Mia hat in ihrem ganzen Leben noch nie etwas so atemberaubend Schönes gesehen wie Venedig im Mai. Im Moment – um zehn Uhr dreißig an einem wolkenlosen Morgen – sitzen sie, Melody und Anna in einer Gondel, die von den zerfallenden terrakottafarbenen Häusern rechts und links beschattet wird, während Lorenzo, ihr Gondoliere, die schmalen, smaragdgrünen Wasserstraßen des Canal Grande befährt, die hin und wieder in glitzernden Lagunen enden.
Mia, die sich viele Gedanken über ihre Garderobe für ihre allererste Reise ohne Billy gemacht hat, wird plötzlich von einem unerwarteten Glücksgefühl erfasst, was heutzutage nur sehr selten vorkommt, wenn es um Kleider geht. Aber was sie im Kopf gehabt hatte – die italienische Riviera um 1955 –, hat sich tatsächlich verwirklicht, und ihr Outfit aus einer weißen Capri-Hose, einer schlichten, an der Taille gebundenen Bluse und der goldgerahmten Ray-Ban (auch wenn sie nur eine Imitation für vier neunundneunzig vom Drogeriemarkt ist) ist einfach perfekt für den Anlass. Zum ersten Mal seit dem Ende ihrer Schwangerschaft hat sie das Mode-Nirwana erreicht.
Sie rutscht ein bisschen tiefer auf ihrem Sitz in der Gondel und erhebt das Gesicht zu dem strahlend blauen venezianischen Himmel, denkt an Fraser und Norm und fragt sich, ob sie jetzt wohl auch unter einem unversöhnlich heißen Himmel stehen. In ihrem Fall ist es allerdings der, der die Wüste von Nevada verdorren lässt. Mia war zwar noch nie in der Wüste von Nevada, aber sie stellt sich die beiden Männer mitten in einem roten, vollkommen verdorrten Landstrich vor – schwitzend, übellaunig und wahrscheinlich reichlich angetrunken – und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen.
(Wie das Schicksal es will, sitzen sie in Wahrheit ebenfalls in einer Gondel, nur dass ihre elektrisch ist und einen anderen Canal Grande hinunterfährt: den künstlichen im zweiten Stock des Casinos und Hotels Venezia auf dem Las Vegas Strip, einer protzigen Monstrosität. Dort haben sie den größten Teil des Nachmittags und den ganzen Abend damit verbracht, Jack Daniels zu trinken, weil … na ja, man das eben in Las Vegas tut. Und jetzt sind sie auf dem besten Weg, sich sehr ernsthaft zu betrinken. Zumindest darin hat Mia also recht.)
Als Mia Nummer acht auf Livs Liste aus dem Hut zog: Nach Venedig fahren, aber diesmal richtig, und in Harry’s Bar einen Bellini trinken, dachte sie, dass eine Reise nach Venedig etwas war, was sie alle zusammen unternehmen könnten. Genau wie früher! 2001 waren alle Mädchen ihrer Clique dort gewesen, auf einer Interrail-Tour, auch wenn »dort gewesen« eine sehr locker auszulegende Beschreibung war. Im Grunde hatten sie nur den Zug verlassen, um eine Gondelfahrt zu unternehmen und in einem Lokal in der Nähe des Markusplatzes völlig überteuerte Spaghetti Bolognese zu essen. Überzeugt, Venedig »gesehen« zu haben, waren sie dann gleich wieder in den Zug gestiegen, um nach Pisa weiterzufahren und sich gegenseitig beim »Stützen« des Schiefen Turms zu fotografieren.
Vielleicht konnten sie es diesmal wirklich richtig machen. Wie damals, nur besser. Auch wenn nichts, wie Anna sie alle empört belehrt hatte, je wieder so wie damals sein würde. Diese Bemerkung hatte Mia erröten lassen, da ihr das natürlich viel zu gut bewusst war. Dies waren neue Zeiten, tapfere (vielleicht nicht ganz so sehr in ihrem Fall) Post-Liv-Zeiten.
»Warum willst du eigentlich, dass die Jungs mitkommen?«, hatte Anna mit einem Gesicht gefragt, als bisse sie in eine Zitrone. »Können wir denn gar nichts mehr ohne sie unternehmen? Wie nur mal unter uns in Urlaub fahren?«
In letzter Zeit sah Anna – die schöne, leidenschaftliche, leichtsinnige Anna – ziemlich oft so aus, als bisse sie in eine Zitrone. Mia hatte schon begonnen, sich zu fragen, ob dieser verbitterte Ausdruck sich allmählich setzte, und das bereits mit neunundzwanzig. »Klar können wir das«, sagte Mia, die sich plötzlich schämte, »es war nur eine Idee.« Und so beschlossen sie, zu einem reinen »Mädchenwochenende« nach Venedig zu fahren, während die Jungs nach Vegas fliegen würden, um eine der Aufgaben zu erfüllen, die Norm gezogen hatte: Vegas, Baby! Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Norm das große Los gezogen.
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Mia war nach wie vor entschlossen, sich zu amüsieren und diese Reise zu einem echten Tribut an Liv zu machen. Bisher wäre sie mit ihnen zufrieden, das wusste sie: Prosecco zum Frühstück, eine Gondelfahrt danach …
»Okay, Leute«, sagt sie, »was wir jetzt noch brauchen, ist ein Eis.«
»Mm, am liebsten Erdbeer und von ihm serviert«, sagt Melody und deutet mit dem Kopf auf Lorenzo, der ihnen den Rücken zugedreht hat und die obligatorische Gondoliere-Tracht mit gestreiftem Oberteil und steifem, rundem Strohhut trägt. »Im Ernst, Mädchen – seht euch doch nur mal diesen sensationellen Knackarsch an!«
Mia und Anna wechseln einen Blick, Anna über den Rand ihres Handbuchs Buddhismus fürs Leben, das sie wegen ihrer erst kürzlich erwachten, angeblich jedoch »lebenslangen« Leidenschaft für den Buddhismus am Flughafen gekauft hat.
Schon seit ihrer Ankunft gestern Abend hat Melody mit diesen bizarren, übersexualisierten Bemerkungen begonnen und benutzt Worte wie »Knackarsch« und »sensationell«, als hätte der bloße Aufenthalt im Land der Romantik und Liebe sie plötzlich in eine läufige Hündin verwandelt. Oder in eine Joan Rivers.
