Mit einem exotischen Fremden schlafen (im Idealfall mit Javier Bardem). Eine Nacht berauschender, überwältigender Leidenschaft: mich in heißen Küssen unter Zitronenbäumen verlieren, angesäuselt von etwas Dickflüssigem und Hochprozentigem, dessen Name ich nicht aussprechen kann.
(* Und dies tun, ohne völlig neurotisch zu werden wegen der Frage, was es »zu bedeuten« hat.)
Mit nichts als einem Handtuch um die Hüften, ging Fraser in Melodys palastartigem Gästezimmer auf und ab und las wieder und wieder die Nummer eins auf Livs Liste.
Ich sollte mich auf die letzte Zeile konzentrieren, sagte er sich. Und dies tun, ohne völlig neurotisch zu werden wegen der Frage, was es »zu bedeuten« hat.
Und es bedeutete ja auch nichts, oder? Es war nur ein Date mit einer attraktiven Frau. Und Emilia war attraktiv. Wahnsinnig attraktiv. Das hatte er gesehen, als er ihr zum ersten Mal begegnet war und sie Schlagball in etwas gespielt hatte, das im Grunde kaum mehr als ein Hipster-Panty war, und dann wieder vor vier Tagen am Silvesterabend, als sie ihn in Mias Küche in eine Ecke gedrängt hatte: »Wie ich höre, bist du wieder ein freier Mann, Fraser? Heißt das, dass ich einen Neujahrskuss von dir bekomme?« Er war bis zur Spüle zurückgewichen, als sie seine Brust betätschelt hatte, und hatte etwas von Herpesbläschen gemurmelt.
Jetzt schüttelte er den Kopf bei der Erinnerung daran und dachte an das Gespräch, das er heute Morgen mit Norm geführt hatte.
»Okay, du hast also ein Date mit der heißesten Frau, die ich je gesehen habe, und scheinst nicht einmal hingehen zu wollen. Du brauchst Hilfe, alter Junge. Professionelle Hilfe.«
Obwohl Fraser vermutete, dass diese Phase sich dem Ende näherte, war Norm noch immer im Universalgenie-Modus, und alle Gelegenheiten, Sex zu haben, mussten mit beiden Händen ergriffen werden.
Natürlich wusste Emilia von der Liste, was andererseits jedoch nicht einmal nötig gewesen wäre, da sie selbst es war, die das Date eingefädelt hatte. Zumindest das belastete nicht Frasers Gewissen, und es war auch kein weiteres Salsa-Unterricht-Szenario, das garantiert mit Tränen einherging. Emilia war ganz sicher nicht der Typ, der weinte. Wahrscheinlich hatte sie in ihrem ganzen Leben noch keine Träne vergossen.
Okay, Mia entmutigte sie auch nicht gerade (warum eigentlich nicht, wenn er es genauer bedachte?). Aber Emilia war keinesfalls verkuppelt worden; sie brannte geradezu auf dieses Date, das konnte jeder sehen.
Doch all das hatte damals im August begonnen, und seitdem hatten die Umstände eine drastische Veränderung erfahren. Zunächst einmal war Fraser heute wieder Single, was die ganze Situation bedeutend komplizierter machte. Die Aufmerksamkeiten einer rattenscharfen Brasilianerin waren eine Sache – die tatsächliche Möglichkeit, mit ihr Sex zu haben und mit Haut und Haaren von ihr verschlungen zu werden, dagegen eine völlig andere. Außerdem war auch Mia wieder Single, was unerwartet Sand ins Getriebe gestreut hatte. Fraser wurde das Gefühl nicht los, dass die Sache mit Emilia Verrat war – aber er wollte und brauchte sich nicht wie ein Verräter vorzukommen. Denn wen verriet er schon damit? Mia? Sich selbst? Liv? Verdammt, er wusste einfach nicht mehr, was er denken sollte!
Er nahm das Hemd, das er tragen würde – ein olivgrünes von French Connection, das Karen ihm gekauft hatte und das ihm sogar gefiel. Er legte es auf das Bügelbrett und fragte sich, was Karen wohl sagen würde, wenn sie ihn jetzt sehen könnte. Unwillkürlich dachte er an jenen Novemberabend, als sie auf ihrer Straße gestanden und ihm den klügsten Rat gegeben hatte, den er je von ihr erhalten hatte: »Spiel nicht nur mit ihr, okay? Das hast du mit mir getan, aber tu es bitte nicht bei ihr …
Misch dich nicht in ihr Leben ein, solange dein eigenes noch so chaotisch ist.«
Oh ja, und seht ihn euch jetzt an! Da war er im Begriff, zu einem Date mit einer dreiundzwanzigjährigen, eigentlich wildfremden Brasilianerin zu gehen. Er bezweifelte, dass es das war, was Karen gemeint hatte, als sie ihm geraten hatte, erst sein Leben zu ordnen und mit sich ins Reine zu kommen.
