KAPITEL DREI

Lancaster

Mia fütterte Billy mit einem Brei aus pürierter Banane und Mango, den der Kleine größtenteils jedoch wieder ausspuckte, weil Billy zu sehr damit beschäftigt war, Peppa Pig zu sehen, um sich auf das Schlucken zu konzentrieren. Sie blickte zu ihrem Freund auf dem Sofa hinüber, von dem nur ein zerzaustes braunes Haarbüschel aus ihrem orangefarbenen Schlafsack hervorschaute, und ein Anflug von Wehmut erfasste sie. Wann hatte sie zum letzten Mal jemanden auf ihrem Sofa übernachten lassen? (Außer Eduardo nach einem Streit?) Oder bis spät in die Nacht hinein mit jemandem geredet, der in einem Schlafsack lag? Gott, das musste Jahre her sein! Als sie noch auf der Uni war wahrscheinlich. Damals hatten sie immer bis spät in die Nacht in ihren Schlafsäcken geplaudert.

Und mit wem redete sie heute? Mit dem NatWest-Schuldenmanagement (obwohl das genau genommen mehr Schreien war), mit Virgin Media und Ashley vom Sozialamt. Wahrscheinlich wusste Ashley vom Sozialamt sogar mehr über ihr Leben als ihre Freunde. Auf jeden Fall mehr als Mias Mutter. Nein, wenn sie es genau bedachte, redete sie derzeit eigentlich mit niemandem. Oder jedenfalls nicht richtig, sondern höchstens nur mal so zum Spaß. Heutzutage musste Reden immer einen Sinn und Zweck haben.

Ihr kam plötzlich eine Erinnerung – das geschah jetzt immer öfter, als legte sich die bleierne Starre vom Beginn der Mutterschaft, und Klarheit kehrte nach und nach zurück und mit ihr Erinnerungen und Gefühle, von denen sie einige unterdrückt hatte, und das nicht ohne Grund. Das V. Festival in Leeds 2000 – oder war es 2001 gewesen? Mia war nicht sicher, doch sie wusste, dass Coldplay Schlagzeilen gemacht hatte und dass Melody die Band als total öde abgetan hatte. Heute konnte Melody von Coldplay nicht genug bekommen.

Mia schloss die Augen und erinnerte sich: Es war warm und wurde gerade hell – halb fünf Uhr morgens etwa –, und sie, Liv und Fraser waren als Einzige wach geblieben, hatten in ihren Schlafsäcken vor ihrem Zelt gesessen, leise geredet und Bier getrunken, während aus dem Zelt nebenan Norms rhythmisches Schnarchen kam.

»Lass uns etwas spielen!«, sagte Liv urplötzlich. »Ich kenne ein fabelhaftes Spiel.«

Mia und Fraser stöhnten: Liv kam immer wieder mit neuen, seltsamen Spielen und wunderlichen Ideen an. Einmal hatte sie versucht, Strip-Poker mit dem Kinderspiel »Mensch, ärgere dich nicht« zu kombinieren, und auf dem Brett kleine Männchen in Unterwäsche hin und her geschoben. Liv und Fraser liebten es, sich auszuziehen, wenn sie betrunken waren – es war eine der vielen Eigenschaften, die sie so perfekt füreinander machten. Während Mia … um Gottes willen, nein! Sie würde sich eher einen Arm abhacken, als sich ihren Freunden nackt zu zeigen. Und das war schon so gewesen, bevor sie ein Baby gehabt hatte.

»Das Spiel nennt sich ›Ich hab noch nie …‹«, fuhr Liv fort. »Und es ist ein bisschen so wie das Wahrheitsspiel. Der Spieler, der an der Reihe ist, muss im Grunde nur etwas verraten, was er noch nie getan hat. Ich könnte zum Beispiel … na ja, Analsex sagen.«

Fraser lachte, was in der stillen Morgendämmerung besonders laut klang. »Musst du immer so derb sein, Olivia?«

»Falls du getan hast, was immer der Spieler sagt, der gerade an der Reihe ist – in diesem Fall also, falls du Analsex hattest«, fuhr sie fort, ohne Fraser zu beachten, »musst du deinen Drink hinunterkippen, und dann bist du dran, und so weiter und so weiter.«

Sie gingen das übliche Repertoire durch: »ich liebe dich« sagen, wenn man es nicht meint (das hatten alle schon getan); einen flotten Dreier – niemand hatte je einen gehabt, was irgendwie eine schwache Leistung war. Mia war enttäuscht, dass mit einundzwanzig noch keiner von ihnen dreien diesen etwas speziellen Ritus hinter sich gebracht hatte, aber dann tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass die gute alte Anna mit Sicherheit schon mal diese Erfahrung gemacht hatte, wenn nicht sogar in ebendieser Nacht in ihrem Zelt.

