Dresden, 26. November 1956,
Vormittag

»Wie geht es dir?«, fragte Heller Oldenbusch, als dieser das Büro betrat.

Der winkte nur ab und hängte erst mal seine Jacke an die Garderobe. Er trug einen Verband um den Kopf, weil seine Platzwunde genäht werden musste.

»Der hat uns regelrecht aufgelauert, sag ich dir. Hat mir eins mit der Schaufel verpasst, da gingen mir gleich die Lichter aus. Ich habe die Schöneich noch nicht mal gesehen.«

Stöhnend ließ Oldenbusch sich auf seinen Stuhl fallen. Eine Weile herrschte Schweigen zwischen den Männern.

»Ich mache mir große Vorwürfe wegen Frau Schöneich«, begann Heller schließlich. »Sie wollte es nicht sagen, doch ich bin mir sicher, Bemmann hat sich auch an ihr vergangen. Und ich will mir gar nicht vorstellen, was sie ausgestanden haben muss in dem stockfinsteren Keller, mit der Leiche von Pantle vor Augen.«

Oldenbusch versuchte sich am Hinterkopf unter dem Verband zu kratzen. »Aber sie hat gegen deine Anweisungen gehandelt. Sie ist allein auf die Suche nach der Leiche gegangen und wurde dabei von Bemmann ertappt, soweit ich das mitbekommen habe.«

Heller schüttelte den Kopf. »Ich hätte sie gar nicht erst da einschleusen dürfen.«

»Da kannst du recht haben, Max, aber immerhin haben wir ihn so erwischt. Den Pantle hatte er ja auch schon beseitigt, vermutlich war der auf die versteckte Leiche gestoßen.«

»Oder er tötete ihn vorsätzlich, um die Leiche in dessen Wohnung verstecken und den Verdacht auf ihn lenken zu können. Aber auch das ginge dann auch auf mein Konto!« Nein, er konnte wirklich nicht zufrieden mit sich und seiner Arbeit sein.

»Max, das nimmst du zu persönlich. Der Mann war verzweifelt. Erst glaubte er davonzukommen, dann kamen wir ihm doch auf die Schliche. Er hat in Panik gehandelt. Der hätte uns alle in dem Keller verrotten lassen.«

»Wie sieht es eigentlich aus? Lebt er?«

»Dein Schuss ging durch die Lunge. Sie mussten in einem Lungenflügel Blut absaugen. Außerdem ist sein Unterkiefer gebrochen. Muss beim Sturz passiert sein, oder?« Oldenbusch sah ihn fragend an.

Heller nickte. »Möglich wäre das.«

Oldenbusch blickte ihn nachdenklich an. »Der geht also Gassi mit seinem Hund, beobachtet, wie der Frauenarzt und Fräulein Koch die Leiche von Marie Pressler unter der Brücke ablegen. Dann klaut er der Toten die Uhr und läuft Fräulein Koch nach …?«

Heller hob die Hand. »Vielleicht hatte Sabine Koch ihr die Uhr abgenommen, und er hat sie ihr später gestohlen?«

»Also gut, er läuft Sabine Koch nach und erpresst sie?«

Heller nickte. »Er tut im Prinzip das, was wir Heiner Nixdorf vorgeworfen haben. Sie muss in großer Angst gewesen sein, dass sie ins Gefängnis kommen könnte. Deshalb ließ sie sich auf ihn ein.«

»Aber hatte er denn vor, sie umzubringen?«

»Ich glaube nicht. Aber vielleicht wurde ihm irgendwann klar, dass er nicht einfach so flüchten konnte. In diesem Land unterzutauchen, ist nicht einfach. Er hätte nach Westberlin gemusst, vielleicht hatte er das auch versucht, als er die zwei Tage verschwunden war. Spätestens als er nach seiner ersten Flucht reuig zurückkehrte und uns die Geschichte mit der Uhr auftischte, war ihm das bewusst. Ich fürchte sogar, die Koch hat zu diesem Zeitpunkt noch gelebt.«

»Und die Wuttke?«

»Die hatte er wohl schon länger im Visier. Er kannte sie offenbar vom Sehen und wusste auch, wo sie wohnte. Vielleicht hat er auch Pantle gelegentlich besucht und sie ins Nachbarhaus gehen sehen. Als ihm von Meißner erzählt wurde, dass wir Heiner Nixdorf verdächtigten, hat er sie umgebracht und versucht, die Tat auf ihn abzuwälzen.«

»Was auch gut funktioniert hat«, kommentierte Oldenbusch trocken. »Und offensichtlich ist unser Staatsanwalt ein geschwätziger Kerl.«

»Er ist inzwischen suspendiert.«

Wieder kehrte Stille ein.

Schritte näherten sich im Gang, nach ein, zwei Sekunden klopfte es.

»Herein!«, bat Heller.

Die Tür wurde geöffnet, und Frau Schöneich trat ein. Sie humpelte und hatte offensichtlich Schmerzen, die sie aber zu verbergen versuchte.

»Wir sprachen gerade von Ihnen«, begrüßte Heller sie und wurde sich augenblicklich bewusst, welcher Natur dieses Gespräch gewesen war. Frau Schöneich nickte nur knapp.

»Wollen Sie sich setzen?« Heller bemerkte selbst, wie bemüht er sich gab. Nachdem er sie am Samstag in die Hände der Sanitäter übergeben hatte, hatten sie nicht mehr gesprochen. Er würde ihre Aussage gegen Bemmann benötigen, doch er hatte sie nicht aufgefordert, in sein Büro zu kommen. Er wusste auch nicht, ob sie einen Bericht schreiben würde und wer diesen bekam. Schlimmer als die Vorwürfe, die er sich machte, konnte es kaum werden.

»Die Frauen in der Küche beschwerten sich über einen seltsamen Geruch«, begann Frau Schöneich ganz unvermittelt. »Ich wollte Sie zuerst anrufen, um Ihnen das mitzuteilen, doch ich wollte keinen unnötigen Alarm schlagen. Gleich am Morgen des zweiten Tages war ich ganz früh zur Schule gegangen und schlich mich in den Keller. Ich fand den versteckten Zugang zu dem zweiten, tieferen Keller. Entweder hat er schon etwas geahnt, oder er sah mich zufällig. Er schlug mich nieder, fesselte mich in diesem Raum an das Rohr und sperrte mich dann ein. Der Gestank war kaum zu ertragen. Sein Hund … lag da … vor mir …«

Heller ließ ihr einen Moment Zeit. »Also gut«, meinte er dann, »was geschehen ist, müssen wir noch aufarbeiten, es werden noch einige Fragen kommen, auch von höherer Stelle.« Heller öffnete die Handflächen, wusste nicht mehr weiter.

»Ich wollte Sie eigentlich gar nicht weiter stören. Ich wollte nur fragen, ob Sie schon dazugekommen sind, mir eine Empfehlung zu schreiben?«

»Um ehrlich zu sein, ich hatte noch keine Gelegenheit«, antwortete Heller peinlich berührt, ein wenig hatte er gehofft, sie würde nicht darauf bestehen.

»Ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden. Ich meine, ich habe doch ausreichend bewiesen, was in mir steckt und was ich bereit bin zu leisten.«

»Ja … Natürlich … Also, wenn Sie das so möchten … Ich setze mich gleich dran.« Heller war ins Stottern geraten.

Frau Schöneich erhob sich. »Ja, das möchte ich. Vielen Dank!«