KAPITEL SIEBEN
Damals

Dezember 1996,
Lancaster

Fraser goss sich Wein nach und beugte sich wieder über das Kochbuch: Zusammenstellung der Moussaka: Legen Sie eine Schicht Kartoffeln auf den Boden und eine Schicht Auberginen darüber, fügen Sie die Fleischsauce hinzu und bestreuen Sie alles mit …

Verdammt, aber das war wie etwas aus Der Krypton Faktor. Es half auch nicht, dass er jetzt schon den größten Teil einer Flasche Wein getrunken hatte und die Worte zu verschwimmen begannen: Kartoffeln, Auberginen, Fleisch. Oder war es Kartoffeln, Fleisch und Auberginen? Er hatte keine Ahnung; er wusste nur, dass sie sehr bald hier sein würde und er noch etwas fabrizieren musste, das als Béchamelsoße bezeichnet wurde.

Er zündete sich eine Zigarette an und wedelte mit der Hand den Rauch weg, sodass er sich mit den Kochgerüchen zu einer Mischung aus Silk Cut, gebratenem Hackfleisch und Waldfrüchten vereinte, wobei letztere Duftnote von den Duftkerzen herrührte, die Melody ständig mit nach Hause brachte, »weil Kerzen Atmosphäre schaffen«. Offensichtlich. An einem ganz alltäglichen Abend konnte South Road Nummer fünf für die Sixtinische Kapelle durchgehen.

Fraser blickte sich in der Küche um; sie sah aus, als wäre hier eingebrochen worden, und im Stillen verwünschte er sich dafür, ein Gericht gewählt zu haben, zu dessen Zubereitung praktisch jedes Utensil im Haus gebraucht wurde. Warum hatte er nicht etwas Einfaches wie ein Chili oder Currygericht gekocht?

Die Präsentation würde entscheidend sein. Fraser griff in den Hängeschrank, um die schweren Geschütze aufzufahren: Melodys große Terrakotta-Kasserolle. Er begann, sie mit einer Schicht Auberginenscheiben auszulegen, die er zuvor gegrillt hatte, und wünschte, er hätte die Anweisungen befolgt und die Auberginen längs geschnitten statt einfach in dicke Stücke, die jetzt matschig in der Mitte der großen Kasserolle saßen und irgendwie verloren wirkten wie ein Haufen Kuhdung.

Er hatte sich nur deshalb für Moussaka entschieden, weil Melody sie vor einem Monat bei der letzten Dinnerparty in ihrem Haus serviert hatte und sie sehr gut angekommen zu sein schien. (Allerdings wollte er nicht über das eigentliche Dinner hinausdenken, weil danach irgendwie alles ausgeartet war.)

Melody war eine weltgewandte, selbstbewusste junge Frau mit beeindruckender Oberweite, die Frasers Meinung nach ein paar merkwürdige Ideen hatte, die nicht zu ihrem Studentinnenstatus zu passen schienen, wie sich die Sonntagszeitungen in ihre Studentenbude liefern zu lassen und griechisch angehauchte Dinnerpartys zu geben, zu denen Kommilitoninnen aus ihrer juristischen Fakultät in Ballkleidern erschienen, nur um stockbetrunken von französischem Apfelwein zu werden.

Aber Melody war andererseits auch nett und tüchtig, und in Momenten wie diesem war Fraser sehr froh, dass er mit jemandem zusammenlebte, der Kochbücher besaß. Doch als er nun seine Moussaka betrachtete und sie mit der auf dem Foto verglich, merkte er, dass er sich der Sache mit den »Schichten« nicht bewusst gewesen war. Diesem Teil hatte er keine Zeit gewidmet, und das war es, was ihn jetzt verwirrte. Viel zu viel zum Nachdenken für einen Mann, der trotz seiner Entschlossenheit um knapp sieben Uhr abends schon angetrunken war.

Und mit neunzehn Jahren war Fraser Morgan »vielschichtig«, oder zumindest behauptete das seine Mutter (»so ein kompliziertes Kind, wir haben keine Ahnung, woher wir ihn eigentlich haben …«), und so erlebte er auch das Leben: Es kam in Wellenkämmen und -tälern, die er weder vorhersagen noch sehr erfolgreich kontrollieren konnte. An einem Tag allein konnte er von einem Moment intensiver Freude – wie diesen wenigen Sekunden zwischen dem Beenden eines Auftritts und dem Applaus; gab es einen schöneren Moment im Leben? – zu Anfällen von Schwermut wechseln. Dann zog er sich in sein Zimmer zurück, um auf seiner Gitarre zu klimpern und aufmerksam Gedichten zu lauschen oder vielleicht sogar welche zu schreiben. In solch melancholischen Momenten brachte er seine besten Arbeiten hervor.

Er bezweifelte, dass er je wirklich »Glück« erfahren hatte, falls Glück die Art von blindem Selbstvertrauen war, die er bei seinen Kommilitonen im Philosophiekurs sah. Er hatte Philosophie gewählt, nicht weil er sie als Abiturfach gehabt hatte (das waren wissenschaftliche Fächer gewesen), sondern weil sie für ihn die Art von Fachgebiet war, mit dem man sich nur an der Universität befassen konnte.

Er war der Erste aus seiner Familie, der zur Uni ging; die meisten seiner Freunde blieben in Bury, um ihre Abiturprüfung zu wiederholen oder Jobs als Klempner oder Fitnesstrainer anzutreten, doch er wollte etwas, das eindrucksvoll und intelligent klang, wenn er danach gefragt wurde. »Computerwissenschaft« brachte es nicht wirklich, aber Philosophie? Das war gut.