Mia würde es nicht stören – Gott, bei diesem Urlaub fühlt sich alles wie Vergangenheitsbewältigung an, und wenn sie sich als 50er-Jahre-Filmstar sehen will, sollte Melody ruhig Joan Rivers sein –, aber es ist einfach nur so völlig untypisch für sie. Melody hat immer nur Augen für Norm gehabt, und als Norms Freundin erschrickt Mia und würde am liebsten jedes Mal »He!« schreien, wenn Melody Bemerkungen zum »Knackarsch« irgendeines Kellners macht. Es stimmt sie traurig, weil es nur ein weiteres Anzeichen von vielen in den letzten Monaten ist, dass nicht alles in Ordnung ist zwischen den beiden, von denen jeder glaubte, sie würden ihr Leben lang zusammenbleiben. Und wenn Norm und Melody, die schon auf dem College ein Paar waren, es nicht schafften, welche Hoffnung bestand dann noch für alle anderen?
Gerechterweise muss Mia zugeben, dass auch Norm wahrscheinlich nicht allzu viel an seine Frau denkt, da er in Vegas inzwischen vermutlich schon bankrottgegangen oder verhaftet worden ist. Sie stellt sich die Jungs am Pokertisch vor, einen Jack Daniels neben sich, sieht die Mädchen in ihrer Gondel und lacht im Stillen, weil dies alles so klischeehaft ist! Und wer hätte gedacht, dass der Grund ihres Hierseins von einem Klischee so weit entfernt ist, wie er es nur sein kann: dass sie nicht auf einem Damen- oder Herrenurlaub waren, sondern einer toten Freundin Tribut zollten. Doch dieses Wochenende wird etwas Besonderes. Mia hat nicht ihren Sohn bei seinem Vater gelassen und ihre Ersparnisse geopfert, damit es das nicht wird …
»Was glaubt ihr, was die Jungs gerade tun?«, fragt sie in dem Versuch, die Stimmung ein wenig aufzuheitern.
»Trinken«, erwidert Anna, ohne von ihrem Buch aufzuschauen.
»Oder einander in einem Elvis-Kostüm in der Little Chapel of Love ihre Liebe gestehen?«, fügt Mia hinzu.
Anna kichert. »Ich kann mir Norm sehr gut in einem Elvis-Anzug vorstellen, besonders mit seinen Koteletten«, sagt sie. »Bei Fraser bin ich mir allerdings nichts so sicher, wie er in weißen Satinhosen mit Schlag aussehen würde.« Dann machen beide eine Pause, als erwarteten sie auch von Melody eine witzige oder liebevolle Bemerkung, doch sie verdreht nur mit dem ganzen Charme einer leidgeprüften Ehefrau die Augen und murmelt: »Andrew« (so nennt sie ihn neuerdings, was sie früher nie getan hat, da war er immer Norm für sie) »wird mit einem Hitzschlag im Bett liegen. Ich habe ihn gewarnt, dass er mit der Hitze in Las Vegas nicht zurechtkommen wird. Er konnte noch nie Hitze vertragen.«
Bisher lässt Melodys Verhalten darauf schließen, dass sie den armen Norm keineswegs vermisst, sondern höchstens froh ist, ihn für ein paar Tage los zu sein.
Aber vielleicht ist es nur »Übertragung«, denkt Mia. Es ist ein Wort, das Valerie einmal benutzte, die Therapeutin, von der sie nach Livs Tod behandelt wurde und dann als Eduardo sie verlassen hatte, und das Mia zurzeit sehr häufig anwendet. Die Tatsache, dass es eine Bezeichnung dafür gibt, hilft ihr, sich irgendwie besser zu fühlen. Denn das Problem ist, dass sie Billy nicht vermisst. Nicht wirklich. Und zu was für einem Menschen oder was für einer Mutter macht sie das?
»Oh, du wirst dich schrecklich fühlen, wenn du ihn zurücklässt!«, hatten Jo und Tamsin ihr gesagt. Die beiden sind Mütter aus ihrer Spielgruppe für Mutter und Kind, bei der Mia sich kürzlich angemeldet hat. Allerdings bezweifelt sie, ob diese Entscheidung richtig gewesen ist, denn beim ersten Mal, als sie mit Billy hinging, brüllte er wie am Spieß, und beim zweiten Mal warf er einem anderen Kind einen Bauklotz an den Kopf.
»Ich habe Daisy noch nie über Nacht bei jemand anderem gelassen«, hatte Tamsin hinzugefügt.
Und warum zum Teufel nicht?, hätte Mia fast erwidert. Schließlich hast du einen kostenlosen Babysitter, der bei dir lebt. Das ist etwas, was sie nicht versteht: verheiratete Mütter, die nie ausgehen und sich pausenlos darüber beklagen. Wenn sie jemanden hätte, der unter ihrem Dach lebte, wäre sie jeden Abend unterwegs.
Um noch eins draufzusetzen, hatte auch ihre Mutter Mia noch Schuldgefühle eingeflößt, und zwar auf ihre entnervend subtile Weise. »Oh, du wirst ihn doch nicht allein lassen, oder?«, hatte sie in diesem »Der arme kleine Junge«-Ton gesagt. Es machte Mia rasend. Wie oft hatte ihre Mutter sie bei ihrer Großmutter oder bei Tante Gill gelassen, manchmal für ganze vierzehn Tage an einem Stück, damit sie mit dem Typen, mit dem sie gerade herummachte, in Urlaub fahren konnte? Oder an wie vielen Wochenenden hatte Mia als Kind draußen vor einem Pub gesessen und unzählige Gläser Limonade in sich hineingeschüttet und Tüten Chips verputzt, während sie darauf gewartet hatte, dass ihre Mutter sie nach Hause brachte?
Noch ärgerlicher sogar als alles andere ist, dass es funktioniert hat und sie sich tatsächlich schuldig fühlt; sie hat Gewissensbisse, weil es ihr keine Gewissensbisse bereitet hat, Billy zurückzulassen – sie konnte ja nicht einmal schnell genug aus der Tür herauskommen!
