KAPITEL EINS

6. März 2008
Williamson’s Park, Lancaster

Mia trat auf die Bremse an dem Kinderwagen, umrundete ihn und sah nach Billy. Gott sei Dank war er endlich eingeschlafen! Seine niedlichen Pausbäckchen waren rot vor Kälte, sein Kinn schon vollgesabbert.

Mit etwas Glück würde sie auf dem Heimweg noch Zeit für ein schnelles kleines Bier vor dem Sun haben. Immerhin war heute der Geburtstag ihrer besten Freundin, und »es wäre unhöflich, es nicht zu tun, Woodhouse, sehr unhöflich …«. Sie wusste, was ihre beste Freundin dazu zu sagen haben würde.

»Hi, Liv.« Mia nahm ihren Rucksack ab, setzte sich auf die Bank und nahm für einen Moment den Anblick in sich auf, um sich wieder einmal dazu zu gratulieren, dass sie diesen fabelhaften Platz beim Ashton Memorial gefunden hatte, das weiß in der Sonne schimmerte wie eine kleinstädtische Variante des Tadsch Mahal. Lancaster lag unter ihnen, durchzogen vom River Lune, der wie ein silbernes, sich durch die Stadt schlängelndes Band in der Sonne schimmerte, und in der Ferne waren die Lakeland Hills zu sehen. Mia dachte oft, dass sie wie riesige, langhaarige Mammute aus uralten Zeiten aussahen.

Sie nahm das Bierglas und die Flasche Wasser aus dem Rucksack und die Tulpen aus der Einkaufstüte, stellte das Glas auf den Boden, füllte es mit Wasser und versuchte, die gelben Blumen hübsch darin zu arrangieren. »Ha!«, sagte sie, verärgert auf sich selbst, weil sie nicht daran gedacht hatte, eine Schere mitzubringen. Die Stängel waren zu lang für das Glas, bogen sich nach allen Seiten oder fielen aus dem Glas heraus ins Gras.

Mia lehnte sich auf der Bank zurück und sah die Tulpen an.

»Tja, das sieht echt blöd aus, nicht?« Dann lachte sie, vor allem über die Vorhersehbarkeit dieses Fehlschlages. Wo war Olivia Jenkins, wenn man einen Blumenstrauß gestalten musste?

Mia rutschte zur anderen Seite der Bank, um nicht in der Nähe des Kinderwagens zu sein, und nahm das Päckchen Golden Virginia und die Blättchen aus der Jackentasche. Fröstelnd zog sie ihr Kapuzenshirt über die Knie. Warum hatte sie bei dieser verdammten Kälte keinen Mantel angezogen?

In letzter Zeit passierte es ihr ziemlich oft, dass sie schon draußen und irgendwohin unterwegs war, bevor sie bemerkte, dass sie für das Wetter völlig ungeeignete Kleidung trug. Erst vor einer Woche war sie in der Post gewesen und hatte feststellen müssen, dass sie denkbar unpassende Schuhe trug.

Ein leises Schuldbewusstsein beschlich sie, als sie sich eine Zigarette drehte und einen Blick auf die Rückseite des Kinderwagens warf, aber sie hörte nicht damit auf. »Augen zu und durch!«, wie Olivia sagen würde. Und bei Billys despotischer Vorgehensweise, was Schlaf anging (dass er ihr nämlich nie welchen erlaubte), war es eben entweder ab und zu ein Glimmstängel oder Adoption – andere Möglichkeiten blieben ihr nicht. So betrachtet, fühlte Mia sich schon besser und zündete die Zigarette an.

»So, dann ist also heute dein Geburtstag, Olivia Jenkins. Happy birthday, meine Liebe.«

Mia blies den Rauch in den klaren Märzhimmel, der geradezu zu flirren schien, so kalt war es.

»Ja, ja, ich weiß schon, was du sagen würdest. Du solltest dich schämen zu rauchen, Mia Woodhouse, wo du jetzt doch eine verantwortungsbewusste Mutter sein solltest. Aber mal ehrlich, Liv, nach der Woche, die ich mit David Blaine dort drüben hatte – und dem Baby, das sich dem Schlaf so lange widersetzt, dass es in einer Show auftreten sollte, damit die Leute sich das ansehen können –, wärst du nachsichtiger mit mir. Außerdem kann ich dir jetzt sogar aus vollster Überzeugung sagen …«, sie hielt inne, um einen tiefen Zug zu tun, »dass diese Zigarette eine ist, die du als ›Zwanzig-Pfund-Ziggi‹ bezeichnet hättest.«

Sie lachte – um dann ganz unversehens in Tränen auszubrechen (auch das geschah immer öfter neuerdings), weil ihr plötzlich ein Gedächtnisblitz kam: Liv mit Fraser am Strand auf Ibiza, mit diesem albernen Sonnenschutzschirm auf dem Kopf, den sie die ganzen vierzehn Tage nicht hatte abnehmen wollen, sodass sie ausgesehen hatte wie eine Rentnerin aus Florida. Und wie sie sagte: »Das ist eine Zwanzig-Pfund-Ziggi.« Womit sie ausdrücken wollte, dass die Zigarette so gut war, dass sie zwanzig Pfund dafür bezahlen würde.

Alle hatten einen Lachanfall bekommen und nicht mehr aufhören können.