Fraser liebte seine Freunde daheim, doch manchmal sehnte er sich nach etwas mehr als dem Pub und hoffte, dass er das bei seinen Philosophievorlesungen finden würde. Er stellte sich einen Saal voller cooler, interessanter Leute vor, die wahrscheinlich Schals trugen, mit Bergen alter Bücher unter dem Arm über den Campus wandelten und »Standpunkte« hatten. Fraser liebte Standpunkte und hielt sich selbst für relativ tiefgründig und einfühlsam. In Wirklichkeit schien Philosophie jedoch ein Kurs zu sein, der von Leuten belegt wurde, die ernst, aber auch Alphatypen waren. So kam er sich ein bisschen hilflos vor in den Vorlesungen und hatte Angst, sich zu beteiligen, weil er nichts Dummes sagen oder zu sehr wie aus dem Norden klingen wollte.

Diese Typen schienen instinktiv zu wissen, was sie vom Leben wollten. Frasers Wunsch war, Mitglied einer Band zu sein: Er sang, spielte Gitarre und stellte sich das erste Albumcover vor, auf dem er und Norm (der Drummer) und die beiden anderen Mitglieder der Fans (ein Akronym für die vier Mitglieder, Fraser, Andy, Norm und Si, was sie alle ziemlich clever fanden) in einem lachhaft altmodischen Wohnzimmer zu sehen wären und deprimiert und abgezehrt aussähen. Er war sich nur nicht sicher, ob Norm diesen Look im Augenblick zustande brächte.

Und das war’s auch schon. Er hatte keinen Plan B, keine anderen Pläne für sein Leben. Seine Kommilitonen dagegen schienen genau zu wissen, wohin sie gingen, während das Leben für Fraser ein sich ständig weiterentfaltendes Geheimnis war, das berauschend sein konnte, ihn jedoch auch nur allzu oft enttäuschte. Das lag daran, dass er noch nicht die Kunst entwickelt hatte, sich selbst glücklich zu machen, und noch immer schlechte, oft sogar katastrophale, auf Furcht basierende Entscheidungen traf, weil er keine besseren Ideen hatte. Die Moussaka war ein solches Beispiel. Was Mädchen anging, war es jedenfalls schon immer so gewesen.

Fraser sah gut aus; vielleicht nicht nach jedermanns Geschmack mit seinem kantigen Gesicht, aber er war auf jeden Fall ein attraktiver Mann. Er war groß, hatte hübsches, dichtes Haar und »schöne, mandelförmige Augen«, wie viele Mädchen ihm gesagt hatten. Das war ein Kompliment, das er gern mit einer Handbewegung abtat, nur um heimzugehen und seine Augen aus verschiedenen Winkeln im Spiegel zu betrachten. Waren sie schön? Oder war das nur ein Klischee, das Mädchen anwandten, wenn sie betrunken und gefühlsselig waren, was seiner Erfahrung nach fast immer der Fall war?

Wie dem auch sei, Fraser mangelte es jedenfalls nie an weiblichem Interesse, an Mädchen, die sich an ihn heranmachten und ihm sagten, er sei witzig, »kompliziert«, und er habe schöne Augen.

Obwohl all diese Aufmerksamkeit ihn verwirrte, fühlte Fraser sich aber auch geschmeichelt und fand, dass es undankbar und sogar grob unhöflich wäre, ihre Angebote zurückzuweisen. In anderthalb Jahren an der Lancaster University war er mit einer von Melodys Studienkolleginnen an der juristischen Fakultät ausgegangen, Becca, die stinkvornehm und ein bisschen beängstigend gewesen war. Das Zusammensein mit ihr war wie eine Art Strapazierfähigkeitstest für den Charakter, und diese Herausforderung war für Fraser der reinste Nervenkitzel.

Nach Becca kam Steph, ein reizendes, cleveres und nachdenkliches Mädchen. Sie war in seinem eigenen Kurs und ganz so, wie Fraser sich eine Philosophiestudentin vorgestellt hatte: Steph trug Schals und eine Brille und saß sehr oft mit untergeschlagenen Beinen da. (Eigentlich störte ihn das am Ende sogar ziemlich. Ein Mann kann einer Frau schließlich nur eine gewisse Zeit zwischen die bestrumpften Beine starren, bevor er nichts Reizvolles mehr daran findet.)

Steph und er führten wirklich gute »Gespräche und Debatten«, die er echt interessant fand, über Ausbildung und die Kluft zwischen Arm und Reich, doch im Grunde hatte Steph keinen Sinn für Humor und wurde abweisend und spröde, wenn Fraser zu viel trank und sich dann auszog. Das war lediglich eine Angewohnheit von ihm; er wollte niemanden damit verärgern, und es war auch definitiv nichts Sexuelles. Am Ende hatte er es einfach nur noch satt, sich permanent entschuldigen zu müssen, weil sie andauernd verärgert war.

Nach der Beziehung zu Steph, die fünf Monate anhielt, hatte er mehrere Affären hintereinander, deren letzte Sara von Moussaka Evening Fame gewesen war, die heute als »Sara Moussaka« bekannt war und die er lieber vergessen würde (ein weiterer Grund, warum er sich fragte, warum zum Teufel er beschlossen hatte, Moussaka zuzubereiten).

Fraser hatte begonnen, sich einen Ruf als Ladykiller zu erwerben, was er allerdings für unfair hielt, da er seiner Meinung nach einfach nur gern in weiblicher Gesellschaft war. Mit Frauen konnte man reden, und es gefiel ihm auch, wie sie lebten. Frauen gingen spazieren und in Restaurants – all die Dinge, zu denen er in seinem Leben bisher noch nicht gekommen war und die ihn sich für eine Weile lebendiger fühlen ließen. Aber er hatte festgestellt, dass dieses Gefühl sehr bald verblasste, weil die Person, mit der er zusammen war, nicht die richtige war. Er merkte, dass er funkelnde Lichter, einen hohen Berg und einen schönen Tag brauchte, um ihre Gesellschaft zu genießen. Zumindest war es so, bis er Mia kennenlernte, mit der er noch immer liebend gern zusammen wäre, wenn sie den Tag im Großhandelsmarkt Asda in der Tiefkühlfisch-Abteilung verbringen würden – was sie in gewisser Weise sogar taten.

