte in Panik, sah Heller ängstlich an, als ginge eine Gefahr von ihm aus, als genügte ein Wort von ihm, ihr Leben zu beenden.

Herr Schulze war ebenso geschockt, und doch bedachte er Heller mit einem flehenden Blick. Seine Frau wusste also noch immer von nichts.

»Bringen Sie die Frau ins Haus. Herr Schulze kommt mit mir in die Scheune!«, befahl Heller und ging vor.

»Also?«, fragte er und drehte sich zu Schulze um, der von einem der Uniformierten eskortiert wurde.

»Was? Was wollen Sie von uns?« Schulze gab sich unwissend.

»Wo ist sie?«, fragte Heller.

»Wer?«

Heller zerrte den Zettel hervor und hielt ihn dem Mann vor das Gesicht. »Wo ist sie?«

Schulze las und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was das ist!«

»Ein abgetrennter Finger war dabei! Ihr Sohn ist gemeint, es gibt keine andere Erklärung! Freilassen, in den Westen bringen. Damit ist doch Ihr Sohn gemeint, Karl Schreiber, machen Sie mir nichts vor!«

»Nein, nein, ich weiß nichts, ich weiß nicht, wer gemeint sein soll! Wer ist denn ›sie‹?«

»Frau Koch, Sabine Koch!«

»Ich kenn doch gar keine …«

Ohne Vorwarnung sprang Heller vor und packte den Mann an der Kehle. »Wenn Sie …«, zischte er. Dann besann er sich und ließ den Mann wieder los. »Sie würden alles für ihn tun, haben Sie gesagt!«

Schulzes Augen flackerten. »Herr Oberkommissar, ich weiß von nichts, ich schwöre. Untersuchen Sie uns, untersuchen Sie alles. Ich war hier, die ganze Zeit, es gibt Leute, die können das beweisen. Ich habe keine andere Frau hier, nirgendwo, ich kenne keine Frau Koch.«

»Ihre Frau weiß von nichts? Noch immer nicht?«

»Nein, nichts, ich schwöre, und ich flehe Sie an …«

»Still! Wir nehmen Sie mit! Und wir werden alles untersuchen!« Heller trat wieder dicht an den Mann heran. Schulze wollte zurückweichen, doch der Polizist hinter ihm hielt ihn auf.

»Meine Tochter ist verschwunden, Schulze. Ich appelliere an Ihr Gewissen, es mir zu sagen, wenn Sie damit etwas zu tun haben.«

Schulze atmete erleichtert aus. Er hatte wohl mit viel Schlimmerem gerechnet. »Ich schwöre es, bei allem, was mir heilig ist …«, krächzte er heiser.

Heller wandte sich an den Polizisten. »Führen Sie ihn ab. Ich geh zu seiner Frau!«