Aber andererseits handelte es sich hier um eine AUFGABE, und er konnte es nicht ändern, dass er es war, der mit einem exotischen Fremden schlafen aus dem Hut gezogen hatte, oder? Die Regeln waren die Regeln. Sie waren alle am Silvesterabend bei Mia gewesen (mit Ausnahme von Norm, der mit ein paar »neuen Freunden« bei der Metro Ski laufen gewesen war) und hatten einen Pakt geschlossen. Sie hatten gewissermaßen »ihre Gelübde erneuert«. Offensichtlich waren alle betrunken und gefühlsselig gewesen und hatten Liv wie verrückt vermisst, weil Silvester war. Jedenfalls hatten sie sich im Laufe des Abends erneut geschworen, mit der Liste weiterzumachen und sich weder durch Tod noch durch Teufel davon abhalten zu lassen.
Inzwischen war es Januar und nur noch zwei Monate bis zu dem Tag, an dem Liv dreißig Jahre alt geworden wäre. Sie waren es ihr schuldig, wenigstens zu versuchen, ihre Aufgaben zu erfüllen, selbst wenn sie sich, wie in Frasers Fall, im Grunde nicht einmal sicher waren, warum sie sich noch darum bemühten.
Fraser nahm seine Brieftasche und zog das Foto von Liv heraus. Er lächelte sie an, und Liv in ihrem schrulligen kleinen Dienstmädchen-Outfit schien ihm zuzuzwinkern.
Das ist alles deine Schuld, weißt du? Du und deine geheimen sexuellen Fantasien von diesem Javier Soundso.
Blödmann.
Die hast du schön für dich behalten, was?
Und deshalb sah er sich jetzt gezwungen, gegen seinen Willen »eine Nacht berauschender Leidenschaft« mit einer exotischen Fremden zu verbringen und »unter Zitronenbäumen herumzuknutschen«. Er steckte das Foto wieder in die Brieftasche und besprühte sich großzügig mit Aftershave. Dabei fragte er sich, was in Lancaster Zitronenbäumen entsprechen könnte, die hier natürlich nicht wuchsen: sich in die hinterste Ecke von Brook’s Nightclub zu verkriechen und zwischen leeren Gläsern herumzuknutschen? Er erschauderte bei dem Gedanken.
Nein, er musste es nehmen wie ein Mann, wie ein echter, heißblütiger Mann. Er stellte das Radio lauter, als Kate Perry sang: »Ich küsste ein Mädchen, und ich mochte es …« Und er würde es auch mögen. Er würde es auf Teufel komm raus mögen, und wenn es ihn umbrachte. Ein Mann bekam schließlich nicht jeden Tag eine Gelegenheit wie diese. Fraser trat vor Melodys Spiegel, ließ das Handtuch fallen und betrachtete sich kritisch. Er sah nackt nicht schlecht aus. Gute Beine, sie könnten oben noch ein bisschen mehr Definition gebrauchen, doch es war erst der dritte Januar, also noch früh genug für gute Vorsätze. Emilia würde keine hässlichen Überraschungen erleben – kein behaarter Rücken, keinen Bierbauch und dergleichen mehr. Er war nichts Spektakuläres, aber ein Mann, der sich in seiner Haut wohlfühlte. Während Kate Perry weitersang, öffnete Fraser eine Dose Bier und ließ sich dazu verleiten, seine Muskeln spielen zu lassen und sich aus der Taille hin und her zu drehen …
»Oh yeah, Pimmelvorführung der Supermänner«, sagte er laut. Es war ein Witz, den Norm und er als sechzehnjährige Jungs oft gemacht hatten, als sie sich aufgemacht hatten, über Mad-chester hereinzubrechen.
Dann hörte er Melody rufen: »Hast du Schwierigkeiten, Fraser?«, und fuhr fast aus der Haut.
Als er ihre Schritte auf der Treppe hörte, griff er nach seinem Handtuch, aber nicht schnell genug … Während er noch halb gebückt dastand, hatte sie schon die Tür aufgerissen.
»Oh, Herrgott noch mal, Fraser!«
Schnell legte sie eine Hand vor die Augen und schlug die Tür zu.
»Tut mir leid. Ich konnte ja nicht abschließen.«
»Ja, aber ich rechne ja auch nicht damit, dass du splitterfasernackt hier herumspazierst oder ich dich beim Hereinkommen mit dem Hintern in der Luft antreffe!«
Fraser schlang sich das Handtuch um die Hüften und öffnete die Tür wieder. Beide grinsten, und Melody nahm die Hand von ihren Augen.