Mia stand an jenem feuchtkalten Dezemberabend vor Frasers Haustür und atmete ein paarmal ein und aus. Sie hatte sich die ganze Woche auf diesen Moment gefreut, ja sogar die Tage bis dahin gezählt, und trotzdem hatte sie plötzlich Muffensausen und war mit den Nerven total am Ende.

Sie hatte tausend Mal überlegt, was sie anziehen sollte, und sich für ein smaragdgrünes Satintop und neue (billige) Jeans entschieden, die sie vor dem Anziehen hätte waschen sollen, da sich auf dem halbstündigen Weg zu Fraser, auf dem sie ständig ihre klammen Hände daran abgewischt hatte, ihre Finger und Handflächen blau verfärbt hatten. Jetzt sah sie so aus, als hätte sie tagelang in einer Leichenhalle gelegen.

Dass Fraser ihr keinen klaren Hinweis darauf gegeben hatte, worum es heute Abend ging, hatte ihr die Frage nach dem richtigen Outfit auch nicht einfacher gemacht. Als er sie einlud »vorbeizukommen«, hatten sie gerade ein gegrilltes Hähnchen bei Asda gekauft – was wohl kaum die Voraussetzung für ein großartiges Liebesabenteuer war. Aber davon abgesehen war ihr gemeinsamer Einkaufstrip alle zwei Wochen zu Asda ohnehin wohl kaum die Basis für eine bedeutungsvolle Liebesbeziehung.

Es war einfach nur so, dass Großeinkäufe dort billiger waren als im Laden auf dem Campus, und deshalb hatten Fraser und sie damit begonnen und teilten sich mit ihren Einkäufen ein Taxi auf dem Weg zurück zur Uni. Großer Gott, jetzt hör dir bloß mal zu!, sagte sie sich. War das wirklich ihre Idee gewesen, einen Samstagnachmittag »nutzbringend« in einem Großhandelsmarkt zu verbringen? Kein Wunder, dass Fraser sie noch nie zu irgendetwas eingeladen hatte!

Als sie jetzt auf den Eingangsstufen von South Road Nummer fünf stand, war sie immer noch nicht sicher, ob er sie jetzt eingeladen hatte: »Du solltest nächste Woche mal vorbeikommen«, war alles gewesen, was er gesagt hatte. Würden noch andere Leute da sein? Oder war das seine Art und Weise, sie zum Abendessen einzuladen? Zu einem Date? Mia hoffte, dass es so war, weil sie längst dabei war, sich in Fraser Morgan zu verlieben. Im Grunde war sie es schon seit dem Moment, in dem sie sich geküsst hatten – oder vielmehr, seit sie ihm um den Hals gefallen war und ihn geküsst hatte. Die Erinnerung daran trieb ihr noch immer die Röte in die Wangen, obwohl es schon über ein Jahr her war. Sie hatte total im Bann von Shane Parry gestanden, dem »Hypnotiseur extraordinaire«, der für die Erstsemester aufgetreten war und, was sie anging, bislang auch der Zerstörer ihres Liebeslebens an der Uni war. Als wäre es nicht schon demütigend genug, in Trance versetzt und angewiesen zu werden, Mitglieder des Publikums zu küssen! Zu allem Übel hatte er sie vorher auch noch eine rohe Zwiebel essen lassen wie einen Apfel, sodass sie auch noch schwer gestunken haben musste, als sie die anderen küsste.

Vernünftigerweise hatte sie seitdem behauptet, unter Gedächtnisschwund zu leiden.

Nachdem sie noch einmal tief durchgeatmet hatte, betätigte sie zweimal kurz den Bronzetürklopfer. Fraser öffnete sofort, als hätte er hinter der Tür gelauert. Er hielt zwei große Mülltüten in den Händen und sah erhitzt aus.

»Ah! Raus mit dem alten Müll und rein mit dem neuen«, scherzte sie. Warum hatte sie das gesagt? Es war idiotisch und viel zu selbstironisch, also genau das, wovor ihre Mitbewohnerin Anna sie immer gewarnt hatte. (»Mach dich nicht selbst herunter! Jungen hassen so etwas.«)

Fraser lachte. »Wie bitte?«

»Nichts«, sagte sie. »Bitte ignorier diese Bemerkung!«

Er warf die Tüten in den Mülleimer. »Komm herein!«, sagte er. »Ich habe einen Sturm entfesselt.«

»Buchstäblich, wie ich sehen kann«, bemerkte Mia, als sie das Haus betrat.

Die erste Hälfte des Wohnzimmers war okay – der Esstisch war für zwei Personen gedeckt (nicht mehr, stellte sie auf einen Blick fest). Doch dann, als hätte sich eine Naturkatastrophe ereignet, stapelten sich die »Trümmer«, je näher sie der Küche kamen, die wiederum fast völlig blockiert war von halb geleerten Einkaufstüten und zum Spülen eingeweichten Pfannen.

Aber er hatte gekocht! Oder kochte vielmehr immer noch. Das musste ein gutes Zeichen sein, denn er hatte auch die Kerzen nicht vergessen. Mia biss sich auf die Lippe, als sie ihm in die Küche folgte, und ihr Magen begann, vor Aufregung zu kribbeln. Warum sollte Fraser sich die Mühe machen, Kerzen anzuzünden, wenn dies bloß ein Besuch einer guten Freundin war? Und warum hätte er sie allein einladen sollen?

Sie war also ziemlich aufgeregt, jedoch auch seltsam verlegen, weil sie nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte, jetzt, da sie den Beweis hatte, dass Fraser tatsächlich romantische Absichten hatte. Hätte sie etwas Schickeres anziehen sollen als Jeans? Eine gute Flasche Wein mitbringen, statt einem Sixpack und einer Dose Käse-und-Zwiebel-Pringles? Sollte sie mit ihm flirten? Jetzt gleich? Sich mit einem Glas Wein in der Hand dekorativ auf dem Sofa niederlassen?