»Erinnerst du dich, wie du das immer sagtest, Liv?« Mia schwieg einen Moment. »Auf jeden Fall habe ich gute Neuigkeiten auf dem Gebiet«, fuhr sie fort und riss sich zusammen, weil ihre Stimmung hier oben zu leicht umschlagen könnte, zumal sie unter akutem Schlafmangel litt und sie trotzdem unbeschwert und unterhaltsam bleiben wollte. Schließlich war heute Livs Geburtstag. »Fraser hat das Rauchen aufgegeben! Kannst du dir das vorstellen? Ich würde mich für ihn freuen, wenn er nicht so selbstgefällig wäre. Ehrlich, das bringt mich um. Neulich rief er um sieben Uhr morgens an – als Billy gerade wieder eingeschlafen war; ich hätte ihn umbringen können, wenn er nicht zweihundertfünfzig Meilen entfernt gewesen wäre –, nur um mir zu sagen: ›Rate mal, wo ich bin! Na, komm schon, rate mal!‹«

»Und ich sagte: ›Keine Ahnung. Auf einer Polizeiwache? Im Zoo? Buckingham Palace?‹ Und er: ›Nein. In Hampstead Heath.‹«

»Also meinte ich: ›Na prima. Also bist du anscheinend noch nicht im Bett gewesen nach irgendeinem tollen Abend irgendwo und rufst nur an, um mich zu nerven. Das ist nicht sehr nett von dir.‹ Aber er sagte: ›Falsch geraten. Ich bin auf der Laufbahn in Hampstead Heath.‹ Dann wiederholte er es noch einmal, falls ich nicht verstanden hatte: ›Ich bin auf der Laufbahn, wo ich ein paar Runden gelaufen bin.‹ Er klang allerdings nicht besonders außer Atem, und als ich ihn darauf hinwies, gab er’s mir gleich wieder: ›Nein, aber wieso auch? Schließlich habe ich aufgehört zu rauchen. Seit drei Wochen und fünf Tagen schon!‹ Was sich dann als der wahre Grund herausstellte, warum er mich um diese Zeit anrief. Wie gesagt, es ist einfach unerträglich, wie schrecklich selbstgefällig er jetzt ist. Fast wäre mir so schlecht geworden, dass ich in eine Tüte hätte spucken müssen. So ist Fraser neuerdings.«

Mia blickte sich um, um zu sehen, ob sie allein war. Sie musste zugeben, dass sie sich manchmal ein bisschen blöd vorkam, wenn sie hier saß und scheinbar Selbstgespräche führte. Doch es war der einzig richtige Ort, den sie hatte – ein Ort, der Liv gehörte (wenn sie nicht jeden Monat den ganzen Weg bis zum Peterborough-Friedhof laufen wollte – und sie wusste, was Liv dazu sagen würde). Aber sie wusste auch, dass Olivia, wenn es andersrum gewesen wäre, schon Wochen vorher die ganze Truppe mobilisiert und sie alle diese mörderischen Hügel zum Williamson’s Park hätte hinaufmarschieren lassen. Und sie hätte Kuchen und Kerzen mitgebracht – und wahrscheinlich sogar einen Sängerchor, wie Mia sie kannte. Sie konnte sie sich sogar alle vorstellen: Liv ganz vorn und alles schleppend, Melody, die mit hohen Absätzen und einem etwas zu engen Kostümchen hinterherstolperte und sich beschwerte, der Kuchen sei prollig und warum sie nicht einen bei Marks gekauft hatten. Norm als Letzter, sodass er laufen musste, um die anderen einzuholen, und Anna … Nein, Anna wäre vermutlich noch nicht da gewesen, nachdem sie nach irgendeinem One-Night-Stand erst vor etwa einer Stunde das Bett in Tooting verlassen hätte, und schließlich Fraser – der reizende Fraser Morgan … Was hätte er getan? Wahrscheinlich wäre er noch schnell zum nächsten Spirituosenladen gelaufen, nachdem er in allerletzter Minute beschlossen hatte, dass der Anlass Alkohol erforderte.

Mia dachte an Fraser, ganz allein in seiner Wohnung in Kentish Town, die er früher mit Liv geteilt hatte, und wurde von einer Flut von Zuneigung zu ihm erfasst. Der arme Fraser – sie musste ihn anrufen, sobald sie hier fertig war, weil der heutige Tag für ihn besonders schwer sein würde. Sie stellte sich vor, wie er erwachte, sich des Datums und Livs schmerzlicher Abwesenheit in der Wohnung gewahr wurde und wie die Erinnerungen ihn überschwemmten, noch schärfer und bitterer denn je. In Momenten wie diesem wünschte sie, Fraser würde nach Lancaster zurückkehren, damit sie ihn im Auge behalten konnte.

»Tja, was gibt’s sonst noch Neues?« Mia zog ihre Ärmel über die Hände und blies darauf, um sie zu wärmen. »Oh ja … Billy. Mein Sohn. Den hätte ich doch fast vergessen! Ich kann’s kaum glauben, dass er schon beinahe acht Monate alt ist. Wo zum Teufel ist die Zeit geblieben seit seiner Geburt? Wenn ich zurückblicke, kann ich mich an nichts erinnern. Ich muss es ausgeblendet haben. Na ja, die gute Neuigkeit ist auf jeden Fall, dass er weder meine Schweineöhrchen noch mein vorstehendes Kinn geerbt hat … obwohl Letzteres im Moment noch schwer zu sagen ist bei seiner pummeligen Kinnpartie. Die schlechte Nachricht ist, dass er alles andere von Eduardo hat. Er ist buchstäblich sein Double, was mich maßlos ärgert, wie du dir sicher vorstellen kannst: die gleichen schönen grünen Augen, die dicht zusammenstehenden brasilianischen Augenbrauen, der gleiche schmollende Gesichtsausdruck, wenn er nicht kriegt, worauf er ein Recht zu haben glaubt … Ich hoffe nur bei Gott, dass er nicht auch Eduardos absolute Respektlosigkeit Frauen gegenüber geerbt hat.