Eduardo hatte sie angesehen, als ließe sie ihn ohne Proviant am Fuße des Mount Everest zurück. Aber sie dachte nur: Dein Pech, Freundchen! Wenn ich das zehn Monate hingekriegt habe, kannst du es verdammt noch mal zumindest für ein Wochenende! Als sie endlich aus dem Haus kam, um den Zug zum Flughafen zu nehmen, hatte sie sich noch nie leichter und unbeschwerter als in diesem Augenblick gefühlt. Sich einen Kaffee zu kaufen und ihn trinken zu können ohne Furcht, dass ihr Baby ihn umstoßen und sich verbrennen könnte, oder einfach mal eine Stunde dasitzen zu können, ohne aus Das ist nicht mein Traktor vorlesen zu müssen, ist geradezu fantastisch!
Natürlich sorgt sie sich, ob es ihrem Baby bei seinem nichtsnutzigen Vater gut geht. Ob er daran denken wird, dass der Kleine mehrmals am Tag gefüttert werden muss? Oder ob er merken wird, dass Billy nur wie ein Irrer schreit, weil er müde ist? Doch wenn sie ehrlich sein soll, kommen ihr diese Gedanken eher selten, weil sie frei ist! Zum ersten Mal seit beinahe einem Jahr ist sie frei, und hier zu sitzen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen fühlt sich echt … unglaublich an!
Und abgesehen davon ist es auch der Test. In den letzten paar Monaten hat Mia Eduardo eine Chance gegeben. Tief im Innersten macht sie sich Sorgen, dass das vielleicht die schlechteste Idee war, die sie jemals hatte, aber bisher hält sie sich daran, weil sie jemanden braucht und eine Familie haben möchte. Sie hat es satt, eine alleinerziehende Mutter zu sein. Das ist weder cool noch romantisch, sondern verdammt ätzend, und vielleicht braucht sie ja nur zu Zugeständnissen bereit zu sein und sich damit abzufinden, dass Eduardo nie perfekt sein wird.
Fraser scheint auch Kompromisse zu machen – große sogar, wie Mia findet. Wann immer sie ihn im letzten Monat angerufen hat, war er mit Karen auf dem Weg zu einer Hochzeit, kam gerade mit ihr vom Salsa-Unterricht zurück oder fuhr mit ihr zu diesem gottverlassenen Milton Keynes hinaus, um etwas abzuholen, das Karen bei eBay gekauft hatte. Es ist Wahnsinn. Der reinste Wahnsinn! Wenn Liv es sehen könnte, wäre sie sprachlos, weil Karen ihr so unähnlich wie nur was ist. Seit Wochen schon muss Mia sich auf die Zunge beißen, um nicht herauszuplatzen: »Ist das dein Ernst, Fraser, dass Karen dich glücklich macht?« Eine zweiundvierzigjährige Frau, die für Delfine schwärmt, Herrgott noch mal? Da Fraser jedoch deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass Karen ein wunderbarer Mensch ist und er endlich erwachsen wird und Kompromisse zu machen lernt, sagt Mia sich: Halt den Mund, Mädchen! Halt dich zurück und kümmere dich um dein eigenes Leben! Seins geht dich nämlich überhaupt nichts an. So wie es auch nicht seine Sache ist, was sie und Eduardo tun. Es gibt neuerdings also viele Grenzen, was ihre Gespräche mit Fraser angeht, und viel mehr Small Talk zwischen ihnen als früher.
Melody beugt sich vor und tut so, als legte sie die Hände um Lorenzos Po, und Anna schnalzt verächtlich mit der Zunge. Früher wäre sie die Erste gewesen, die Gondolieri interessiert beäugt. Mia beobachtet sie und fragt sich wie so oft in letzter Zeit, ob sie ihre Freundin überhaupt noch kennt. Oder je gekannt hat. Sie waren schließlich immer alle zusammen aufgetreten, als Clique oder »Sechsergruppe« sozusagen. Aber nun, da Liv, das Herz der Clique, nicht mehr lebt, ist sie zersplittert, und plötzlich müssen sie als Einzelpersonen Zugang zueinander finden. Mia ist sich jedoch nicht sicher, ob sie eine Beziehung zu Anna als Einzelperson hat. Das stimmt sie traurig und bereitet ihr irgendwie auch ein schlechtes Gewissen.
Natürlich hatten sie immer Spaß miteinander gehabt – in puncto Spaß, Abenteuer oder interessante Geschichten konnte man stets auf Anna zählen; aber was tiefer gehende Dinge anging? Mia fragt sich allmählich, ob Anna nur mit Liv ihre geheimsten Gedanken und Zweifel geteilt hatte. Liv hatte Anna sehr nahegestanden und sich immer ganz besonders angestrengt, ihre komplizierte Freundin, die einen manchmal zur Raserei bringen konnte, zu verstehen. Als Livs beste Freundin hat Mia das Gefühl, jetzt diese Rolle übernehmen zu müssen, doch leider glaubt sie nicht, dass sie der Aufgabe gewachsen ist. Trotzdem beschließt sie nun, es zumindest zu versuchen.
»Wie ist dein Buch, Spanner?«, fragt sie heiter. »Vielleicht kannst du mir ja beibringen, im Moment zu leben.«
»Erstaunlich. Wirklich faszinierend. Es wirft ein völlig neues Licht aufs Leben, wenn du verstehst, was ich meine.«
Nicht wirklich, dachte Mia, aber sie lächelt ihrer Freundin zu, die völlig in ihr Buch vertieft ist.
Anna ist eine Frau voller Gegensätze und Extreme, und Mia vermutet, dass dies ihre Methode ist, ihr Übermaß an Sex und Sinnenlust in all ihren Formen (wie vorauszusehen, war seit Livs Geburtstagsfeier kein Wort mehr über Ollie gefallen) mit gesundheitsbezogenen Hobbys wie Schröpfen, Entspannungsflotation oder, wie jetzt, Buddhismus auszugleichen. Eine der Aufgaben auf Livs Liste, die Anna gezogen hat, ist Meditieren lernen, und da sie keine halben Sachen macht, hat sie seitdem begonnen, in einem nahen Kloster an »Schweige«-Wochenenden teilzunehmen. Sie ist viel mit einem Meditationsguru namens Steve zusammen – ein Name, den Mia nicht gerade mit »Chakra« oder derlei Dingen in Verbindung bringen kann.