Wie zu erwarten, tat sie nichts von alldem; stattdessen überkompensierte sie, indem sie lustig, kameradschaftlich und völlig asexuell war. Leider war Mia in ihrem bisherigen Leben nur mit aufgeblasenen Schickimicki-Typen ausgegangen, da sie die Einzigen waren, die sie kannte. Eitle, unsolide Männer waren auf ihre Art völlig ungefährlich, weil auch die Streitigkeiten sich in Grenzen hielten, falls es schiefgehen sollte. Und mit Snobs konnte sie auch flirten – es war eine ganz einfache Formel, die sie ihre Mutter wieder und wieder hatte anwenden sehen: Man lachte über ihre Scherze, klimperte mit den Wimpern, zeigte ein bisschen Dekolleté, und schon bekam man einen Kuss.

Bei Fraser Morgan fühlte sie sich jedoch irgendwie überfordert. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie wirklich gern mit jemandem zusammen; sie hatte tatsächlich ein Mitglied des anderen Geschlechts gefunden, das einen Einkaufstrip zum Großhandelsmarkt Asda zu einem Vergnügen machen konnte. Das Erstaunliche war, dass dies auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien, und das machte sie nervös – besonders jetzt, da sie offensichtlich ein Date hatten. Und weil sie nichts Besseres mit sich anzufangen wusste, öffnete sie natürlich eine Dose aus dem Sixpack und verbarg dahinter ihr Gesicht.

»So, Delia Smith, dann wollen wir mal sehen …«

Mia versuchte, sich in die Küche zu drängen und einen Blick zu riskieren, aber Fraser hielt sie mit ausgebreiteten Armen auf.

»Was soll das?«, fragte sie kichernd.

»Kannst du mir eine Minute Zeit geben? Ich bin noch nicht ganz fertig. Wenn du jetzt dort reingingst, könntest du einen falschen Eindruck bekommen.«

Mia runzelte die Stirn. Was sollte das denn heißen? Waren ihre Annahmen falsch gewesen? Dachte sie, er bereitete ein romantisches Essen zu, während er in Wirklichkeit für seine Mitbewohner kochte, die bald erscheinen würden? Was natürlich auch in Ordnung wäre, keine Frage.

Was in Wirklichkeit geschehen war, war, dass er versucht hatte, die Moussaka ordentlich zusammenzustellen, die Schichten jedoch in der falschen Reihenfolge angeordnet hatte. Deshalb hatte er sie wieder auseinandergenommen und Hackfleisch, Tomatensauce und Kartoffeln auf jeder freien Oberfläche, die er finden konnte, verteilt … aber dann hatte Mia an die Tür geklopft, und deshalb war er noch nicht weitergekommen.

Sie spähte über seine Schulter, und er trat schnell zur Seite, um ihr die Sicht zu verstellen, doch nicht schnell genug, um zu verhindern, dass sie das Chaos in der Küche sah.

»Was machst du da, Fraser? Was ist das für ein Massaker?«

»So könnte man es auch nennen. Aber eigentlich ist es ein Werk, das noch in Arbeit ist, eine kulinarische Collage, wenn du so willst, die sich jedoch jeden Moment als Kunstwerk offenbaren wird.«

»Ooookay.«

Fraser legte ihr eine Hand auf die Schulter, und Mia erstarrte förmlich vor Verlegenheit. Er musste betrunken sein, denn sonst berührte er sie nie.

»Hör mal, trink etwas, mach es dir bequem, und in ein paar Minuten bin ich wieder bei dir, ja?«, sagte er und scheuchte sie von der Tür weg. »Ich bin nur ein Mann und kann nicht mehrere Dinge gleichzeitig erledigen.«

Fraser verschwand in der Küche und zog die Tür hinter sich zu. Mist, verdammt, er war betrunken! Wie hatte er sich erlauben können, schon derart viel zu trinken? In den zehn Minuten, bevor Mia erschienen war, hatte er nach dem Auseinandernehmen der Moussaka den Entschluss gefasst, schnell noch mal zu duschen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Doch das Wasser war viel zu heiß gewesen und die Abkühlzeit zu kurz, deshalb konnte er jetzt Schweiß an seinem Rücken hinunterlaufen spüren. Aber Mia sah bezaubernd aus. Sie war so hübsch. Ihr blondes Haar war nach der neuesten Mode zu einem sogenannten »abgestuften Bob« geschnitten, sodass es etwa kinnlang, locker und im Nacken kurz und stufig war. Nicht jede Frau konnte diese Frisur tragen. Doch Mia steht sie gut, dachte Fraser, als er durch den winzigen Türspalt zu ihr hinübersah. Sie hatte einen schönen, schlanken Hals und eine hübsche kleine Stubsnase, die ihr ein großartiges Profil verlieh. Auch ihre Augen waren schön – grau, ein bisschen schräg und groß, was sie noch mit diesem verwischten Lidschattenzeug betonte. Das lasse sie »eine Spur verrucht« erscheinen, hatte sie ihm einmal erklärt. Tatsächlich wirkte sie damit wie eine starke Frau, die aussah, als könnte sie mit allem fertigwerden, was das Leben mit sich brachte, und als kenne sie sich damit aus. Aber nicht so, wie Becca oder Melody sich auskannten, sondern richtig – als kenne sie Dinge, von denen Fraser instinktiv wusste, dass es sich lohnen würde, sie zu erfahren.

Mia stand jetzt im Wohnzimmer, verwirrt und ein kleines bisschen aufgeregt. Offensichtlich hatte er sich einige Mühe gemacht, doch so aufgeregt und nervös wie heute hatte sie ihren Freund noch nie gesehen. Und beides schien ansteckend zu sein, musste sie leider feststellen.

Sie schaute sich in dem großen Zimmer um. Das Haus war viel schöner als die Studentenbude, die sie sich mit Liv und Anna teilte und schützendes Schuhwerk erforderte, um die Küche zu betreten.