Ach, Olivia, warum habe ich nicht auf dich gehört, als du sagtest, ›vertraue keinem Mann, der sogar drinnen eine Sonnenbrille trägt‹? Eduardo hat sich als nutzloser Gockel herausgestellt, was nicht weiter überraschend ist, aber in irgendeinem Teil meines erbsengroßen Hirns habe ich wohl doch gedacht, er würde sich noch ändern. Was er jedoch leider nicht getan hat. Seit ich Billy habe, hat er ihn acht Mal gesehen. Acht Mal in fast acht Monaten! Erbärmlich, was?«

Mia konnte wieder die vertraute Wut in sich aufsteigen spüren, Wut von der Sorte, die sie in Versuchung führte, mit der Faust gegen die Wand zu schlagen – oder vielmehr in Eduardos dämliches Gesicht. Es war dieses unerträgliche Gefühl der Ungerechtigkeit, das sie stets ergriff, wenn sie an Eduardo dachte. Was sie jedoch wirklich auf die Palme brachte, war, dass er eigentlich nur ein Sommerflirt hatte sein sollen und nicht der (völlig unbrauchbare) Vater ihres Kindes. Sie war etwa ein Jahr mit ihm zusammen gewesen, als sie schwanger geworden war, doch sie hatte immer gedacht, er sei »gut genug für den Moment« und die Beziehung würde ohnehin irgendwann im Sand verlaufen. Wenn sie ehrlich sein sollte, hatte sie sogar irgendwie ganz fest damit gerechnet.

Zu Anfang hatten sie ständig Krach gehabt, doch obwohl sie sich heute schämte, es zuzugeben, hatte ein Teil von ihr das für cool und romantisch gehalten. Wenn sie in ihren Zwanzigern keine temperamentvolle Beziehung zu einem heißblütigen Latino haben konnte, wann denn dann? Sie hatte sich Eduardo und sich in einem dieser ausländischen Schwarz-Weiß-Filme vorgestellt, für die sie eines Tages gern ein Drehbuch schreiben würde, in dem nicht viel mehr passierte, als dass zwei sehr schöne Menschen sich in einem spartanischen Zimmer in der Provence, in Andalusien oder … na ja, auf jeden Fall irgendwo, wo’s heiß war, stritten. Das hatte sich nicht ganz auf eine Wohnung in Acton übertragen lassen, in der es permanent nach Eintopf roch. Aber dann war sie schwanger geworden, und wäre es nach ihr gegangen, hätte sie sich für einen Abbruch entschieden. Doch da war auf einmal Eduardos katholische Erziehung auf den Plan getreten. Was er ihr sagte, flößte ihr Schuldbewusstsein ein: Es ist ein Leben, Mia, sobald die Zellteilung beginnt. Damals war sie darauf hereingefallen und hatte wirklich gedacht, sie wollte dieses Baby, und es würde ihre Bindung vielleicht sogar festigen. Heute war ihr klar, dass Eduardo es darauf hatte ankommen lassen, aber das war sehr eindrucksvoll ins Auge gegangen.

»Wie auch immer …« Mia befahl sich, sich zu bremsen. Sie hatte sich geschworen, den heutigen Geburtstagsbesuch auf Livs Bank nicht zu einem Schimpf-Marathon über Eduardo werden zu lassen, doch dummerweise war sie schon wieder mittendrin.

»Es ist nun mal so, dass er, egal, was ich auch von ihm halte, Billys Dad ist, nicht? Und ich will, dass Billy eine Beziehung zu seinem Dad bekommt. Nur bin ich mir leider gar nicht sicher, dass auch sein Dad eine Beziehung zu ihm will, was das Traurigste von allem ist. Aber hey, wir werden ja sehen, nicht? Er hat mir versprochen, dass er heute um fünf Uhr da sein wird, um Billy über Nacht zu sich zu nehmen, weil alle zu deinem Geburtstag kommen.

Was mich zu allen anderen bringt, denn ich denke mal, du wirst ein Update wollen: Also, fangen wir an mit Anna. Du wirst dich freuen zu hören, dass alles noch genauso ist wie in den Zeiten in der Twelve Station Road, Liv, nur dass sie jetzt nördlich des Flusses wohnt und es anderen armen, unaufdringlichen Mitbewohnern antut. Sie hat immer noch eine etwas zweifelhafte Hygiene, läuft mit Zahnpasta auf ihren Pickeln herum, kratzt Plaque von ihren Zähnen, wenn sie glaubt, du schaust nicht hin, und isst Gurken direkt aus dem Glas. Und trotzdem brezelt sie sich nach wie vor auf, um wie Florence Welch auszusehen – was sagt man dazu?

Sie liest auch noch immer The Economist im Bett – als hätte uns das je beeindruckt –, und ich behaupte nach wie vor, dass sie keinen blassen Schimmer hat, worum es in der Zeitung geht. Aber wir lieben Anna Spanner, weil sie ein Schatz ist. Oh, und sie ist natürlich noch immer Single, wie du dir sicher vorstellen kannst.

Wen haben wir denn noch? Melody und Norm … Tja, in dem Bereich hat sich alles verändert seit Melodys totaler Verwandlung vom Indie-Mosher zur Spitzenanwältin (wie du dir denken kannst, war Norm viel beeindruckter von der Indie-Mosher-Version). Ansonsten schlagen sie sich gut, die beiden: Norm ist heute ›Event-Berichterstatter‹ beim Visitor. Ich weiß! Schnapp ihn! Natürlich bringt ihm das nur ein paar Kröten ein, und gelegentlich muss er auch sensationelle Titelstorys über den hundertsten Geburtstag irgendwelcher Leute schreiben, doch den Rest der Zeit kann er umsonst zu allen möglichen Auftritten gehen, und deshalb beklagt er sich auch nicht. Sie haben ein protziges, dreistöckiges Stadthaus in diesem Nobelviertel an der Uni. Offensichtlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis all diese Zimmer mit Mini-Normantons gefüllt sein werden. Fraser vermutet, dass sie Zwillinge bekommen werden: einen Jungen, der wie Melody aussieht, und ein Mädchen, das Norm aufs Haar gleicht.

