9. KAPITEL

Apfelnacht trat einen Schritt zurück. Sein Blick verdüsterte sich und er sah auf einmal sehr müde aus. »Ich will nicht gegen dich kämpfen, Ahornschatten«, miaute er.

»Ich lasse dir aber keine Wahl!«, fauchte Ahornschatten. Sie spannte die Hinterbeine an und stürzte sich auf ihn.

Apfelnacht wich ihrer Attacke aus. »Verschwinde doch einfach von hier!«, miaute er.

Die Farnwedel hinter ihm raschelten und Schilfglanz erschien. »Was ist hier los?« Ihr Blick fiel auf Ahornschatten. »Was hat sie hier zu suchen?«

Blind vor Zorn stürzte sich Ahornschatten auf die hellrote Kätzin. »Du und deine Jungen, ihr müsst alle sterben!«, kreischte sie. »Apfelnacht gehört mir!« Sie fuhr die Krallen aus und zielte mit einem gewaltigen Hieb nach Schilfglanz.

Schnelle Pfotenschritte ertönten, dann herrschte Stille und auf einmal tauchte eine große, braune Gestalt vor Ahornschatten auf. Ihre Krallen trafen ihr Ziel und bohrten sich durch Fell und Fleisch, sodass sich ein Blutschwall über sie ergoss. Mit einem Grunzen sackte Apfelnacht vor ihr zusammen, Blut strömte aus seiner Kehle.

Im gleichen Moment prallte ein schweres Gewicht von hinten gegen Ahornschatten. Es war Barschpfote, der sie mit den Pfoten packte und seine Zähne in ihren Nacken grub. Ahornschatten taumelte vor und fiel fast um. Barschpfote rutschte von ihrem Rücken. Ahornschatten meinte, ihn neben sich zittern zu spüren, bis sie begriff, dass es ihr eigener Körper war, der so bebte. Aber warum? Ich habe keine Angst.

»Er ist tot!«, kreischte Schilfglanz und kauerte neben Apfelnacht. Sie schaute entsetzt zu Ahornschatten auf, ihre Augen waren ganz weiß vor Furcht. »Du hast ihn getötet!«

Ahornschatten wollte auf sie zugehen, doch ihre Beine waren auf einmal so schwer und ihre Sicht verschwamm. »Regnet es?«, fragte sie sich. Etwas Heißes, Nasses strömte über ihre Vorderpfoten und ein dumpfer Schmerz breitete sich hinter ihren Ohren aus. Sie schüttelte den Kopf und verteilte hellrote Tropfen wie winzige Laubstücke über den Boden.

Eine kleine, hellbraun-weiß gefleckte Gestalt regte sich neben Apfelnachts reglosem Körper. »Du hast ihn getötet, Mama!«, jubelte Fleckenjunges, den kurzen Schwanz triumphierend in die Höhe gereckt. »Jetzt sind wir alle frei!« Sein Umriss verblasste vor dem hellbraunen Fell seines Vaters.

Ahornschatten wankte auf ihren Sohn zu. »Warte!«, ächzte sie. »Verlass mich nicht!«

Schilfglanz richtete sich hinter Apfelnacht auf und fauchte sie an: »Komm ja nicht näher! Noch nie hat eine Clan-Katze eine so schreckliche Untat verbrochen wie du. Aber du hast nicht gewonnen, Ahornschatten. Apfelnacht wird in seinen Jungen weiterleben und in ihren Jungen und in ihren. Sein Geist wird niemals sterben. Er wird für immer Teil des FlussClans sein!«

Ahornschatten schwankte. Sie spürte die klebrige Erde unter ihren Pfoten. »Dann werde ich allen deinen Nachkommen auflauern und jeden einzelnen dafür bestrafen, was ihr mir angetan habt«, schwor sie heiser. »Meine Rache ist noch nicht vollendet. Sie wird niemals vollendet sein!«

Sie floh in das Dickicht hinter den Weiden. Sie meinte zu hören, wie Barschpfote ihr folgen wollte und von Schilfglanz zurückgerufen wurde. »Sie hat schon genug Schaden angerichtet«, hörte Ahornschatten sie sagen. »Soll sie davonkriechen und allein in einem Loch verrecken.«

Ahornschatten zwängte sich durch das Gestrüpp. Sie spürte keinen Schmerz, nur eine seltsame Taubheit, die sich in ihrem Körper ausbreitete. Sie erreichte den Rand des Dickichts. Vor ihr ragten die Mauern des Zweibeinerbaus auf, in dem sie in ihrer ersten Nacht als Vertriebene geschlafen hatte, aber Ahornschatten war zu schwach, um auch nur einen Schritt weiter zu gehen. Sie sackte zusammen und spürte, wie sich Schmutz und kleine Steine in ihr blutgetränktes Fell gruben. Sie schloss die Augen und wartete darauf, dass die Gesichter ihrer Jungen erschienen und ihr dafür dankten, was sie getan hatte.

Doch hinter ihren Augen wirbelte nur eine tiefe Dunkelheit, die durchdrungen war von einem eiskalten Wind und nicht einmal vom Schimmern der Sterne erhellt wurde. Ein erster Anflug von Furcht regte sich in Ahornschatten. »SternenClan, wo bist du?«, heulte sie in die endlose Düsternis hinein. »Wo sind meine Kleinen?«

Ein verschwommenes kleines Fellgesicht tauchte vor ihren Augen auf. »Fleckenjunges?«, ächzte Ahornschatten und versuchte, die Pfote nach ihm auszustrecken.

