Dresden, 18. November 1956,
früher Abend

Es war still in der Küche. Er hatte Karin alles erzählt, ohne etwas auszulassen. Auf dem Tisch standen Teller mit Brot, Butter, Wurst. Sie hatten beide weder Frühstück noch Mittagessen gehabt, trotzdem hatten sie auch jetzt das Essen auf dem Tisch noch nicht angerührt. Inzwischen war es dunkel geworden, draußen und in der Küche. Keiner von beiden hatte die Kraft gehabt, aufzustehen und zum Lichtschalter zu gehen.

»Wie soll es weitergehen?«, fragte Karin irgendwann in die Stille hinein.

Heller hatte keine Antwort. Er konnte nicht weiterdenken als bis zur nächsten Minute. Dass sie Anni nicht finden konnten, lähmte ihn und nahm ihm jegliche Kraft. Wenn es sein musste, würden sie sich irgendwann an diesen Gedanken gewöhnen müssen, denn das Leben ging immer weiter. Doch dieser Zeitpunkt war noch unendlich weit weg. Er würde noch lange so fernbleiben müssen.

»Was können wir noch tun?« Karin sprach so leise. Heller verstand sie kaum. Er musste sich anstrengen, ihre Worte bis zu seinem Kopf durchdringen zu lassen.

»Suchen«, antwortete er schließlich. »Suchen, immer weitersuchen. Mit System.«

»System«, wiederholte Karin und lachte bitter auf. Heller nahm ihre Hand.

»Sie wird wiederkommen!«, sagte er. »Sie wird gefunden werden. Sie ist doch klug, sie bleibt nicht draußen in der Nacht! Vielleicht versteckt sie sich hier in der Nähe irgendwo. Hast du im Kaninchenstall nachgesehen?«

»Da war ich als Erstes.«

»Und in der Schule?«, fiel es ihm schlagartig ein.

»Max, natürlich«, sagte sie und hielt ihn am Arm fest, weil sie wohl gespürt hatte, dass er aufspringen wollte.

Heller ließ sich wieder zurücksinken. »Wollen wir noch etwas essen? Dann gehen wir gemeinsam los? Werner hat angeboten, uns zu fahren, ich muss ihn nur anrufen. Klaus will alles tun, was in seiner Macht steht. Der Suchbefehl ist an alle Reviere gegangen. Karin, in unserem Land kommt niemand einfach weg.«

Karin reagierte nicht. Sie wusste, dass er sich damit nur selbst Mut zusprechen wollte. Nach was für einem lächerlichen Strohhalm er griff, wenn er jetzt schon den Staat beschwor mit seiner rigiden Grenzpolitik.

»Ich werde es mir nie verzeihen …« Dann schwieg sie. Manche Worte mussten nicht ausgesprochen werden.