Aber Mia ist froh, dass Anna ein Ziel im Leben hat. Ihre Arbeit bei einem Zeitarbeitsunternehmen gibt ihr schließlich nicht gerade viel davon. Anna scheint unfähig zu sein, etwas zu finden, das sie begeistert (und sie kann auch nicht einfach nur einen Job finden, es muss schon einer sein, der »ihre Welt in Flammen setzt«). Es ist nur so, dass diese neue spirituelle Richtung Mia zu extrem erscheint, sogar für Anna. Was ist aus der kessen, respektlosen Anna Spanner von früher geworden? Aus der leichtsinnigen, frechen Anna, die schon bei der bloßen Vorstellung zu meditieren die Augen verdreht hätte?
Lorenzo fährt weiter, und Mia staunt über ihre Umgebung und nimmt sie so begierig in sich auf, als wäre dies nach jahrelangem Gefängnisaufenthalt ihr erster Ausflug in die frische Luft: das funkelnde, jadegrüne Wasser, die hölzernen Landungsstege mit den daran festgemachten Gondeln, die wie Reihen von Aladins Schuhen aussehen. All das erscheint so unwirklich wie ein Gemälde. Hin und wieder hat sie den Eindruck, ein Déjà-vu-Erlebnis zu haben: Ein Bild erscheint vor ihrem inneren Auge von ihnen allen beim letzten Mal, als sie hier gewesen waren und in einer Gondel gesessen hatten. Es ist jedoch weniger ein Bild als vielmehr ein Gefühl von irgendwas: der Festigkeit ihrer damals noch neunzehnjährigen Schenkel in den abgeschnittenen Jeans, dem Geräusch von Livs gackerndem, völlig ungeniertem Lachen, von Anna, die ihr Aussehen in dem glänzenden Wasser überprüfte, während alle anderen so taten, als bemerkten sie es nicht. Wo war diese eitle Anna geblieben? Mia will sie zurückhaben.
»Liv würde es gefallen, was wir für sie tun«, bemerkt sie plötzlich und denkt: Nimm dich zusammen! Du darfst nicht zu sentimental werden. »Sie wäre sehr beeindruckt von uns Mädchen, glaube ich. Wirklich sehr beeindruckt.« Und dann, ohne einander etwas sagen zu müssen, legt Anna ihr Buch weg, und Melody steht auf, um sich zwischen die beiden zu stellen. Für ein paar Sekunden halten sie sich in feierlichem Schweigen an den Händen, bevor sie es schließlich nicht mehr aushalten und in schallendes Gelächter ausbrechen, ohne zu wissen, warum.
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Den Nachmittag vertreiben sie sich auf angenehme Weise im Guggenheim-Museum, wo Anna Stunden damit verbringt, jedes einzelne Wort auf den Informationstafeln zu lesen. Melody und Mia hingegen verziehen sich irgendwann in den Souvenirshop, um Ansichtskarten zu kaufen und in den Kunstbänden zu schmökern.
Wie schön!, denkt Mia. Wie lange ist es her, dass ich auch nur etwas annähernd Kulturelles getan habe? Wann habe ich zum letzten Mal einen Blick in ein Buch geworfen, das nicht wasserdicht ist oder Geräusche von sich gibt? Sie genießt das Gefühl; sie kann praktisch spüren, wie sich ihr Geist erweitert, als das Handy klingelt.
Mia meldet sich, und das Einzige, was sie hört, ist Billy, der wie verrückt schreit.
»Eduardo?« Ihr dreht sich der Magen um. »Eduardo? Bist du da? Was ist mit Billy?«
Sie vernimmt ein knisterndes Geräusch, dann ein noch lauteres Geschrei, und ihr geht auf, dass Eduardo das Telefon an Billys Ohr gehalten hatte.
Schnell verlässt sie den Museumsshop und Melody. »Eduardo! Antworte! Warum schreit Billy so?«
Eine lange Pause entsteht, als Billy tief Luft holt, worauf ein ohrenbetäubendes Geheul folgen wird, wie Mia weiß.
»Er vermisst seine Mama«, sagt Eduardo.
Mia steht vor dem Guggenheim-Shop und spürt, wie das Blut ihr in die Wangen schießt.
»Er vermisst seine Mami, nicht, Billy?«, fragt Eduardo.
Mia seufzt. Sie ist wütend, weil eine fürchterliche Mischung aus Schuldbewusstsein, Zorn und Sorge sie erfasst. »Das ist nicht fair, Eduardo. Was soll ich hier dagegen tun?«
»Keine Ahnung«, antwortet er. »Aber das geht schon seit Stunden so. Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte.«
»Seit Stunden?«, ruft Mia alarmiert.
Das Weinen hört nicht auf, und sie verspürt ein scharfes Ziehen im Herzen, ein überwältigendes Bedürfnis, die zarte Haut ihres Sohnes zu berühren, ihn an sich zu drücken und ihn zu riechen.
Ratlos reibt sie sich die Stirn. »Hat er seinen Mittagsschlaf gehabt?«, fragt sie. »Er ist müde; dieses Weinen ist ein müdes. Oder vielleicht ist er krank? Hast du seine Stirn berührt? Befühl seine Stirn! Eduardo, ist sie heiß?«
Mia war immer stolz darauf gewesen, keine überfürsorgliche Mutter zu sein, aber sie war auch noch nie Hunderte von Kilometern entfernt gewesen und außerstande, Billy zu helfen.
Der Kleine heult und heult. Er ist hysterisch, völlig außer sich, und Mia muss das Telefon für einen Moment vom Ohr wegnehmen, weil sie es nicht mehr ertragen kann, ihn so weinen zu hören.
»Ich muss jetzt Schluss machen«, vernimmt sie Eduardos schmollende Stimme über den Lärm hinweg, als sie das Handy wieder ans Ohr hält. »Ich werde das schon irgendwie hinkriegen – viel Spaß noch, ja?«
Mia sagt: »Okay …« Und dann: »Gib ihn mir, Eduardo, lass mich mit Billy sprechen!«
Das Weinen lässt ein wenig nach, als Eduardo seinem Sohn das Telefon ans Ohr hält.