Es hört sich vielleicht komisch an, Liv, aber es ist fast so, als hätte Melody, als sie das Reisen aufgab und aus Ibiza zurückkam, ihr Jurastudium begonnen und sich gesagt: ›So, und jetzt will ich erwachsen sein.‹ Denn buchstäblich von einem Tag auf den anderen verschwanden Glimmstängel und Drogen – obwohl du froh sein wirst zu hören, dass sie noch immer unmäßige Mengen Cidre trinkt. Wenn du heutzutage zu ihnen gehst, ist es, wie im Warteraum einer Schönheitsfarm zu sitzen.

Überall im Haus ist dieser Duft nach Räucherstäbchen – einen halben Kilometer entfernt kannst du schon Maiglöckchen riechen, und alles ist aus tristem, beigefarbenem Stein. Und ich meine nicht nur das Haus. Arctic Monkeys, Green Day und die Foo Fighters sind Geschichte, heute gibt’s nichts anderes mehr als Norah Jones. Selbst ich, die Musikbanausin, weiß, dass du nicht begeistert davon wärst.

Oh, und Melody gibt jetzt diese Partys für ›anspruchsvolle Köche‹, die so was Ähnliches wie Tupper-Partys sind, aber für Küchengeräte, und wo du fünfzig Pfund für eine Knoblauchpresse hinlegen musst. Norm ist immer noch der Alte, Gott sei Dank – er ist gewöhnlich in einem leichten Rauschzustand, um dies alles auszublenden, doch die ›Veränderung‹ hat auch schon bei ihm begonnen. Melody fing an, ihm Klamotten aus Läden wie Aquascutum und Gap zu kaufen (sie nennt ihn ›DEN Gap‹), und daher trägt unser Norm – noch ganz Neunziger, aber cool mit seinen Koteletten –, jetzt Chinos und eine Englischleder-Jacke. Voll daneben, in so mancher Hinsicht.

Ansonsten bekommt die Mutterschaft mir gut, auch wenn es so ist, als lebte man mit einem faschistischen Diktator, und manchmal kriege ich sogar einen Hauch von meinem eigenen Körpergeruch mit, denn ich kann dir sagen, dass es nicht gerade leicht ist, morgens zu duschen, wenn du ein Baby an dir dranhängen hast. Aber Billy bringt mich zum Lachen, Liv. Und er ist wirklich süß, auch wenn er wie sein Dad aussieht. Wenn ich dir Mutterschaft beschreiben müsste, würde ich sagen: Stell dir vor, wie es ist, jemanden in einer Sekunde aus dem Fenster werfen und ihn in der nächsten schier vor Liebe auffressen zu wollen. Und wie Mrs. Durham mir neulich sagte (Mrs. D. ist eine alte Dame, um die ich mich dienstags kümmere und die ganz schön ungepflegt ist, kann ich dir versichern. Erst neulich fand ich ein Stückchen Katzenkot in ihrer Unterhose!) … Na ja, jedenfalls sagte sie: ›Man wird nie …‹«

Hier brach Mia ab, weil es sie plötzlich traf, was Mrs. Durham zu ihr gesagt hatte: »Man wird nie wirklich erwachsen, wenn man nicht selbst ein Kind gehabt hat.«

Aber andererseits gab es natürlich auch Leute, die nicht einmal die Chance bekamen, erwachsen zu werden.

Billy schlief noch, als Mia die Bank verließ. Es war ein Uhr mittags – er hatte eine halbe Stunde geschlafen, und wenn sie ihr Glück zu nutzen wusste, blieb ihr wahrscheinlich noch eine weitere halbe Stunde. Mia hielt den Kinderwagen gut fest, als sie den steilen Hang vom Williamson’s Park hinunterging, weil der Wind so stark von hinten blies, dass er sie ins Laufen brachte. Es war eine ihrer größten Ängste, einmal versehentlich den Buggy loszulassen und hilflos mitansehen zu müssen, wie Billy in den Verkehr hinunterjagte. Allein der Gedanke daran machte sie ganz atemlos vor Panik.

Schließlich erreichte sie die Stadt, wo das Gehen leichter war. Die Osterferien hatten begonnen, und die Studenten waren heimgefahren. Mia mochte Lancaster am liebsten so – ohne Achtzehnjährige mit weit mehr Selbstvertrauen, als ihnen guttat. So konnte sie wieder so tun, als wäre es ihre Stadt – ihrer aller Stadt wie damals, als die sechs Freunde noch gestrotzt hatten vor Selbstvertrauen und es sich so angefühlt hatte, als gehörte ihnen auch tatsächlich alles.

Derselbe Tag
Kentish Town, London

»Psst, beweg dich nicht!«

Noch halb im Schlaf, hatte Fraser Morgan das undeutliche Gefühl, mit vorgehaltener Waffe in seinem eigenen Bett festgehalten zu werden. Irgendetwas presste sich jedenfalls an seinen Rücken. Und er hatte eine Erektion, was schon ein bisschen seltsam war. Denn wie konnte er eine Erektion haben, wenn sein Leben in Gefahr war?

»Ist das schön, Schatz? Hm?«

Erst als die Stimme wieder sprach und Fraser eine warme Flut von Atem ins Ohr blies, der so gottverdammt nach Alkohol stank, dass er schlagartig erwachte, traf ihn die Wahrheit wie ein Stein am Kopf. Oder war es am Rücken?

KAREN. Fraser riss die Augen auf.

Karen Palmer aus dem Bull war in seinem Bett. Sie war nackt und presste ihr Becken an ihn, während sie mit seinem Penis spielte, was eigentlich gar nicht unangenehm war …

Trotzdem lag Fraser reglos da, blinzelte ins Halbdunkel und starrte den Radiowecker auf seinem Nachttisch an: 10 Uhr 53, 6. März 2008.

