Es war nach jenem denkwürdigen Abend in Frasers, Melodys und Norms Studentenbude mindestens ein Monat vergangen, bevor sie Fraser wiedersah. Ein Monat, seit sie der Übernahme von Sara Moussakas »Krone«, um Mia Moussaka zu werden, gerade noch entkommen war. Die Weihnachtsfeiertage waren gekommen und gegangen, und Mia hatte sie deprimiert, beschämt und gekränkt daheim in Chesham verbracht.
Sie hatte gedacht, ja gehofft, dass es ein Date war, hatte wochenlang ihr Outfit geplant, und Fraser hatte es nur als Möglichkeit gesehen, bei seiner guten Freundin frech zu werden?
Die gute alte Mia, immer für einen Spaß zu haben. Oder einen Kuss. Ha! Was sie anging, konnte Fraser zum Teufel gehen! Sie würde ganz bestimmt nicht seine Bettgefährtin werden. Das hatte noch nie bei ihr auf dem Programm gestanden.
Das Schlimmste war, dass sie weder mit Anna noch mit Liv darüber reden konnte, weil es ihr viel zu peinlich war. Sie hatten sie ohnehin schon gnadenlos mit ihren und Frasers kleinen Einkaufstrips zum Großhandelsmarkt Asda aufgezogen.
»Ihr geht schon wieder shoppen? Ja, natürlich tut ihr das, Woodhouse! Euch im Taxi in Stimmung bringen, fummeln zwischen den Tiefkühltruhen, PETTING AN DER GEFLÜGELTHEKE?« Ihre »rasend komischen« Spitzen hatten keine Grenzen gekannt.
Natürlich schüttelte Mia den Kopf und verdrehte die Augen, doch insgeheim hatte sie vermutet, dass sie vielleicht nicht völlig unrecht hatten. Vielleicht stand Fraser auch auf sie? Er müsste doch eigentlich auch die sexuelle Spannung zwischen ihnen spüren, so elektrisierend, wie sie war! Vor allem die Rückfahrten im Taxi, wo nur zwei Riesentüten Reis ihre Hände davon abhielten, sich zu berühren, wurden langsam mehr, als Mia ertragen konnte.
Aber während sie von einer gemeinsamen Zukunft zu träumen gewagt hatte, von etwas ganz Besonderem zwischen ihnen, sah er sie ganz eindeutig nur als »gute Freundin«, die er nicht aus seinem Bett geworfen hätte, wenn sie gelegentlich zusammen darin gelandet wären (was zum Glück nie geschehen war. Wenigstens diese Demütigung hatte sie sich erspart).
Das Ärgerlichste war, dass sie so lange gebraucht hatten, um an diesen Punkt zu gelangen. Oder zumindest an den Punkt, an dem Mia mit ihm zu sein geglaubt hatte. Sie waren jetzt im vierten Semester. Am dritten Tag des ersten Semesters hatten sie sich kennengelernt, nur leider nicht auf irgendeinem glamourösen Uni-Ball, sondern als Mia ihm, hypnotisiert und nach rohen Zwiebeln schmeckend, um den Hals gefallen war und ihn geküsst hatte. Bei einer Feuertaufe, um das Mindeste zu sagen.
Danach, als ihre Freundinnen sich einen Spaß daraus gemacht hatten, sie auf dem ganzen Campus bloßzustellen, war Mia so beschämt gewesen, dass sie Fraser fast das ganze erste Jahr aus dem Weg gegangen war. Es war zu einem Dauerscherz zwischen ihr, Liv und Anna geworden: »Duck dich, Mia!« Und dann hatten sie gelacht. »Da ist der Typ, dem du dich an den Hals geworfen hast.« Einmal waren sich ihr und Frasers Blick in der Mensa begegnet, und sie hatte buchstäblich durch ihn hindurchgesehen, als wäre er gar nicht da.
Vermutlich dachte er, sie sei verrückt.
Mia konnte schon nicht mehr zählen, wie oft jemand zu ihr gesagt hatte: »Bist du nicht dieses Mädchen, das in der Erstsemester-Woche unter Hypnose diesen Typen abgeknutscht hat?« Sie schützte immer vollständigen Gedächtnisschwund vor, befürchtete im Grunde jedoch, dass man ihr das nie vergessen würde. Sie war voll und ganz bereit, ihr gesamtes Studentenleben damit zu verbringen, dem Typen mit dem welligen dunklen Haar und den schönen blauen Augen aus dem Weg zu gehen. Aber eines Tages, kurz vor Ende des zweiten Semesters, landeten sie zusammen in einem Lift. Mia erinnerte sich, gedacht zu haben, dass das der Stoff romantischer Komödien mit Cameron Diaz in der Hauptrolle war, nur dass sie, Mia Woodhouse, keine Beine bis unter die Arme hatte, ja nicht mal Camerons urkomische, drollige, anbetungswürdige Art. Nur eine Tendenz, Fremden um den Hals zu fallen.
»Entschuldige die Frage, aber bist du nicht …?«, begann Fraser.
Mia sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an.