»Hey, Billy, Mami hat dich lieb, ja?«, ruft sie. Hat sie ihm das je gesagt? Ihrem Baby? Hat sie es je laut gesagt? »Mummy hat dich ganz doll lieb, und ich bin bald wieder bei dir, hörst du?« Aber Eduardo hat schon aufgelegt.
»Alles in Ordnung?«, fragt Melody, die aus dem Laden kommt, und Mia wendet das Gesicht ab und kämpft gegen den Kloß in ihrer Kehle an.
»Ja, ja, alles in Ordnung«, antwortet sie mit erstickter Stimme. »Doch ich brauche einen Drink, glaube ich. Sollen wir Anna suchen gehen?«
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Gemächlich spazieren die drei durch kopfsteingepflasterte Gassen, die auf malerische Plätze und Straßen voller Designerläden führen, zum Corte del Arsenale, wo sie draußen in der untergehenden Sonne ihr Abendessen einnehmen. Dabei sitzen sie zwei gigantischen steinernen Löwen aus Narnia gegenüber.
Und weil sie alte Freunde sind, sprechen sie nicht über das große Ganze oder darüber, wohin ihr Leben führt (obwohl dies vielleicht genau das ist, worüber sie reden müssten), sondern über Schuhe, Davina McCalls Fitness-CD und natürlich auch immer wieder über ihre gemeinsame Geschichte: wie lustig es war, wenn Liv dies oder jenes tat, oder wie sie alle auf dieser Interrail-Reise in Budapest ihr letztes Geld für Porträts ausgegeben hatten und dann hungern mussten.
»Ich war nie dünner«, lacht Melody. »Norm hat mich nicht erkannt, als ich zurückkam.«
Ihnen fällt ein, wie Liv einen erschreckenden Anfall von Urlaubsdurchfall bekam und auf der Fähre nach Korfu die Kontrolle über ihren Darm verlor. Sie krümmen sich vor Lachen über diese Anekdote, und für eine Sekunde, eine flüchtige Sekunde lang, sieht Mia ihre Freundinnen wieder so wie früher.
Statt wie geplant ins Hotel zurückzukehren, um zu duschen, sich umzuziehen und hübsch zu machen für ihren Besuch in Harry’s Bar, bestellen sie noch mehr Wein. Liv hätte es sicher auch so gewollt, darüber waren sie sich einig.
»Hm, ich weiß!«, meint Melody plötzlich. »Lasst uns spielen: ›Ich hab noch nie …‹«
Mia schenkt sich nach. Seit Eduardos Anruf ist sie bemüht, sich zu entspannen, und denkt, dass mehr Alkohol ihr dabei helfen könnte. »Haltet ihr das für klug? Ich hab das schon seit Jahren nicht mehr gespielt.«
»Ich auch nicht.« Im Gegensatz zu Mia scheint Melody kein Problem zu haben, sich zu entspannen, und sie ist auch schon ein bisschen angeheitert. »Aber es ist ein Spiel, das Liv erfunden hat, nicht wahr? Deshalb finde ich es nur richtig, es zu spielen. Bist du dabei, Spanner?«
Anna trinkt einen Schluck Wein. »Ja, ich bin dabei.«
»Gut, dann werde ich beginnen«, sagt Melody. »Ich habe noch nie … einen Orgasmus vorgetäuscht.«
Mia setzt ihr Glas ab. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst …«
»Na los, hoch die Tassen!«, befiehlt Melody und zeigt auf Mias Drink. »Diskutier nicht, runter damit, wenn du es getan hast!«
Mia gehorcht und würgt, als der Wein ihr die Kehle hinunterläuft. »Okay, aber trotzdem will ich das geklärt haben. Du sagst, du hättest noch nie einen Orgasmus vorgetäuscht – in deinem ganzen Leben nicht?«
»Noch nie«, bestätigt Melody.
»Wow!«, murmelt Mia beeindruckt. »Wenn ich bei Eduardo noch nie einen vorgetäuscht hätte, wäre ich nicht zum Schlafen gekommen. Norm muss ja echt unglaublich sein.«
Und irgendwie konnte sie sich das auch vorstellen. In konventioneller Hinsicht war Norm zwar nicht der bestaussehende Mann der Welt, doch er hatte etwas – er war lebhaft und optimistisch, eine immer sonnige Präsenz. Und er konnte einen zum Lachen bringen.
Melody stürzt ihren Wein hinunter und verzieht das Gesicht. »Oh, das hat nichts mit Andrew zu tun. Ich bin bloß eine sehr sinnliche Frau.«
Mia und Anna sehen sich an. »Sie ist bloß eine sehr sinnliche Frau«, sagen sie gleichzeitig und brechen prompt in schallendes Gelächter aus.
»Das bin ich!«, beharrt Melody. Wenn sie betrunken ist, fällt es Melody Burgess manchmal schwer, über sich selbst zu lachen. »Norm kann nicht mit mir mithalten; er nennt mich Melody O.«
Oh, oh, dachte Mia. Jetzt ist sie echt betrunken.
»Wann werden wir denn dann die Früchte all eurer harten Arbeit sehen?«, fragt Anna. »Wann werdet ihr einen Mini-Normanton machen? Wir haben lange genug gewartet.«
Melody füllt ihr und Mias Glas auf. »Oh Gott, hört auf! Noch lange nicht. Darauf werdet ihr noch mindestens zwei Jahre warten müssen. Wenn es nach Norm ginge, hätten wir schon morgen einen, er ist geradezu verzweifelt.«
Ein zufriedenes »Ahhh« kommt vom Rest der Gruppe. Norm ist ein Naturtalent, was Babys angeht, einer dieser Männer, zu denen sich kleine Kinder gleich hingezogen fühlen.
»Nein, ernsthaft, es ist wirklich ärgerlich, wie versessen er darauf ist, Vater zu werden. Doch ich habe ihm gesagt, erst in zwei Jahren.«
»Aber Billy braucht einen Spielgefährten«, protestiert Mia. »Ich bin es leid, die Einzige mit einem Kind zu sein. Also beeil dich, Burgess! Ich verlasse mich auf dich.«
»Okay, Zeit für einen Themenwechsel«, stöhnt Melody. »Ich gehe also davon aus, dass ihr beide schon einen Orgasmus vorgetäuscht habt …«
Anna sagt: »Ich glaube, ich hatte überhaupt noch nie einen echten.«
»Was?«, fragten Mia und Melody wie aus einem Munde.