Der sechste März.

Er schloss die Augen wieder.

Oh Gott! Wie hatte er das geschehen lassen können? Wann genau in der vergangenen Nacht hatte er das für eine gute Idee gehalten?

»Ich fragte, ob das schön ist?« Karen schnurrte förmlich, als sie jetzt seinen Nacken küsste – und seine Haut mit purem Alkoholdunst überzog. Fraser versuchte, etwas zu sagen, doch es kam ein paar Oktaven höher als gewollt heraus, sodass er wie ein pubertierender Junge kurz vor dem Stimmbruch klang. Verlegen räusperte er sich und versuchte es erneut.

»Ja, das ist … ähm … schön.«

Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt! Panik erfasste ihn. Wie zum Teufel sollte er sich aus dieser Situation herauswinden? Und wie war er überhaupt hineingeraten?

»Gut, gut, das höre ich gern. Und lauf mir nur ja nicht weg, Süßer! Ich muss nur kurz aufs Klo, aber ich bin gleich wieder zurück und mache weiter.«

Karen beugte sich über ihn, küsste ihn auf die Wange und stand auf.

Fraser wandte den Kopf, sehr langsam nur, und trotzdem tat es höllisch weh. Doch abgesehen davon geschah es gerade rechtzeitig, um ein – das konnte man nicht anders sagen – ziemlich umfangreiches Hinterteil durch die Badezimmertür verschwinden zu sehen.

Zum Teufel noch mal! Fraser drehte sich auf den Rücken, zog sich das Federbett über den Kopf und stieß den Atem aus, den er – so kam es ihm zumindest vor – seit dem Erwachen angehalten hatte. Gott, wie elend er sich fühlte! Sein Herz hämmerte, und sein Kopf dröhnte, als er versuchte, die Ereignisse der letzten Nacht zu rekonstruieren. Seine Erinnerungen waren sehr verschwommen, aber Bier, Wein und Tequila kamen darin vor, sogar ein Yoga-Kopfstand, den Karen ihm gezeigt und den er probiert hatte, bevor er den Couchtisch zerbrochen hatte und dabei um ein Haar auch sein Genick. Deshalb tat ihm der Nacken so weh.

Fraser erinnerte sich undeutlich, dass er danach für einen kurzen Moment zur Besinnung gekommen war – vermutlich durch den Blutandrang in seinem Hirn – und ihr gesagt hatte: »Komm schon, du wirst doch nicht mit einem wildfremden, betrunkenen Mann ins Bett gehen wollen …« Aber da zog sie schon ihre Bluse aus (die, wie er etwas beunruhigt bemerkte, definitiv das war, was man eine Bluse nennen würde). Aber sie hatte sich in ihrem weißen BH, von dem Fraser noch gedacht hatte, dass sein Kopf hineinpassen würde, aufs Bett gesetzt und geantwortet: »Oh, ich denke schon, dass ich das will.«

Also hatte er zumindest einen Versuch unternommen, es zu vermeiden. Trotzdem blieb die Tatsache, dass er mit Karen geschlafen hatte. Dass er mit der Frau, die an der Bar im Bull arbeitete, im Bett gewesen war – aber war das wirklich so schlimm? Sie war kein Albtraum, sondern eigentlich sogar ein richtig nettes Mädchen. Gott wusste, wie oft sie ihn in den letzten achtzehn Monaten vom Fußboden des Pubs aufgelesen und in ein Taxi gesetzt hatte, lange nach der Polizeistunde und einer weiteren Nacht, in der er seinen Kummer in Alkohol ertränkt und jedem, den er dort hatte finden können, die Ohren vollgeblasen hatte – in erster Linie natürlich ihr.

Andererseits jedoch war sie schon zweiundvierzig. Himmelherrgott, Fraser, zweiundvierzig! Das war praktisch mittleres Alter. Alt genug, um seine Mutter zu sein … oder mit ziemlicher Sicherheit doch in einigen Vierteln ihrer Heimatstadt Hull. So alt wie … Fiona Bruce.

Er erschrak, als er sich an ein Gespräch erinnerte – oder an den Teil, wo Karen ihn gefragt hatte, wie alt er sie schätzte, und er erwidert hatte (in dem Glauben, ihr zu schmeicheln, weil das gewesen war, bevor das Bier ihm die Sicht vernebelt und er nicht mal daran gedacht hatte, mit einer Frau in den Vierzigern etwas anzufangen): »Keine Ahnung? Zweiundvierzig? Dreiundvierzig?« Und sie hatte ihn angeblinzelt und gesagt: »Zweiundvierzig«, worauf ein unangenehmes Schweigen gefolgt war, bevor er schnell das Thema gewechselt und von … DELFINEN angefangen hatte! Oh Gott, wie konnte er die Delfine vergessen haben? Karen aus dem Bull hatte irre lange Fingernägel mit darauf aufgemalten Delfinen. War das etwas Normales bei Frauen, und er hatte so etwas nur noch nie gesehen?

Wieder zuckte er innerlich zusammen, als er sich an andere Teile des Gesprächs erinnerte: Karen hatte gesagt, sie habe in einem Tierasyl in Florida einen Delfin adoptiert, der für sie das Baby sei, das sie nie gehabt hatte. Und daraufhin hatte er ihr, um interessiert und engagiert zu erscheinen, erzählt, er sei in Sansibar mit Delfinen geschwommen. Was natürlich eine Lüge war. Eine sinnlose und glatte Lüge. Bisher war er nicht einmal in Sansibar gewesen. Warum zum Teufel hatte er das gesagt?