»Ach, du bist es!«, miaute die Katze. »Erinnerst du dich an mich? Ich bin Milo. Wir sind uns schon begegnet.« Ahornschatten spürte seine Nase an ihrer Flanke. »Du bist schwer verletzt«, miaute der kleine Kater. »Du Arme. Komm, ich bringe dich hinein.«

Mit überraschender Kraft stemmte er Ahornschatten hoch und führte sie in den Zweibeinerbau, wo sie auf einem Heubündel zusammenbrach. Ich habe alles verloren. Ich habe nichts mehr, für das es sich zu leben lohnt.

Neben ihr raschelte es, dann begann der schwarz-weiße Kater, ihr Fell mit einem nassen Moosbüschel abzutupfen. Ahornschatten war zu müde, um ihn wegzustoßen. Sie öffnete ihr Auge einen Spaltbreit und sah, wie Blut über ihr Fell strömte und sich unter ihr sammelte.

»Es ist einfach zu viel, viel zu viel«, stöhnte Milo besorgt und tupfte noch hektischer an ihrem Fell. »Hat dich eine Clan-Katze so verletzt?«

Ahornschatten schloss das Auge wieder und nickte.

Die kleine Katze seufzte. »Ach, ihre Wildheit und ihr Durst nach Blut sind so unendlich groß«, murmelte er. »Du hättest weggehen sollen, als du noch die Gelegenheit dazu hattest.«

Weggehen? Wie könnte ich je von hier weggehen? Ich habe geschworen, den Tod meiner Jungen zu rächen, und das habe ich getan. Aber meine Rache ist noch nicht vollendet, weil Apfelnacht in Schilfglanz’ Jungen weiterleben wird. Sie wird nie zu Ende sein.

Milo kauerte sich neben sie und presste, ohne zusammenzucken, sein Fell gegen ihren blutüberströmten Körper. »Ich bleibe bei dir«, versprach er. »Du bist jetzt in Sicherheit.«

Ahornschatten fuhr ihre blutroten, zerbrochenen Krallen aus. »Lass mich in Ruhe«, knurrte sie heiser und zwang sich, den Kopf zu heben und ihn wütend anzustarren. »Ich brauche niemanden.«

Der schwarz-weiße Kater stand auf und sah mit traurigen Augen auf sie hinab. »Ich denke, du irrst dich«, flüsterte er. Dennoch drehte er sich um und tappte in die nach Heu duftende Dunkelheit davon.

Einen Moment lang spürte Ahornschatten den Drang, ihn zurückzurufen, aber der Schlaf zerrte an ihr, schwerer als Steine und stärker als der Fluss. Sie schloss die Augen, und ihre Gedanken füllten sich mit brodelnden Schatten, durch die immer wieder schrille Schreckensschreie hallten, die sie zusammenfahren ließen. Irgendwann spürte sie Boden unter den Pfoten. Er war kalt und nass und stinkend wie der Fluss. Plötzlich konnte sie auch wieder laufen, Kraft strömte in ihre Glieder und ihre Augen konnten wieder sehen.

Sie kam auf eine spärlich beleuchtete Lichtung, die von grauen Baumstämmen umringt war. Obwohl sie spürte, wie sie von unsichtbaren Augen beobachtet wurde, empfand sie keine Angst. »Bin ich tot?«, miaute sie laut und lauschte, wie das Echo ihrer Stimme zwischen den Bäumen hallte. »Ist das der SternenClan?«

Sie schaute auf, aber an dem tiefschwarzen Himmel über ihr waren keine Sterne, nicht mal ein silberner Schimmer jenseits der raschelnden Blätter. Stattdessen schien das wenige Licht von einer fleischigen Pilzschicht auszugehen, die die Baumwurzeln überwucherte, und von den schleimigen Stämmen selbst.

»Kein SternenClan«, wisperte eine kalte, unheimliche Stimme irgendwo hinter ihr. »Das hier ist der Wald der Finsternis, auch der sternenlose Ort genannt. Wir begrüßen dich, Ahornschatten.«

Ahornschatten fuhr herum. »Wer seid ihr? Zeigt euch?

»Niemals«, zischte die Stimme. »Hier musst du allein durch deine blutgetränkten Erinnerungen wandeln.«

Anstelle von Furcht spürte Ahornschatten ein Gefühl von Triumph. Wenn sie wegen des Kummers, den sie durchlitten hatte, hier gelandet war, dann musste es noch andere Katzen wie sie geben, Katzen, die verstehen würden, was sie durchgemacht hatte, und die wüssten, wie es war, seinen Feinden gegenüberzutreten und ihnen unermessliche Schmerzen zuzufügen.

Ahornschatten würde diese Katzen finden, egal, was die Stimme sagte, und sie trainieren, damit sie so stark und furchtlos wurden wie sie selbst, und sie dann dazu benutzen, um den Clans eine solche Pein zu bereiten, wie es sich die Krieger in ihren schlimmsten Träumen nicht vorstellen konnten.

Ahornschatten hatte einen Ort gefunden, wo sie hingehörte. Von hier aus würde sie mehr Leid verursachen können als zu ihren Lebzeiten, wo sie ihre Kämpfe hatte alleine ausfechten müssen. Apfelnachts Nachkommen würden bis in alle Ewigkeit den Tag betrauern, an dem er das Leben einer DonnerClan-Kriegerin zerstört hatte. Getreu dem Versprechen, das sie Schilfglanz gegeben hatte, würde Ahornschattens Verlangen nach Vergeltung niemals ruhen.