Dann war Mia an der Reihe: »Ich hab noch nie einen Promi geküsst«, worauf Fraser sein Glas auf ex leerte, weil Floella Benjamin, eine Freundin der Familie – was alle an und für sich schon ziemlich lachhaft fanden –, ihm einmal, als er acht war, auf einem Jahrmarkt einen Kuss auf die Wange gedrückt hatte. Natürlich waren alle drei sich einig, dass das nicht wirklich zählte.

Es war schon hell geworden; ein rosiger Dunst hing über dem Feld und beleuchtete ihre Gesichter. Norms Schnarchen aus dem Zelt nahm an Lautstärke zu, als Liv sagte: »Ich hab noch nie … ein anderes Mitglied unserer Clique geküsst als Fraser.«

»Was, nicht einmal Anna?«, entfuhr es Mia nahezu automatisch. »Alle haben Spanner schon geküsst.« Was die reine Wahrheit war. Sogar Mia hatte in ihrem ersten Jahr in Lancaster Annas Kuss erwidert, auf dem Höhepunkt ihres sehr flüchtigen Experiments als Lippenstift-Lesbe. Darauf war sie ziemlich stolz, wenn sie ehrlich sein sollte.

»Nein, natürlich habe ich Anna nicht geküsst!«, sagte Liv empört und, wie Mia argwöhnte, auch ein ganz klein wenig eifersüchtig. »Und wann zum Teufel hast du Anna geküsst?« Mia wollte gerade antworten, als plötzlich schlagartig alles zurückkam und ihr etwas dämmerte. Sie sah Fraser an, dessen Gesicht von der Dose Lager verdeckt war, aus der er gerade trank.

Liv folgte Mias Blick.

»Ach du meine Güte – du hast Anna geküsst?«, fragte sie lächelnd, doch es war ein merkwürdiges Lächeln – halb fasziniert, halb … Was verriet ihr Blick? Bestürzung? Mia mochte nicht allzu viel darüber nachdenken.

Fraser hatte überall Bier verschüttet. »Was? Nein. Ich habe Anna nicht geküsst. Und auch niemand anderen von uns. Tut mir leid, aber ich habe nur mein Bier getrunken. Ist das erlaubt? Ich hab nur die Regeln vorübergehend vergessen.«

Dann machten sie weiter, und die Frage verlor sich in Trunkenheit und frühmorgendlicher Konfusion, doch nun dachte Mia darüber nach, während sie Billy mit dem Obstbrei fütterte. Die Erinnerungen kamen zurück. Viele Dinge kamen nun zurück.

Fraser rührte sich und gab ein Geräusch von sich, das wie ein Grunzen klang – ein Versuch zu sprechen wahrscheinlich, und Mia musste lachen, weil Billy wie auf ein Stichwort hin das Gleiche tat.

»Morgen, Fraser Morgan.« Sie war schon seit fünf Uhr fünfzig auf den Beinen, mit einem quengelnden Baby, aber Quengeln war ja auch mehr oder weniger Billys übliche Verhaltensweise. Mittlerweile war es neun Uhr morgens, und Mia fühlte sich, als hätte sie schon einen ganzen Tag durchlebt.

»Was?« Fraser streckte den Kopf aus dem Schlafsack, verzog das Gesicht und blickte mit zusammengekniffenen Augen und einem Ausdruck vollkommener Verwirrung in das Licht, das durch das Velux-Fenster hereinfiel.

»Wie fühlst du dich?« Mia wich Billys pummeligen kleinen Händchen aus, die Reste des Obstpürees auf dem Tisch an seinem Kinderstuhl verschmierten. »Weil du nämlich furchtbar aussiehst, wenn ich die Wahrheit sagen soll.«

»Ich habe nicht um die Wahrheit gebeten, aber trotzdem vielen Dank. Mir ist so elend, als wäre ich schon tot«, krächzte Fraser und stützte sich auf die Ellbogen auf. Eine kleine Pause entstand, bevor beide registrierten, was er gesagt hatte, und verlegen lachten.