Oh Gott, da war sie wieder und kam auf das Bett zu, nackt bis auf einen schwarzen Spitzenslip, der größtenteils zwischen ihren Pobacken verschwunden war, und mit den Händen unter ihren mächtigen, Himmel, nein, gigantischen Brüsten! Fraser setzte sich auf, zog das Federbett bis unters Kinn und brachte sich in die unerotischste und abweisendste Pose, zu der er fähig war. Aber sie stieg trotzdem zu ihm ins Bett, und darum rutschte er schnell zur Wand hinüber.

»So«, sagte er munter. »Kaffee?«

Fabelhaft. Es gab kein besseres Gefühl, beschloss Mia zehn Minuten später, als sich mit einem kleinen Bier und einem noch immer schlafenden Baby hinzusetzen – auch wenn es fünf Grad unter null war und ein starker Wind wehte. Nur so überstand sie neuerdings die Woche, indem sie hier und da ein bisschen Zeit für sich fand und sie hütete wie Gold. Zumindest das hatte man als alleinerziehende Mutter – man lernte die Zeit zu schätzen, die man für sich selbst erübrigen konnte. Was hatte sie nur vor Billys Geburt mit all der Zeit angefangen? Wahrscheinlich hatte sie sie mit Arbeiten und Trinken verbracht. Und nicht zu vergessen mit Gesichtsmasken.

Manchmal träumte Mia von ihrem alten Leben, bevor sie bei Eduardo in Acton eingezogen war – was keine ihrer besten Ideen gewesen war –, und Liv bei Fraser, um die Lehrerinnenstelle in Camden anzutreten; als sie, Liv und Anna sich noch eine Wohnung in Clapham geteilt hatten und sie, Mia, den lieben langen Tag als Assistentin im Art Department bei Primal Films gearbeitet hatte.

Manchmal erwachte sie, wenn es noch dunkel war, und dachte, sie wäre wieder in ihrem alten Schlafzimmer auf dem Ikea-Futon und hätte nur noch zehn Minuten, um schnell etwas anzuziehen, bevor sie ins Auto sprang und durch die stille Stadt zu einem weiteren Dreizehn-Stunden-Tag zu den Shepperton Studios fuhr. Sie hatte diese Zeit geliebt. Sogar die damit verbundene Erschöpfung hatte sie geliebt, weil es eine kribbelige Art Erschöpfung war und völlig anders als die bleierne Müdigkeit, die mit der Mutterschaft einherging.

Noch halb im Schlaf, stellte sie sich dann vor, dass der Lärm von Liv und Anna kam, die unten in ihrer düsteren viktorianischen Küche mit dem langen Tisch herumhantierten, an dem sie alle sechs so viele Stunden zusammengesessen und getrunken hatten. Aber dann kam sie zu sich und merkte, dass es Billy war, der weinte, und dass sie beide allein waren in ihrem schachtelartigen Neubau-Apartment in Lancaster mit seiner Raufasertapete und dem allgegenwärtigen Laminatboden.

Dennoch war es besser geworden in letzter Zeit. Ja, die Dinge hatten sich auf jeden Fall verbessert. Gelegentlich fragte sie sich jedoch noch immer, ob ihr Sohn sie nicht besonders hoch einschätzte oder nicht sonderlich beeindruckt war von dem ganzen Zustand, mit ihnen beiden so ganz allein in einem winzigen Apartment und einem Dad, der nur dann auf der Bildfläche erschien, wenn ihm danach zumute war.

Mia wusste eigentlich immer noch nicht, wie sie mit Billy reden sollte, und merkte oft, dass ihr die Worte fehlten, wenn sie mit dem Kind allein war. Sie staunte über Mütter, die ganz unbefangen in der Öffentlichkeit mit ihren Babys gurren und turteln konnten, wohingegen sie sich oft bloß wie ein Depp vorkam. Dann pflegte Billy diesen Ausdruck des »vernachlässigten kleinen Jungen« aufzusetzen, als wollte er sagen: »Ist das wirklich alles, was du kannst?« Mia fragte sich in solchen Momenten jedes Mal, ob sie überhaupt für die Mutterschaft geschaffen war.

Aber zumindest war die Panik nicht mehr da. Sie sorgte sich nicht mehr jede Nacht darum, dass er sterben könnte, was immerhin schon etwas war. Nachdem Melody und Norm jetzt wieder in den Norden nach Lancaster gezogen waren, boten sie ihr manchmal Hilfe an. Das war wirklich reizend, auch wenn Melody sie verrückt machte mit ihren Bemerkungen, Mutterschaft sei irgendwie »romantisch« und Mia wie J. K. Rowling und schreibe ein preisverdächtiges Filmskript in einem eisig kalten Apartment, das zu heizen sie sich nicht leisten konnte. In Wirklichkeit schrieb Mia jedoch überhaupt nichts, sondern las nur das OK!-Magazin, trank zu viel Wein in einem Apartment, das zu heizen sie sich nicht erlauben konnte, und fühlte sich schrecklich schuldig, weil ihr Gehirn wahrscheinlich mittlerweile schon halb abgestorben war.

Mia zog sich die Kapuze über den Kopf, trank einen Schluck Bier und nahm ihr Handy aus der Tasche, weil sie Fraser eine SMS schicken wollte, um zu fragen, ob er noch bereit sei für heute Abend, und herauszufinden, wie er den Tag bisher überstanden hatte. Als sie auf ihr Display schaute, war dort eine Nachricht von Anna:

War gestern Abend bei einer Party in Kidderminster und komme VIELLEICHT ein bisschen später, aber ich WERDE da sein. Versprochen. Fangt ohne mich an! Spanner X

Mia verdrehte die Augen, weil sie wusste, dass »VIELLEICHT« sich mit »Bin noch immer in Kidderminster und werde zwei Stunden später kommen« übersetzen ließ. Seufzend schrieb sie ihre Nachricht an Fraser und fragte sich, ob ihr wohl Zeit für ein weiteres Zigarettchen blieb.