Erstens war dieses Haus sauber und wies Anzeichen von Zivilisation wie einen Zeitungsständer und richtige Lampen auf (statt einer Lavalampe, die längst erstorben war und nun in der Ecke stand wie ein übel riechender Teich), und es gab sogar ein großes, cremefarbenes Sofa mit geschmackvollen Kissen.

»Eure Bude ist richtig nobel«, bemerkte sie.

»Das ist einer der Vorteile, bei einem Paar zu leben«, rief Fraser aus der Küche. »Melody und Norm sind im Grunde schon verheiratet. Jedenfalls kann Melody nicht das Haus verlassen, ohne wenigstens ein Kissen mitzubringen.«

Mia lachte. »Wo sind Melody und Norm heute Abend?«, fragte sie und kniff ein Auge zu, während sie auf die Antwort wartete.

»In Surrey … ›Sorry, ich bin aus Surrey …!‹« Du musst mit diesen blöden Witzen aufhören, dachte er. Du bist nicht witzig, sondern bloß besäuselt. »Sie sind zu Melodys Eltern gefahren.«

»Ach so. Wie nett von ihnen«, sagte Mia, um einen gleichmütigen Ton bemüht. »Dann, ähm … werde ich sie heute Abend nicht zu sehen bekommen, oder?«

Mia war Norm und Melody einige Male begegnet, seit sie Fraser kannte, und mochte beide sehr.

»Nein, ich fürchte, du wirst dich mit mir begnügen müssen.« Er streckte den Kopf zur Küchentür heraus.

»Du meine Güte, das kann doch nicht dein Ernst sein!«, scherzte Mia und sog scharf die Luft ein. »Sollen wir ausgehen?«

»Du kommst dir wohl sehr witzig vor, Miss Woodhouse? Du kannst jetzt eine CD einlegen, wenn du willst.« Er ging wieder in die Küche, um ein weiteres Mal besorgt seinen kleinen Berg Moussaka anzuschauen. »Sie sind dort neben dem Sofa.«

Mia schnitt eine Grimasse, weil diese Bitte sie stets schaudern ließ. Mit Filmen und Büchern kannte sie sich aus, mit beidem kam sie gut zurecht – aber Musik? Sie hatte einen fürchterlichen Musikgeschmack. Oder, besser gesagt, sie hatte keine Meinung dazu, und bisher war es ihr gelungen, das vor Fraser zu verbergen. Schließlich sollte er nicht denken, sie ginge nur zu seinen Auftritten, um ihn zu sehen …

Sie stand auf und trat zu den CDs.

»Was machen die anderen Hexen von Eastwick heute Abend?«, fragte Fraser, womit er Liv und Anna meinte.

»Liv ist mit Ben dem Langweiler ausgegangen …«

»Ben der Langweiler« war Livs viel älterer, sehr gönnerhafter und nervtötender Freund, den sie hatte, seit sie etwa zwölf gewesen war, und der zu glauben schien, sie sei noch immer in diesem Alter. Alle hassten ihn.

»Und Anna ist nach Wigan Pier gefahren, um durch die Clubs zu ziehen.«

»Und du hast das große Los gezogen, indem du meiner Einladung gefolgt bist, was?«

Mia ließ den Blick über die CDs gleiten und schätzte, dass sie allerhöchstens vier von den ersten zehn kannte.

Es gab nur einen Ausweg aus diesem Dilemma, und der war Humor.

Ba-ba-da-da-ba-daaaaa 

Ein paar Sekunden später ertönte das vertraute Schlagzeug-Intro zu Phil Collins’ Something in the Air Tonight. Es liegt heute Abend etwas in der Luft.

»Rasend komisch, Mia. Noch so ein urkomischer Gag«, schrie Fraser aus der Küche.

»Wieso?«, fragte sie. »Du willst doch wohl nicht den legendären Phil Collins kritisieren? Ein musikalisches Genie unserer Zeit – und die CD ist deine, Fraser! Obwohl es eigentlich One More Night sein müsste, wenn du meinen Lieblingssong hören willst. Das, mein lieber Fraser, ist Musik.« Du klingst viel zu bemüht, Mia Woodhouse. Hör auf, witzig sein zu wollen!

»Na ja, schlechte Musik mal beiseite, am Schlagzeug ist er wirklich absolute Spitze.« Fraser erschien in der Küchentür. »Was ich von meinem Kochen leider nicht behaupten kann.«

»Ach, komm, du brauchst nicht so bescheiden zu sein!« Mia näherte sich der Küche, und diesmal ließ Fraser sie herein. »Oder meinst du, wir brauchen noch ein weiteres Grillhähnchen von Asda?«

Sie inspizierte die Ergebnisse von Frasers Bemühungen: im Grunde nur ein kleiner Berg von etwas Matschigem in der Mitte einer viel zu großen Terrakotta-Kasserolle.

Mia versuchte, nicht zu lachen. »Warum hast du es nicht einfach in einen kleineren Topf getan, Fraser?«

Er knabberte an seinem Daumennagel. »Keine Ahnung.«

»Oder mehr davon gemacht.«

»Ich weiß es nicht – es war ein mit räumlichem Bewusstsein und zeitlichen Begrenzungen verbundenes Problem.«

Sie erhob den Blick zu ihm.

»Du weißt ja, wie das ist.«

»Bist du betrunken, Fraser?«

»Ja«, gestand er. »Leider bin ich das.«

»Auf einer Skala von eins bis zehn?«

»Nicht allzu schlimm. Sechs?« Sein Blick wich ihrem aus. »Okay, sieben.«

Mia betrachtete wieder die sehr kleine Moussaka. »Dann werden wir uns mit Pringles begnügen müssen«, sagte sie.

Sie setzten sich, aßen die Moussaka sehr, sehr langsam, damit sie länger vorhielt, und lauschten Phil Collins’ Greatest Hits im Hintergrund. Anfangs lachten sie. Wie ätzend! Wie amüsant sie waren! Aber nach einer Weile verblasste nach und nach das Komische der Situation, bis ihnen bewusst wurde, dass sie allen Ernstes bei Kerzenlicht dasaßen und Liebesliedern lauschten, und für schreckliche fünfzehn Minuten lang geriet das Gespräch ins Stocken.