Anna zuckte mit den Schultern. »Mit jemand anderem, meine ich …«
Doch Mia starrt sie noch immer sprachlos an. Von den Mädchen ihrer Clique war Anna stets diejenige, die am häufigsten die Partner wechselte, bei der man sich darauf verlassen konnte, dass sie mit Geschichten von Orgien im Drogenrausch mit neunzehnjährigen Models, von Dreiern, Wochenend-Love-ins mit Millionären und gegenseitigem Rasieren mit einem neuseeländischen Art-Director heimkam. Und bei keinem von all diesen Männern hatte sie einen Orgasmus gehabt?
Dieser letzte Gedanke setzt sich prompt in Worte um. »Dann hat dich also noch keiner von all diesen Typen, mit denen du zusammen warst, dazu gebracht zu kommen, Spanner?«
Wieder zuckt Anna mit den Schultern und steckt sich eine Olive in den Mund. »Wie ich schon sagte: nur ich selbst. Männer haben doch keine Ahnung. Das Beste ist, sich damit abzufinden, dass es keiner besser kann als man selbst, und sich mit den Kerlen gut zu amüsieren. Sie zu benutzen, um herumzukommen …«
Mia fällt die Kinnlade herunter, und Anna zieht eine Augenbraue hoch, wie um anzudeuten, dass Letzteres nur ein Scherz war, aber das überzeugt Mia nicht.
»Wie dem auch sei«, sagt Melody und schlägt auf den Tisch. »Es bleibt dabei, dass ihr beide einen Orgasmus vorgetäuscht habt, also runter mit dem Wein!«
Beide leeren ihre Gläser, und Melody schenkt nach.
»Ich habe noch was«, meint sie. »Etwas richtig Gutes. Ich hab noch nie … einen anderen als Norm geküsst. Okay, ich will es anders ausdrücken: Ich habe noch nie einen anderen Typen aus unserer Gruppe geküsst – das heißt, weder Fraser noch Si oder Andy.« (Die Mitglieder der Fans gehören immer noch zur Clique, obwohl sie heute alle in London leben, verheiratet sind und nur noch bei Hochzeiten und Taufen gesehen werden.)
Eine lange Pause folgt. Mia schüttelt den Kopf und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Ich auch nicht«, sagt Anna schließlich.
»Niemals«, bekräftigt Mia und spürt, wie ihr heiß wird. »Oder höchstens, als ich unter Hypnose stand, doch das zählt nicht.«
»Nein, das zählt nicht«, stimmt Melody ihr zu. »Wie langweilig!«
Aber Mia spürt Annas Blick auf sich.
»Was?«
»Nichts«, antwortet Anna. »Schau mich nicht an!«
»Das war’s dann also schon?«, sagt Melody mit leicht enttäuschter Miene. »Keine hat ein paar saftige Geständnisse? Keine schlüpfrigen Geheimnisse, die sie mit uns teilen möchte …?«
Wieder folgt eine Pause. Mia wird bewusst, dass die Atmosphäre etwas frostiger geworden ist, und lacht nervös. Vielleicht ist sie ja nur paranoid? Sie braucht noch ein paar Drinks. Der Anruf von Eduardo hat sie total nervös gemacht, und das Einzige, was dagegen hilft, ist, sich einen anzutrinken.
»Vielleicht sollten wir dann jetzt zu Harry’s Bar gehen?«, schlägt sie schließlich vor. Aber der geplante Barbesuch fühlt sich schon ein bisschen wie Silvester an – voller Druck, Erwartung und dem unausgesprochenen Wissen, dass er nach dem Wahrscheinlichkeitsprinzip ihre Erwartungen nicht erfüllen wird. Was Mias Anspannung nur noch erhöht.
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Harry’s Bar ist wirklich nicht das, was sie erwartet hatte, muss Mia zugeben. Sie weiß nicht, was sie eigentlich erwartet hatte – den Internetbildern nach vielleicht mehr eine Art Jazz-Bar, schmuddeliger, lauter und verqualmter, doch so ist dieses Lokal nicht. Es ist klein und ziemlich nichtssagend, mit einem Hauch von Kreuzfahrtschiff-Ambiente mit seinen vertäfelten Wänden, dem Marmorboden und den Schwarz-Weiß-Fotos von italienischen Berühmtheiten, die zu Gast in dieser venezianischen Institution gewesen waren. (Mia kennt übrigens keinen von ihnen.) Steife Kellner in elfenbeinfarbenen Dinnerjackets und mit Schleife servieren auf Silbertabletts die berühmten Bellinis den Gästen, die weitgehend Einheimische zu sein scheinen: mondäne Frauen in Grüppchen, Gondolieri nach dem Ende ihrer Schicht, korpulente Männer mit straff zurückgekämmtem weißem Haar. Und alle reden laut und wild gestikulierend, wie es so typisch für Italiener ist und was den Eindruck entstehen lässt, dass sie sich unablässig streiten.
Nach dem Wein und dem etwas verkrampften Spiel »Ich hab noch nie« verkündete Anna, sie wolle eine Kirche suchen, um ein paar Minuten für sich allein zu haben, zu meditieren und an Liv zu denken, und sie werde später nachkommen. Das war Mia ziemlich seltsam vorgekommen, obwohl sie und Melody natürlich sagten, es sei in Ordnung. Sie waren alle immer schon sehr darauf bedacht zu respektieren, wie ihre Freundinnen mit dem tragischen Ereignis umgingen, das sie in ihren Zwanzigern getroffen hatte.
Aber Mia kann sich nicht entspannen. Sie wird das Gefühl nicht los, Anna verstimmt und daran erinnert zu haben, dass Reisen gut und schön ist, abgesehen davon, dass man sich selbst und andere Leute mitnehmen muss.
Sie muss auch zugeben, dass die berühmten Bellinis eine ziemliche Enttäuschung sind: bloß ein fader, pfirsichfarbener Drink, der in einem winzig kleinen Glas serviert wird, ohne Schirmchen oder Wunderkerze. Melody und sie bestellen trotzdem jede einen, die sie fast fünfzehn Pfund ärmer machen.