»Nun, ich kann dir versichern, dass du zumindest geschlafen hast wie ein Toter.« Mia drehte sich um und begann, Billy wieder zu füttern. »Du hast eine ganze CD-Staffel von In the Night Garden durchschlafen, einen telefonischen Streit mit Eduardo und einen Ausraster von Billy, der dir einen Zwieback an den Kopf geworfen hat. Aber nicht mal davon bist du aufgewacht.«

Fraser lachte ein wenig und hustete – er hatte gestern Nacht geraucht und konnte es in seiner Lunge spüren –, zog den Schlafsack bis zum Kinn hoch und starrte ausdruckslos auf die kahlen Bäume, die dunkel, starr und wie eingefroren in der Zeit in der glitzernden weißen Winterlandschaft draußen standen.

Und ich fühle mich wirklich elend, dachte Fraser, sterbenselend. Er erinnerte sich, dass es im Jahr zuvor an den Tagen nach Livs Geburtstag und dem Jahrestag ihres Todes nicht anders gewesen war.

Die Jahrestage an sich waren nicht so schlimm; natürlich waren sie auch nicht gut, aber an den meisten von ihnen war er betrunken. Außerdem waren sie Anlässe, und wie alle Anlässe brachten sie eine Bedeutsamkeit und einen gewissen Grad an Besonderheit mit sich. Leute riefen an und machten viel Aufhebens um ihn, besonders Mia. An Livs erstem Todestag hatte sie praktisch jede Stunde angerufen, um sicherzugehen, dass er aufgestanden und angezogen war. Tatsächlich war er gegen Mittag schon im Bull bei seinem zweiten Bier gewesen, wo Karen sich geduldig sein Gefasel angehört hatte. Auch seine Eltern, Carol und Mike, hatten angerufen. Wahrscheinlich war dies das einzig Gute, das bei Livs Tod herausgekommen war: dass er seinen Eltern nähergekommen war. Bevor er Liv verloren hatte, hatte ihre Beziehung im Teenager-Modus festgesteckt, was bedeutete, dass Fraser ihnen nur das Allernotwendigste erzählte und sie auch nicht viel fragten, außer, wann er sich einen anständigen Job suchen würde wie sein Bruder. (Shaun Morgan leitete Top Financial Solutions. Wieso er nie mit einer »Spitzenlösung« für die finanziellen Probleme seines kleinen Bruders dahergekommen war, würde Fraser wahrscheinlich nie erfahren.)

Fraser war ein pflichtbewusster Sohn, das heißt, er tat das absolute Minimum, indem er seine Eltern alle paar Monate in ihrem makellosen, einstigen Sozialwohnungsbau-Haus in Bury besuchte, wo er dann herumsaß und die Zeitung las, während Liv mit Mike über seinen Job in der Welt der Wasserhähne und mit Carol über ihre Gallensteine sprach. Aber Fraser und seine Familie standen sich nicht nahe. Sie kannten sich nicht einmal richtig. Wenn Carol Morgan ehrlich wäre, müsste sie sogar zugeben, dass sie ihren jüngsten Sohn an dem Tag verloren hatte, als er zu studieren begonnen hatte und seine Clique und seine Freundin zu seiner Familie geworden waren.

Doch das war gewesen, bevor Trauer und Kummer Fraser schier zerrissen hatten, wie ein Güterzug durch ihn hindurchgerast waren und ihn wütend, selbstzerstörerisch und selbstmitleidig gemacht hatten. Das war das Schlimmste gewesen. Nachdem seine Mutter ihn aus dem Krankenhaus hatte abholen müssen, wo er mit einem gebrochenen Knöchel gelegen hatte, nachdem er in einem Club in Manchester betrunken von der Feuertreppe heruntergefallen war, hatte Fraser gewusst, dass das Spiel vorbei war. Da war kein Platz mehr für sein jugendliches Ich, das geprägt war von unangebrachtem Stolz, Beschämung und Verlegenheit. Er brauchte seine Mutter wieder wie damals, als er ein blonder Fünfjähriger mit Korkenzieherlocken gewesen war, und in jener Nacht schmiegte er sich in ihre Arme und weinte sich aus.