»Dieses Mädchen«, schloss er mit einem ermutigenden Lächeln. Einem breiten, ansteckenden Lächeln, bei dem Mia sich schon ein wenig besser fühlte. So furchtbar beleidigt kann er also nicht gewesen sein, dachte sie.
Trotzdem rückte sie noch immer nicht mit der Wahrheit heraus. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Von diesem Mädchen aus der Erstsemester-Woche«, sagte Fraser. Er hatte schöne Augen, blau und mandelförmig. »Du weißt schon …«
»Nein. Tut mir leid«, unterbrach sie ihn kopfschüttelnd. Gute Vorstellung, Woodhouse!, dachte sie. Vielleicht hätte sie Theater- statt Medienwissenschaften studieren sollen. »Ich will nicht unhöflich sein, doch ich habe wirklich keine Ahnung, was du meinst.«
Der Lift hielt an, und beide stiegen aus. Die Hände in den Hüften, blieb Fraser draußen stehen und musterte Mia von oben bis unten, worauf sie sich ein Kichern nicht verkneifen konnte.
»Mist«, sagte er schließlich. »Du warst wirklich hypnotisiert, oder?«
Mia ließ einen langen Moment verstreichen, bis sie so tat, als fiele nun endlich der Groschen.
»Oh!«, rief sie dann und schlug eine Hand vor ihren Mund. »Oh Gott, Mist! Du bist dieser Typ …!«
»Ja.« Sie war erfreut gewesen, als er noch immer grinste und begeistert nickte. »Ich bin der Glückliche.«
Hatte er »der Glückliche« gesagt?
Für ihre wortreichen Entschuldigungen brauchte sie recht lange: Sie sei nicht völlig verrückt oder habe den männermordenden Vamp oder die Femme fatale gespielt. Sie habe so etwas noch nie zuvor gemacht. Nein, wirklich, normalerweise versuche sie, ein Gespräch mit jemandem zu beginnen, bevor sie ihm die Zunge in den Hals steckte, und Gott, sie kenne ja nicht mal seinen Namen!
»Fraser«, sagte er.
Fraser. Der Name gefiel ihr. Er war irgendwie … sehr untertrieben cool.
»Tja, und ich bin Mia.«
»Hallo, Mia. Normalerweise versuche auch ich, die Namen der Mädchen zu erfahren, bevor wir Speichel austauschen, doch weißt du, das war schon in Ordnung … Ich … ähm … ich nehme an, du hast wahrscheinlich keine Lust auf eine Tasse Kaffee?«
Aus dem Kaffee wurde ein Bier, dem noch ein weiteres folgte, bevor sie einen Bus in die Stadt nahmen, wo sie ins Sugarhouse gingen, um wild zu Pulp and the Soup Dragons zu tanzen.
Und Mia fühlte sich frei. Sie fühlte sich frei zu tun, was sie wollte, jederzeit. Dieser Fraser Morgan schien ihr jedenfalls dieses Gefühl zu geben. Bei ihm konnte sie wirklich sie selbst sein. Er war ungekünstelt, spaßig und unterhaltsam, aber auch alles andere als oberflächlich. Sie konnten wirklich ernsthaft über Dinge reden, was erheblich mehr war, als sie von allen anderen Typen, denen sie je begegnet war, sagen konnte.
Und so kam es, dass sie Freunde wurden. Fraser stellte Mia Norm und dessen Freundin Melody vor, und Mia machte Fraser mit Anna und Liv bekannt.
Im zweiten Studienjahr zogen sie von Studentenheimen in Wohnungen um: Fraser, Norm und Melody zogen in ein Haus an der South Road und Liv, Anna und Mia in eine Wohnung an der Station Road – die jedoch kaum einen Steinwurf weit voneinander entfernt waren. Natürlich gab es in der Clique noch andere Leute, einschließlich Si und Andy aus der Band, aber die sechs waren der harte Kern, und nach und nach wurden sie schier unzertrennlich. Mia, die schon immer zu einer »Clique« hatte gehören wollen, liebte es und blühte förmlich auf. Endlich hatte sie das Gefühl dazuzugehören.
Und mit der Zeit hatte sie gedacht, dass sie und Fraser etwas ganz Besonderes hatten und er das vielleicht genauso sähe. Aber da hatte sie sich getäuscht. Und jetzt, dachte sie, hatte sie nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder ließ sie ihn fallen und sah ihn nie wieder, oder sie fand sich damit ab und blieb mit ihm befreundet.
Da sie gern mit ihm zusammen war – ach was, sie liebte das Zusammensein mit ihm! –, entschied sie sich für die zweite Option. Es war ohnehin eine dumme Idee, sich an der Uni einen Freund zu suchen, egal, wie reizend Melody und Norm zusammen waren. Ein Kissen kaufendes Pärchen war genug für jede Freundesgruppe. Nein, beschloss Mia, es war besser, frei und ungebunden zu bleiben, das Leben zu genießen und Erfahrungen zu sammeln.
So würde alles viel einfacher sein – und sie nicht mehr verletzt werden.