Dann klingelte ihr Telefon. Es war Eduardo, und sofort sank ihr das Herz. Tu mir das nicht an!, dachte sie. Bitte, bitte, tu mir das nicht an! Nicht heute Abend! Und zu allem Übel hatte sein Anruf auch noch Billy aufgeweckt.

»Hi, Eduardo«, meldete sie sich.

»Ich bin’s.«

»Das habe ich schon mitbekommen.«

Sie ermahnte sich, einen neutralen Tonfall zu bewahren, doch das war schwer – sehr, sehr schwer.

»Was ist los?«, fragte er.

Oh, hau ab, Mann!, war sie versucht zu antworten. Warum musste er immer diesen anklagenden Ton anschlagen?

»Nichts ist los.«

»Warum weint Billy dann?«

Weil ich ihn gerade erwürge, Herrgott noch mal! Er ist ein Baby, und Babys weinen nun mal. Das würdest du wissen, wenn du mal ein bisschen Zeit mit deinem Sohn verbringen würdest.

»Wo bist du?«, fragte Eduardo scharf, bevor sie Zeit hatte zu antworten.

»Im Pub.«

Er schnaubte.

»Im Pub?«

Ja. Wir trinken ein Bierchen – eigentlich sogar drei und als Absacker vielleicht noch einen Tequila. Aber Mia war klug genug, das nicht laut zu sagen. Sie durfte Eduardo nicht verärgern. Sie brauchte ihn, und das war das Ärgerlichste überhaupt.

Eduardo seufzte auf diese leidgeprüfte Weise, die so typisch für ihn war. Allein schon dieses Seufzen verriet ihr, was als Nächstes kommen würde.

»Na ja, wie auch immer, hör mal, Mimi …«

Mimi? Hör verdammt noch mal auf, mich so zu nennen!

»… gerade von der Arbeit angerufen und …«

»Nein!« Mia fühlte die Wut wie Galle in ihrer Kehle aufsteigen. »Komm schon, Eduardo, das tust du mir nicht an!«

Billy heulte inzwischen laut und anhaltend und rieb sich die Augen, während Mia den Kinderwagen hin und her schob, um den Kleinen zu beruhigen.

»Du weißt, wie wichtig dieser Abend für mich ist und was für ein Tag heute ist. Du weißt es schon seit Ewigkeiten!«

Schweigen.

»Mia, dir ist doch wohl klar, dass ich keine Wahl habe, oder nicht?«

Oh Gott, wie sie es hasste, dieses ewige »oder nicht?«, das er ans Ende eines jeden Satzes setzte, sehr subtil und dennoch wirkungsvoll genug, um immer wieder Selbstzweifel in ihr zu wecken. »Ich brauche das Geld. Ich bin mit der Miete im Rückstand, verzweifle hier beinahe und kann mir nicht den Luxus leisten …«

Luxus? Ha! Erzähl du mir nichts von Luxus, du verlogener, manipulativer Mistkerl!, dachte Mia, stand aber da im heulenden Wind, Billys Geschrei in den Ohren, und wusste, dass es sinnlos war zu widersprechen.

»Was auch immer, Eduardo«, sagte sie. »Ich hab keinen Bock mehr auf deinen Mist. Geh! Geh arbeiten!«

Dann legte sie auf, und Tränen der Wut und der Enttäuschung liefen ihr übers Gesicht. Was sie jetzt wirklich gern getan hätte, war, ihre beste Freundin anzurufen, nur war das ja leider nicht mehr möglich.

Wo waren die Zigaretten? Fraser stand im Bademantel in seiner eisig kalten Küche und durchwühlte die Schubladen. Er hätte schwören können, dass er hier drinnen ein paar versteckt hatte. Der Kühlschrank, dachte er. Vielleicht hatte er sie obendrauf gelegt. Ganz hinten, damit er nicht in Versuchung kam, sie aber trotzdem da sein würden für eine echte Notfallsituation wie diese. Für Momente wahrer Not.

Er tastete die Kühlschrankoberfläche ab, konnte dort jedoch nichts fühlen. Vielleicht waren sie hinten heruntergefallen? Entschlossen stemmte er die Füße auf den Boden und schlang die Arme um den Kühlschrank, um ihn wegzurücken, wobei er die Kälte des Geräts an seiner heißen, vom Alkohol verpesteten Haut genoss und dachte, dass es vielleicht ganz nett wäre, ein paar Minuten hierzubleiben, nur er und der Kühlschrank in ihrer ebenfalls sehr kühlen Umarmung. Er zog und zerrte an dem Apparat, war aber zu schwach, zu unausgeschlafen und viel zu verkatert, um ihn zu bewegen. Als er ihn schließlich wieder losließ, sprang die Tür auf, und eine Gurke flog heraus und traf ihn an der Brust wie ein Geschoss.

Fraser gab es auf und lehnte sich schwer atmend und mit dröhnendem Kopf an die Arbeitsfläche der Küche, um zu überlegen, was er sonst noch tun könnte. Schnell zu dem Laden an der Ecke flitzen und Zigaretten kaufen? Und dann ein paar Runden laufen und einfach nicht zurückkommen? Ah, aber das funktionierte eigentlich nur, wenn man bei jemand anderem zu Hause war, oder?

Vergiss es! Vergiss es, du Idiot!

Er hielt sich eine ordentliche Standpauke, streng, doch nicht unfreundlich. Und er wusste auch, an wen ihn das erinnerte.

Fraser presste sich die Handballen ans Gesicht, schob die Haut nach oben und betrachtete sich in der fettigen Mikrowellentür, als könnte er, wenn er es nur lange genug tat, seiner eigenen Haut entkommen. Er dachte an den Abend, bis zu dem er noch ungefähr acht Stunden hatte, bevor er in den Pub gehen und seinen Freunden gegenübertreten musste. Gott, er hätte sonst was durch die Gegend schmeißen können!