Zum Glück wurden sie dann sehr betrunken – Mia gab sich alle Mühe, das Versäumte aufzuholen –, und irgendwann flachsten und witzelten sie, wie sie es immer taten.

»Nun, ich denke, wir haben uns sehr anständig verhalten«, verkündete Fraser und legte sein Besteck hin. »Es war erstklassige Arbeit, wie wir diese Moussaka eine ganze Stunde vorhalten ließen.«

Mia griff sich mit der Hand ans Kinn. »Zur Belohnung habe ich jetzt eine Kieferklemme, nachdem ich etwa zweiundsiebzig Mal denselben Bissen gekaut habe.«

Sie lachten, und trotzdem hatte Mia das Gefühl, dass sie das eigentliche Thema noch immer sorgfältig vermieden.

Aber Fraser dachte sogar sehr angestrengt über dieses Thema nach. Tatsächlich hatte er sich schon die ganze Zeit, seit Mia heute Abend so umwerfend hübsch und außerordentlich verführerisch hereingekommen war, gefragt, wie er es anschneiden sollte.

Am besten packte er den Stier gleich bei den Hörnern.

»Okay, lass uns nach oben gehen!«, sagte er plötzlich.

»Hey, mal langsam …«

Er verdrehte die Augen und schnalzte mit der Zunge. »Um Musik zu hören.«

Eigentlich hörten sie ja schon Musik, andererseits jedoch waren sie inzwischen auch beschwipst und entspannt genug, um diese kleine Widersprüchlichkeit zu ignorieren, und so folgte Mia ihm, eine halbe Flasche Rotwein und Gläser in der Hand, die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf.

Da beide der festen Überzeugung waren, dass Alkohol und Musikinstrumente eine im Himmel geschlossene Verbindung waren, verschmähten sie die Stereoanlage und vertieften sich in ihre eigenen Bemühungen. Fraser spielte She’s electric von Oasis, und Mia sang mit. Es war ein Stück, das sie mit Liv und Anna schon oft in Karaoke-Bars gesungen hatte, aber allein in Fraser Morgans Schlafzimmer erforderte es ein wenig mehr, und trotz ihres Alkoholkonsums wusste sie jetzt schon, dass es ihr am nächsten Tag sehr peinlich sein würde. Was sie jedoch nicht davon abhielt, noch mehr von Oasis, Babybird und auch einen Song von Crowded House zu singen, dessen Text sie allerdings nicht kannte. So tanzte sie stattdessen und murmelte hin und wieder die eine oder andere Passage, an die sie sich erinnerte.

»Mehr Wein!«, erklärte Fraser irgendwann. »Ich schätze, wir brauchen auf jeden Fall mehr Alkohol.«

Er sang vor sich hin, als er hinunterging und Mia das Bad aufsuchte. Jemand hatte einen Zettel über der Toilette befestigt: BITTE KEINE GROSSEN GESCHÄFTE AUF DIESER TOILETTE!, was sie so amüsierte, dass sie sich schüttelte vor Lachen, während sie auf Frasers Toilette saß und ein »kleines Geschäft« verrichtete.

Bisher lief also alles bestens, und mit ziemlicher Sicherheit würde sie Fraser heute noch ins Bett kriegen. Also wollen wir die Sache mit den »guten Freunden« doch mal auf eine andere Ebene bringen!, sagte sie sich in ihrem Rausch. Lassen wir das Spiel beginnen!

Vielleicht sollte sie sich ihm einfach an den Hals werfen. Nein, nein, nicht nach dem, was beim letzten Mal passiert war, als sie es getan hatte. Nämlich nichts. Rein gar nichts. Das war das Problem. Sie betätigte die Spülung, zog ihre Hose hoch und bemerkte erst jetzt die coole Blautönung ihrer Beine, wo die billige Jeans gesessen hatte. Falls sie es bis in Fraser Morgans Bett schaffte, würde sie es bei ausgeschaltetem Licht tun müssen.

Sie hüpfte praktisch zu seinem Schlafzimmer zurück, und erst als sie die Tür schloss, bemerkte sie den obligatorischen Bilderhalter mit Fotos. Wie vorhersehbar. Jedes Studentenschlafzimmer im Land musste einen solch rahmenlosen Bilderhalter haben. Aber da die Fotos natürlich auch interessant waren, konnte Mia nicht widerstehen und hockte sich auf den Boden, um sie zu betrachten.

Da war eins von Fraser und seinem Bruder, als Frase noch ein kleiner Junge gewesen war. Schon damals hatte er diese schönen Augen gehabt, doch einen Kopf voller weißblonder Locken. Sie wandte den Blick ab, bevor sie sich dazu verleiten ließ, sich ihre Kinder mit ihm vorzustellen. Ein anderes Foto zeigte ihn vor der Schule: ein Porträt vor einem Spielplatzchaos. Dann machte ihr Magen einen Satz, als sie Fraser mit einem Mädchen sah. Einem sehr hübschen Mädchen. Es war offensichtlich auf einer Party oder einem Oberstufenball aufgenommen worden, denn Fraser trug ein Dinnerjacket mit Fliege und sie ein trägerloses kurzes Kleid aus schwarzem Samt. Sie saßen auf einem Sofa oder einer Chaiselongue, wie man sie in Hotelfoyers findet: Fraser entspannt zurückgelehnt mit ausgestreckten Beinen und einem Arm um das Mädchen, und er strahlte ein jungenhaftes Selbstvertrauen aus, während sie sich an ihn lehnte und ihre Hand auf seiner Brust lag.

Mia beugte sich vor, um es sich genauer anzusehen, im selben Moment, in dem Fraser betrunken hereinstolperte …

»Au!«

… und Mia die Tür ins Gesicht schlug und sie umwarf.