Zwei Italiener auf der anderen Seite des Ganges taxieren sie, und Mia sieht, wie sie aufstehen und zu ihnen herüberkommen.
»Mist, verdammter!«, flüstert sie Melody zu.
»Wieso? Sie sehen doch nett aus.«
Melody, die mittlerweile ziemlich betrunken ist, wirft ihr Haar zurück, lässt einen ihrer Spaghettiträger, die einen Touch zu lässig sind für einen Ort wie diesen, von der Schulter fallen und winkt den Männern zu.
»Ciao. Engländer?« Mia sinkt das Herz, als einer von ihnen, eine große, weltmännische Erscheinung, sich neben sie setzt und sein viel kleinerer, aber netterer und hübscherer Freund neben Melody Platz nimmt.
»Richtig geraten«, antwortet sie und rückt ein wenig von ihm ab, als sie merkt, dass ihre Schenkel sich berühren und sie am Atem des Mannes riechen kann, was er zum Mittagessen hatte.
Melody beugt sich vor, bis ihr sonnengebräunter Busen fast aus ihrem Top herausfällt. »Und Sie sind Italiener, nicht?«, fragt sie. »Ich wusste es! Ich habe es dir ja gleich gesagt, Mia! Ich meine, ich weiß, dass wir in Italien sind, sodass es eigentlich offensichtlich ist und alles …« Sie lacht, nein wiehert, sodass ihre vom Rotwein leicht verfärbten Zähne und teilweise sogar ihre Mandeln zu sehen sind. Mia denkt erschrocken: Oh Gott, ist sie betrunken! »Aber nur die Italiener wissen, wie man sich kleidet, um zu imponieren.«
Der Abend schreitet fort; kein Anzeichen von Anna, und Melody flirtet weiter mit Bruno und Patricio aus Bologna und verwickelt die beiden und Mia in ein albernes und kompliziertes Trinkspiel.
Aber Mia kann sich noch immer nicht entspannen. Sie hat nach wie vor einen Knoten im Magen, und bisher haben sie nicht einmal einen Toast auf Liv ausgebracht oder etwas dazu bemerkt, dass sie hier in Harry’s Bar sind und einen Bellini trinken – genau so, wie Olivia es gewollt hätte. Darum ging es schließlich doch!
Als Bruno und Patricio hinausgehen, um eine Zigarette zu rauchen, beugt Melody sich vor und legt einen Arm um ihre Freundin. »Also, Bruno gehört mir, doch du kannst Patricio haben«, meint sie kichernd, und Mia schafft es irgendwie zu lachen. (Tu so, als hättest du auch einen im Tee!, denkt sie. Versuch wenigstens, so auszusehen, als amüsiertest du dich!) Wieso hat sie keinen Spaß wie Melody? Warum flirtet sie nicht auch mit Bruno und Patricio? Sie hatte schließlich seit Ewigkeiten keine Gelegenheit mehr zu flirten.
Melody bestellt eine weitere Runde Bellinis, was Mia an die riesige Kluft zwischen ihrem Einkommen und dem ihrer Freundin erinnert. Bruno und Patricio kommen zurück, und Melody torkelt von der Bar zurück und stellt die Gläschen auf den Tisch. »Ich kenne noch ein anderes gutes Trinkspiel, Leute!«, verkündet sie.
Und Mia, die das überwältigende Bedürfnis hat, Fraser anzurufen, fragt sich, welche Uhrzeit es jetzt in Las Vegas ist.
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Auf einer Fußgängerbrücke über dem Las Vegas Strip steht Fraser, verschwitzt, alkoholisiert, mit zerrissenem Hemd und blutend.
Es ist Mittag: die mörderische Wüstensonne steht hoch am Himmel. Fraser hat eine Hand am Geländer, in der anderen sein Handy, und er ist völlig von der Rolle, das weiß er, aber er ist nicht mehr in der Lage, sich zusammenzunehmen.
Am liebsten würde er jedem, der ihn zwischen dem Neon und den Palmen in der Vierundzwanzig-Stunden-Party-Stadt hören kann, zuschreien: Hey, das ist wie in den guten alten Zeiten! In den verrückten, schlimmen ersten Zeiten, als ich noch richtig irre war! RICHTIG irre!
In irgendeinem noch vernünftigen Teil seines Hirns, in diesem winzigen Teil, der nach diesem dreitägigen Besäufnis nicht von Alkohol, Zigaretten und dem Himmel weiß was sonst noch verseucht ist, weiß er, dass dies etwas ist, das er selbst verursacht hat, und hasst sich sogar noch mehr dafür. Du Idiot, Fraser!, denkt er. Du gottverfluchter, dämlicher Idiot!
Aber es ist Livs wegen – er wusste, dass das passieren könnte, wenn er hierherkommen würde; er wusste, dass eine dreitägige Sauftour eine sehr schlechte Idee war, doch er kann Liv einfach nicht aus seinem Kopf verbannen. Oder vielmehr sind es gewisse Bilder, die er nicht aus seinem Kopf verbannen kann. Fraser beugt sich über das Geländer, und ihm stockt der Atem, denn da ist sie wieder und liegt mit gebrochenen Gliedern und leeren Augen auf dem Boden. Er hat nie gewusst, ob er es selbst gesehen hat oder ob es ein Bild ist, das er aus dem Fernsehen hat und mit dem sein Hirn ihn quält. Aber früher erschien dieses Bild sehr oft vor seinen Augen, meist in den frühen Morgenstunden, und auch jetzt ist es wieder da, dieses entsetzliche, niederschmetternde Bild, das ihn ins Schwanken bringt und nach Atem ringen und aufschreien lässt. »Liv! Liv! Es tut mir so leid, Liv!«, ruft er, während unter ihm der Verkehr dahinbraust. Er umklammert das Geländer fester und kneift die Augen zu, um die Bilder aus seinem Bewusstsein zu verbannen. Und die Geräusche: die Sirene des Krankenwagens, der furchtbare raue Schrei, von dem er nicht weiß, ob er ihn gehört oder ihn sich eingebildet hat, dann die Walkie-Talkies der Polizei, der Reißverschluss eines Leichensacks, der zugezogen wird. Dann die Leichenhalle des Krankenhauses und der Geruch, der in seiner Kehle kratzt. Und schließlich, inmitten von alldem, der Kuss, der wunderbarste Kuss, den er je erlebt hat. Und trotzdem ist die Erinnerung daran ein Albtraum, weil Fraser heute keinen Zweifel mehr daran hegt, dass Liv ihn beobachtete.