Was Fraser jedoch wirklich störte, war, wie wohl sich Karen in seinem Bett zu fühlen schien. Wie zufrieden sie aussah. Ohne das kleinste Anzeichen von Zittern oder eines Katers nach der Trinkerei von gestern Nacht.

Wäre sie nur irgendeine Bardame gewesen, die gern flirtete und jemanden für eine heiße Nacht gesucht hatte, wäre das in Ordnung gewesen. Nicht nur in Ordnung, sondern bestens; zumindest hätte Fraser sich weniger schuldig gefühlt. Aber sie mochte ihn, und das schon sehr, sehr lange, hatte sie ihm letzte Nacht gestanden. Was einfach großartig war, besser hätte es gar nicht kommen können, ha!

Fraser dachte über seine Möglichkeiten nach:

Nett sein, mit ihr frühstücken gehen und nach ihrer Telefonnummer fragen, um sie dann niemals anzurufen. Natürlich bedeutete das, dass er im Bull nie wieder trinken könnte; zumindest würde er sich, wenn er es doch tat, verkleiden müssen. Er versuchte, sich kurz vorzustellen, wie sich das auf seinen Kopf auswirken würde, und kam zu dem Schluss, dass es unmöglich war.

Ihr sagen, er ginge aus (was er ja auch vorhatte, nur eben nicht in den nächsten vier Stunden, doch das brauchte Karen ja nicht zu wissen), oder warten, bis sie außer Sicht war, und dann wieder ins Bett gehen. Der Gedanke an sein Bett, jetzt gleich und ganz allein für sich, war ungemein verlockend. Wirklich sehr verlockend.

Ihr die Wahrheit sagen: dass es ihm leidtat und sie zwar ein reizendes Mädchen war, er aber sturzbetrunken gewesen war und es niemals dazu hätte kommen dürfen, weil er immer noch um seine Freundin trauerte. Und ob sie nicht nur Freunde sein könnten?

Streich das! Du willst nicht mit ihr befreundet sein.

Na ja, im Moment klangen alle drei Optionen scheußlich. Besonders letztere. Er war sicher, dass die für Tränen sorgen würde, und das Letzte, womit er heute klarkäme – gerade heute –, waren die Tränen einer Bardame, die er kaum kannte.

Norm. Das war der Mann, den er brauchte: der nüchterne, unvoreingenommene, stets entspannte Norm. Der Norm, den er seit seinem neunten Lebensjahr kannte.

Fraser nahm sein Handy, setzte sich im Bademantel auf den Küchenboden und schrieb Norm eine SMS:

Jetzt rate mal, wer heute mit Karen aus dem Bull im Bett erwacht ist? Was bin ich für ein Idiot! Mir zerspringt der Kopf. Brauche ein bisschen Norm-Weisheit.

Sofort kam eine Antwort:

Du bist ein Idiot.

Fraser stöhnte und lachte zugleich – er wusste, dass Norm es nicht wirklich ernst meinte und diese Ebene echter Schroffheit unter seinem Niveau war.

Deshalb schrieb er rasch zurück:

Ich weiß, das ist nicht normal. Und dann noch ausgerechnet heute! Was ist los mit mir?

Er hielt das Telefon in der Hand und wartete auf eine Antwort, als ihm etwas ins Auge fiel: das Foto von Liv, das mit einem Magneten in Form einer Bierflasche an der Kühlschranktür befestigt war. Er griff danach und hielt es ins Licht. Es war sein Lieblingsfoto von ihr. Es war auf einer Kostümparty zu Annas dreiundzwanzigstem Geburtstag aufgenommen worden, auf der alle irgendwie die Londoner U-Bahn-Stationen hatten darstellen sollen und Liv als Maida Vale gegangen war.

»Ich habe mir einfach nur einen Schleier genäht …!«, hatte sie mit stinkvornehmem Akzent wie eine steife Fernsehmoderatorin aus den Siebzigern gesagt, als sie vor seiner Tür erschienen war. Selbst jetzt noch musste Fraser bei der Erinnerung daran lachen.

Er starrte das Foto an. Liv trug ihren selbst genähten Schleier und ein Dienstmädchenkostüm, das ihre hübschen Schenkel zeigte – sie hatte fantastische Beine gehabt –, und das am Hals tief ausgeschnitten war (auch ihr Dekolleté war fabelhaft gewesen). Einen Cocktail mit Schirmchen in der Hand, stand sie in einer frechen Ansichtskartenpose da, mit einem übertriebenen Augenzwinkern und halb geöffnetem Mund, der ihre schönen Zähne offenbarte. Liv hatte die besten Zähne gehabt, die man sich nur vorstellen konnte: groß, natürlich weiß und mit einer winzigen Lücke in der Mitte. Das war Frasers liebster Teil von ihr gewesen – diese kleine, sexy Zahnlücke. Er strich die schon etwas umgeknickten Ecken des Fotos glatt, küsste es und befestigte es wieder an seinem Platz.

Dann kam eine Textnachricht von Norm:

Entspann dich, Junge! Nichts ist heute normal, für keinen von uns. Wir sehen uns um 8 im Merchants, du Esel. Umarmungen und Küsse, Norm x

Fraser grinste und schüttelte den Kopf. Umarmungen und Küsse? Norm war so ein Dussel. Dann stand er so schnell auf, dass ihm das Blut in den Kopf schoss und er ihn für einen Moment zwischen die Knie legen musste, um nicht ohnmächtig zu werden. Erst nach einer Weile ging er die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf und schickte sich an, die Suppe auszulöffeln, die er sich mit Karen eingebrockt hatte.