Auf eine seltsame Art und Weise waren die eigentlichen Jahrestage also machbar. Zumindest war die Clique an diesen Tagen immer da. Aber dafür war der Tag danach noch schlimmer, denn was nun? Wohin? Das Leben ging weiter, doch das Telefon hörte auf zu klingeln, und wenn die Besonderheit verflogen war, was hatte er dann noch außer sich selbst? Und er war ein Desaster. Er konnte nirgends Ruhe finden, sich für nichts entscheiden. Seine Wohnung erschreckte ihn zu Tode; sie war ein Ort, an dem er nur herumgeisterte, die meiste Zeit in mehr oder weniger alkoholisiertem Zustand, und von einem Zimmer ins andere wanderte. Unzählige Male hatte er sich vorgenommen, jetzt, da er allein war, die Zeit zu nutzen, um Kochen zu lernen, weil Liv eine großartige Köchin gewesen war. Aber irgendwann hatte er es satt, Zitronengras zu kaufen, nur um auf dem Rückweg im Bull vorbeizuschauen und es dort liegen zu lassen. Das Bull in Kentish Town musste den größten Vorrat an Zitronengras in ganz Nordlondon haben.

Er konnte sich nicht mehr auf Filme konzentrieren und nicht mehr fernsehen – obwohl er mit Liv früher so gern ferngesehen hatte. Da sie alberne Komödien am liebsten mochten, kuschelten sie sich sonntagsmorgens auf dem Sofa aneinander, um Filme wie Meine Frau, ihre Schwiegereltern und ich zu sehen. Heutzutage war er völlig außerstande, längere Zeit vor einem Bildschirm zu verbringen, und manchmal, obwohl er das niemandem gegenüber zugab, ging er schon um acht zu Bett, weil er einfach nicht noch mehr vom Tag ertragen konnte.

Und dann war da der Job oder vielmehr der traurige Ersatz dafür, da das Leben als freiberuflicher Tontechniker (ein flauschiges Mikro halten, während irgendein Typ vor der Kamera über lokale Geschichte sprach oder einen parteipolitischen Vortrag hielt) nicht allzu viel Geschick erforderte und auch etwas völlig anderes war, als für Bands als Tontechniker zu arbeiten, nicht wahr? Machen wir uns doch nichts vor!, sagte er sich immer häufiger. Dieser Traum, zusammen mit jenem, selbst ein Rockstar zu werden, hatte sich im Laufe seiner Teenagerjahre in seine Zwanziger verlagert und war von einer todsicheren Sache zu etwas noch immer Machbarem geworden, wenn er wirklich Gas gab. Doch heute, mit dreißig, war dieser Traum nur noch eine tröstliche Fantasie, in der Fraser gelegentlich ganz gern mal schwelgte.

Das Schlimmste war, dass er sich wirklich langsam am Riemen hätte reißen müssen, nachdem Liv jetzt schon über ein Jahr tot war. Aber das Leben war zu einem einzigen großen, langen Versprechen an ihn selbst geworden, dass morgen alles anders sein würde. Morgen würde er die Kurve kriegen. Manchmal fragte er sich, ob seine Trauer inzwischen nicht schon mehr eine Gewohnheit war als ein Bedürfnis, was jedoch im Grunde keine Rolle spielte, weil er nämlich jetzt schon wieder so atemlos davon war – von der Leere –, als wäre er in Beton begraben aufgewacht.

»Möchtest du einen Tee? Ein Schinken-Sandwich?« Fraser konnte Mia reden hören und sie sehen, aber nicht verstehen, was sie sagte. Es war alles gedämpft, als schaute er sie durch eine Glaswand an, und trotzdem war er froh, dass sie hier war. Ja, er war von Dankbarkeit geradezu überwältigt, weil ihm der Gedanke kam, was zum Teufel er heute mit sich angefangen hätte, wenn sie nicht da wäre? Für eine Sekunde war er versucht, die Hand nach ihren Beinen auszustrecken, doch natürlich unterdrückte er den Impuls schnell wieder.

Billy nuckelte inzwischen nicht gerade sehr begeistert, wie es schien, an einer Milchflasche, und als Mia sie ihm für einen Moment abnahm, um sie zu schütteln, fing er an zu weinen. Das Weinen steigerte sich schnell zu einem nervtötenden Schreien. Es erinnerte Fraser an etwas, und er merkte, dass sein Herz so wild pochte, als wollte es ihm jeden Moment die Brust zersprengen. Mia gab Billy die Flasche zurück, und sofort trat wieder Stille ein. Fraser konnte Billys rote Bäckchen sehen und sein gieriges, zufriedenes Schmatzen hören, aber er konnte auch noch immer etwas anderes hören. Ein ziemlich unerträgliches Geräusch.

»Oh Gott, Frase! Oh, Mist …«

Erst als Mia ganz fest die Arme um ihn schlang, wurde ihm bewusst, dass das Geräusch von ihm kam.