Und so komme ich endlich dazu, meinen Kuss zu beenden …
Sie stehen in der Küche des Ferienhauses und müssen schreien, um die Musik zu übertönen. One of these Mornings von Moby läuft, das weiß er noch genau, und sie drückt ihn an sich, während er in ihre schiefergrauen Augen schaut, deren Pupillen riesengroß und dunkel sind.
Endlich bekomme ich doch meinen Kuss von Mia Woodhouse. Wir haben diesen Kuss nie beendet, nicht? Und wir haben beide nie gewusst, warum …
Fraser kann den Kuss jetzt spüren, die Eindringlichkeit darin und seine und ihre schnellen, flachen Atemzüge, als sie sich an ihn schmiegte und schier mit ihm verschmolz. Er will das Gefühl genießen, doch dann erinnert er sich an das Fenster, das offene Fenster der Küche des Ferienhauses, und an den Duft der riesigen rosa Blüten draußen. Sie waren überall auf Ibiza, und er hatte diese Blumen auch in Vegas gerochen, im Garten des Hotels und Casinos Venice, und fast musste er sich übergeben, weil er ihretwegen plötzlich wieder dort war, in dieser Küche auf Ibiza, wo er Mia küsste und aus dem Augenwinkel Liv auf dem Balkon sah, die mit großen Augen und offenem Mund dastand und ihn direkt ansah.
Fraser zieht die Hände vom Geländer zurück, torkelt die Stufen hinunter und geht zu der rund um die Uhr geöffneten Bar, wo er Norm zurückgelassen hat oder vielmehr vor einer Stunde oder so verloren hat, weil sie beide zu betrunken waren, um zusammenzubleiben. Es ist schon Mittag, und sie haben bisher noch kein Auge zugetan.
Langsam geht Fraser den Strip entlang. Dieser Ort ist keine Hilfe, denkt er, er verwirrt mich nur noch mehr: Wohin er blickt, sieht er den Eiffelturm, Venedig, Cäsars Palast oder weiß der Himmel, was. Überall scheint diese Art von Gebäuden aus dem blendend grellen Tageslicht aufzutauchen. Aber wir sind nicht in Paris, denkt er, und auch nicht in Italien! Das ist bescheuert! Er weiß nicht mehr, was noch real ist, doch er fischt sein Handy aus der Tasche und gibt eine Nummer ein.
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In Harry’s Bar klingelt Mias Telefon in ihrer Handtasche. Sie durchwühlt sie rasch danach: Vielleicht ist es Anna, denkt sie, die kommt, um uns den Abend zu retten. Als sie Frasers Namen auf dem Display sieht, blickt sie sich jedoch schnell nach dem Eingang um und geht hinaus.
»Fraser?« Sie hält sich ein Ohr zu, um den Lärm aus der Bar zu dämpfen, vernimmt jedoch nur Rauschen und das Brüllen des Verkehrs vom anderen Ende der Verbindung.
»Fraser?«, sagt sie wieder. »Ist alles in Ordnung, Fraser?«
»Ich hab’s versaut«, ist alles, was sie hört. »Versaut, Mia! Total versaut!«
Sie schluckt, weil ihr plötzlich übel wird, und geht von der Bar zum Kanal und zu den flackernden Lichtern hinüber. »Was hast du versaut, Fraser? Wo bist du? Sprich mit mir!«
Fraser schluchzt. Sie kann die Worte dazwischen kaum verstehen. Aber sie hört »Liv« und »Kuss« und weiß Bescheid.
»Sie hat’s gesehen!«, sagt er. »Ich weiß, dass sie’s gesehen hat! Und damit hab ich’s versaut, Mia«, wiederholt er. »Unser Leben, ihr Leben, alles!«
Mia schließt die Augen. Am anderen Ende der Leitung hört sie das herzzerreißende Schluchzen ihres besten Freundes.
»Fraser. Ich will, dass du jetzt tief durchatmest, hörst du?«
»Sie hat’s gesehen. Gesehen, Mia!« Wieder ist das das Einzige, was er sagt, und Mia gerät plötzlich in Panik. So schlimm war es noch nie bei ihm; so völlig außer Kontrolle hat sie ihn noch niemals gehört.
»Das kannst du nicht wissen«, erwidert sie und bemüht sich um einen leisen, beschwichtigenden Ton. »Du weißt es nicht, es ist nur dein Verstand, der dir einen Streich spielt. Niemand weiß genau, was in jener Nacht geschehen ist. Wir alle müssen damit leben, dass wir es nicht wissen.«
Sie hört nur noch sein Schluchzen über den Verkehrslärm hinweg und neben sich das sanfte Plätschern von Wasser.
»Fraser, hör mir zu«, sagt sie schließlich. »Wo ist Norm?«
»Keine Ahnung. Ich hab ihn vor einer Ewigkeit verloren. Aber es ist alles kaputt, das ist das Einzige, was ich weiß, und es ist alles meine Schuld …«
Es vergehen mindestens zehn Sekunden, bevor sie wieder spricht. »Ich war auch dort, Fraser«, erinnert sie ihn, aber die Verbindung ist schon tot.
»Fraser?«, sagt sie wieder, diesmal leicht verärgert. »Fraser? Sprich mit mir!« Doch da ist nichts mehr, nur das Signal, das verkündet, dass das Gespräch unterbrochen ist.
Sie steht dort und starrt in das schwarze Wasser unter sich. Ihr erster Gedanke ist: Ich muss Norm anrufen! Der zweite ist der Kuss, der Kuss … Er hat nie gesagt, wie er darüber dachte!
Als sie schließlich in Harry’s Bar zurückkehrt und sich umsieht, stellt sie zu ihrem Schrecken fest, dass Melody, deren Träger inzwischen schon beide von ihren Schultern baumeln, die Arme um Bruno geschlungen hat und in einer Ecke heftig mit ihm herumknutscht.