»Oh Gott, entschuldige, das tut mir leid!« Fraser stellte die Flasche Wein ab, und plötzlich hielt er Mias Gesicht zwischen den Händen, und sie sahen sich in die Augen. »Alles in Ordnung mit dir?«

Sie hatte jetzt die Chance, ihn einmal richtig anzuschauen, was sie sich schon die ganze Nacht gewünscht hatte. Ja, sie stand noch immer auf ihn. Sehr sogar.

Küss ihn! Küss ihn einfach …

Aber sie schien auf einmal wie gelähmt zu sein, fast so, als klebte sie am Boden.

»Ja, es ist nichts passiert …«

Und viel zu schnell war der Moment verflogen.

»Das geschieht mir nur recht für meine Neugier.«

Sie setzten sich beide mit dem Rücken an die Wand, und Fraser schenkte Wein nach.

»Wer ist dieses Mädchen?«, fragte Mia. Sie war betrunken, also warum auch nicht?

»Oh, das ist Amanda.«

Fraser hatte nur einen kurzen Blick auf das Foto geworfen, doch offensichtlich wusste er, wen sie meinte.

»Sie ist sehr hübsch«, bemerkte Mia.

»Und total verrückt.«

Mia lachte. »So sieht sie gar nicht aus. War es eine ernsthafte Beziehung?«

»Oh ja, wie ich schon sagte, ernsthaft verrückt.«

»Was soll das denn heißen?«, fragte Mia.

»Ich war fast anderthalb Jahre mit ihr zusammen, und als ich Schluss machte, fing sie an, mich zu verfolgen und lauerte mir vor der Schule, am Fußballplatz beim Training und vor meinem Elternhaus auf. Am Ende musste ich ihr mit Strafanzeige drohen.«

Mia stieß ihm den Ellbogen in die Seite. »Du Herzensbrecher, du!«

Er sah sie an. »Wohl kaum. Aber heute kann ich eine Verrückte auf einen Kilometer Entfernung erkennen. Jetzt hätte ich gern jemanden, der vernünftig ist, unprätentiös und bodenständig. Jemand Pflegeleichtes, mit dem man auch mal richtig lachen kann. Verstehst du, was ich meine?«

Aus der Nähe ist Mia sogar noch hübscher, dachte er. Ihre Haut war zart und makellos, und sie hatte diese Art von tief liegenden, weisen Augen. Er trug jetzt stark auf, das wusste er, aber sie schien es nicht zu bemerken.

»Dann ist das deine Schule auf dem Foto?«, fuhr sie fort.

»Ja, die schlimmste auf der Welt. Wenn irgendjemand eine Eins bekam, erschien es in der Zeitung. Lunch bestand aus einem Päckchen Silk Cut, das man sich mit jemandem teilte, und vielleicht einer Tüte Pommes aus der Frittenbude.«

»Nein. Echt?« Mia konnte sich keine Schule vorstellen, an der nicht von allen erwartet wurde, zur Universität zu gehen, oder wo nicht alle glaubten, das sei ihr gottgegebenes Recht.

»Oh ja. Und wie war es bei dir? Ich wette, dass du eine stinkvornehme Schule besucht hast. Alle, die Medienwissenschaft studieren, waren auf einer Privatschule.«

Mia tippte sich an die Stirn. »Mensch, Fraser! Was bist du für ein Edelproletarier!«

»Das war nur ein Scherz«, erwiderte er lachend. »Ich veräppele dich nur.«

»Im Grunde hasste ich die Schule«, sagte sie. »All diese Rugbytypen und diese biestigen, echt gemeinen Mädchen. Ich verdrückte mich von dort, sobald ich konnte, und wechselte zu einer normalen Schule.«

»Ah«, meinte er und drückte ihre Hand, »dann hast du deine Bodenständigkeit wohl daher, was?«

Eine Pause entstand, eine wirklich lange Pause, in der Mia fieberhaft überlegte, womit sie sie füllen könnte.

»Tja, ähm … wie lange kennst du eigentlich schon Melody und …«

Aber sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden, weil Fraser sich vorgebeugt hatte, um ihr einen leidenschaftlichen Kuss zu geben. Mia hatte in ihrem Leben schon viele unbefriedigende Küsse bekommen, besonders, wenn es die ersten waren, doch dieser Kuss … war exquisit. Zunächst berührten Frasers Lippen nur ganz sanft die ihren, und er knabberte spielerisch an ihrer Unterlippe. Alles sehr behutsam und sehr zärtlich, doch dann verfielen sie in ein heftiges, ungestümes, leidenschaftliches Knutschen – anders konnte man es nicht nennen. Er küsste weder zu schnell noch zu langsam und schaute ihr dabei unablässig in die Augen. Ihre Zungen und Lippen schienen sich in einem perfekt aufeinander abgestimmten Rhythmus zu bewegen, ohne dass einer von ihnen etwas sagen musste. Sie machten gute fünf Minuten lang so weiter, und Mia konnte spüren, wie sich in ihrer Brust, ihrer Kehle, ihren Lippen etwas regte. Sie befürchtete, dass das Gefühl sich irgendwie äußern könnte, als hätte sie vielleicht tatsächlich einen Laut von sich gegeben. Nichts in ihrem Leben hatte sich je so gut angefühlt.

»Mein lieber Schwan!«, sagte sie, als sie endlich wieder Luft holen konnte. »War das für diesen blöden Kuss damals, als ich unter Trance stand?«

Er legte eine Hand unter ihr Kinn und zog ihr Gesicht zu sich heran, um sie erneut zu küssen. »Hast du nicht immer behauptet, du könntest dich nicht erinnern, mich geküsst zu haben?«

»Hal-lo!« Zehn Sekunden später hörten sie die Eingangstür und fuhren auseinander.

»Wer zum Teufel ist das?«, zischte Mia und wischte sich über den Mund.

»Hal-lo! Wir sind’s. Wir sind wieder da-aa …«

»Mist, verdammter! Das sind Norm und Melody. Ich dachte, sie kämen erst morgen zurück!«

»Fraser?«

Mia und Fraser erstarrten in seinem Schlafzimmer. Unten konnten sie jemanden in Richtung Küche gehen hören. »Jesus! Was für ein Chaos – und du hast, ohne zu fragen, meinen Terrakottatopf benutzt?«, schrie Melody nach oben.

Mia warf Fraser einen mitfühlenden Blick zu.

»Und du hast auch noch …« Die Schritte waren wesentlich lauter und wütender geworden.

»Oh Gott!«, stöhnte Fraser. »Wir sollten besser runtergehen.«

»Hast du dich verdammt noch mal an meinem Wein vergriffen – schon wieder mal?«

Fraser stand auf und öffnete seine Schlafzimmertür. Melody war schon am Fuß der Treppe, und Norm, der direkt hinter ihr stand, machte eine Geste, als drohte er, jemandem die Kehle durchzuschneiden.

Fraser gab sich Mühe, nüchtern zu erscheinen.

»Mels, es tut mir schrecklich leid; wir werden das in Ordnung bringen. Und wir haben nur eine Flasche Wein getrunken, nicht?«

»Wir? Wer ist denn sonst noch da?«

»Ach, weißt du, Mia kam für ein Weilchen herüber – sie ist übrigens noch da, und ich hatte versucht, Moussaka für uns zu machen …«

»Das kann ich sehen«, sagte Melody, und ihr Ausdruck wurde weicher. »Warum hast du mich nicht angerufen, Fraser?«

Mia kam für ein Weilchen herüber. Das klang ein bisschen zu »kameradschaftlich«, dachte Mia in Frasers Schlafzimmer. (Aber hey, was hätte er denn sagen sollen? Mia kam vorbei, ich verführte sie, und wir knutschten gerade wild herum, als ihr zurückkamt?) Und sie waren ja auch keine Fremden; sie hatte Melody und Norm schon oft genug getroffen. Sie wussten, dass Fraser und sie Freunde waren, also war es nicht völlig undenkbar, dass sie sich in seinem Schlafzimmer aufhielt. Aber was sollte sie jetzt tun? Hinausgehen und Frasers Hand nehmen? Sich so locker und leicht verhalten, als wäre nichts geschehen? Sich einfach verabschieden und gehen? So oder so würde sie sich blicken lassen müssen. Vor Frasers Spiegel fuhr sie sich mit der Hand über das Haar, um nicht wie gerade aus dem Bett gesprungen auszusehen, und öffnete die Tür.

»Hi, Melody«, sagte sie mit einem entschuldigenden Lächeln. »Tut mir leid, dass wir so eine Unordnung hinterlassen haben, und das mit dem Wein ist mir schrecklich peinlich. Aber natürlich werden wir ihn ersetzen und noch mehr …«

Melody winkte ab, nicht weniger peinlich berührt als Mia, die die ganze Situation schlicht unerträglich fand.

»Also ich, ähm … ich muss mal kurz verschwinden«, entschuldigte sich Fraser, und Norm grinste seinen Freund an. Er kannte diesen Blick, diesen Ausdruck eines Mannes, der bis zum Hals in Schwierigkeiten steckt.

Melody linste beschämt zu Norm hinüber und schob nervös die Unterlippe vor. »Oh Gott, jetzt wird Mia denken, ich sei ein fürchterlicher Drache!«

Norm lachte. »Nein, das denkt sie sicher nicht.«

»Absolut nicht«, versicherte Mia, als sie ihnen die Treppe hinunterfolgte. »Ich bin nur beschämt wegen des Weins. Ich wusste nicht, dass er nicht Frasers war. Ich meine, ich will ihm keinen Vorwurf machen, doch ich hätte mich vergewissern sollen …«

»Mia, ehrlich …« Melody stand inzwischen in der Küche und bückte sich, um mit dem Aufräumen zu beginnen. »Normalerweise wäre es mir egal, es ist nur so, dass Fraser derzeit bei mir nicht gerade hoch im Kurs steht. Vor ein paar Wochen habe ich eine Dinnerparty gegeben – für die ich komischerweise auch Moussaka zubereitet hatte –, und Fraser blamierte mich nicht nur vor all meinen Freunden, indem er buchstäblich all seine Klamotten auszog und mit einem Sieb auf dem Kopf in der Küche herumtanzte …«

Mia versuchte, nicht zu lachen.

»… sondern dazu auch noch eine sehr gute Freundin von mir anbaggerte, Unmengen von meinem Wein trank und diese Freundin dann nach drei Dates abservierte. Sie war am Boden zerstört

»Und er hat sie auch im Bad gevögelt, der verdammte Mistkerl«, fügte Norm hinzu, der im Wohnzimmer saß und sich eine Zigarette drehte.

Mias Magen machte einen Satz nach unten. Ihr fehlten die Worte; sie wusste nur, dass sie plötzlich den überwältigenden Drang verspürte, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.

»Auf jeden Fall«, sagte Melody, als sie sich mit einem Lappen in der Hand zu Mia umdrehte, »wäre es überflüssig zu erwähnen, dass meine Freundin seither ›Sara Moussaka‹ ist.«

Ha! Ich werde ganz bestimmt nicht Mia Moussaka sein, dachte Mia. Ich nicht, mein Freund!

Fraser kam herunter und nahm seinen Mantel, der über dem Treppengeländer hing.

»Okay, sollen wir zum Spirituosenladen gehen und ein paar Flaschen Wein kaufen?«, fragte er Mia lächelnd.

Warum musste er so verdammt sexy sein?

»Ich, ähm … tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen. Es ist später, als ich dachte.« Sie blickte nicht auf, doch sie glaubte, ein kurzes, ungläubiges Ausatmen zu hören. Oder ein enttäuschtes? »Außerdem habe ich genug getrunken. Aber warte mal, ich gebe dir etwas dazu.«

Sie fischte ihr Portemonnaie aus der Manteltasche und drückte Fraser eine Fünfpfundnote in die Hand. »Danke für die Moussaka!«, sagte sie, schon auf dem Weg zur Tür.