»Na ja, ganz wie in alten Zeiten, Fraser Morgan, nicht?«, sagte sie und schwenkte eine Flasche Baileys. »Wie damals auf der South Road Nummer fünf. Wir machen uns zum Ausgehen fertig, du hast ein heißes Date mit einer anderen Frau, und ich überrasche dich nackt wie am Tag deiner Geburt. Du warst immer nackt, Fraser. Wenn ich es recht bedenke, muss ich deine intimsten Körperteile mindestens so oft gesehen haben wie Liv.«
Fraser grinste und verspürte eine Welle der Zuneigung für seine alte Freundin Melody Burgess und ihre mütterliche, nörglerische Art. Mit der Scheidung lief alles glatt, und sie schien auch ruhiger geworden zu sein. Das Haus stand zum Verkauf, weil sie sich offenbar eine »Junggesellinnen-Bude« und ein neues VW-Beetle-Cabrio kaufen wollte. Man musste Norm und ihr hoch anrechnen, dass sie alles freundschaftlich geregelt hatten, und so würde auch sie heute Abend mit den »Mädels« ausgehen, ganz wie in alten Zeiten.
Er lachte und nahm sie in den Schwitzkasten.
»Komm her, altes Mädchen!«, sagte er. »Ich liebe dich, Burgess, ganz im Ernst.«
Melody zappelte. »Au! Lass mich los, du Irrer! Außerdem hast du viel zu viel Aftershave aufgelegt. Hast du darin gebadet?«
Er ließ sie los, sie seufzte, strich sich das Haar glatt und hielt die Flasche Baileys hoch.
»Ein Überbleibsel von Weihnachten«, meinte sie. »Willst du dir ein bisschen Mut antrinken?«
Es war nicht leicht, es zuzugeben, aber im Moment brauchte Fraser alle Hilfe, die er kriegen konnte.
♥
Die erste Januarwoche, und Lancaster war ein Friedhof. Die einzigen Leute, die ausgingen, waren die, die heute Geburtstag hatten oder, wie in Mias Fall, egoistische Verflossene. Eduardo zumindest hatte sich geweigert, auch nur in Betracht zu ziehen, seinen Silvesterabend aufzugeben, und stattdessen die geniale Alternative des dritten Januar angeboten.
Weihnachten war erstaunlich okay verlaufen. Eduardo war in eine WG umgezogen, und das Einzige, was Mia deswegen verspürte, war Erleichterung. Es war, als hätten sie zwei Jahre damit verbracht, die Reste einer Beziehung in die Länge zu ziehen, die von Anfang an nie richtig in Gang gekommen war.
Eduardo würde Billy nicht über Nacht bei sich behalten können, doch er würde ihn jeden Sonntag nehmen und wann immer sonst er wollte, solange Mia davon Kenntnis hatte. Er war auch am Weihnachtsabend zum Essen gekommen, worüber Mia froh gewesen war, da es so mit ihrer Mum weniger anstrengend gewesen war. Erstaunlicherweise, vielleicht weil sie jetzt nicht mehr zusammen waren und er »Grenzen respektierte, hatte Eduardo es sogar unterlassen, mit Lynette zu flirten.
Bedauerlicherweise hatte der Schnee nicht bis Weihnachten angehalten. Jetzt war es draußen nur noch eisig kalt und nass. Als Mia an der Bar im Merchants stand und die weihnachtliche Dekoration betrachtete, die bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag hängen zu bleiben schien, versuchte sie verzweifelt, dagegen anzukämpfen, aber sie konnte deutlich spüren, wie ihre Stimmung sank. Sie war nervös. Trink mehr!, befahl sie sich. Vielleicht war das die Lösung.
Sie beugte sich über die Bar. »Kann ich drei Tequila haben?«, fragte sie den Barkeeper spontan.
Der Mann zog die Augenbrauen hoch. »Sie machen wohl keinen Januar-Entzug?«
»Gott, nein«, sagte Mia. »Januar-Entgiftungen sind ein Werk des Teufels, das man mit nichts als Argwohn und Verachtung betrachten sollte.«
»Ein Gast, der mir sympathisch ist«, bemerkte er mit einem anerkennenden Nicken, als er die Drinks, Salz und Zitrone auf ein Tablett stellte.
Mia trug es zu dem Tisch hinüber, an dem Melody und Anna warteten und sie entgeistert ansahen.
»Gute Arbeit«, meinte Melody dann und rieb sich die Hände, als Mia die Drinks verteilte. »Ich mag deinen Stil.«
Anna war nicht so begeistert. »Kommt nicht infrage. Auf keinen Fall. Ich bin auf Entzug, schließlich ist es Januar.«
Mia verdrehte die Augen und kippte zuerst ihren Drink und dann Annas hinunter, wobei sie sich alle Mühe geben musste, nicht zusammenzuzucken.
»Zufrieden?«, fragte sie, und Anna und Melody wechselten einen ungläubigen Blick. »Alles geklärt. Das war leicht.«
Benimm dich!, sagte sie sich und setzte sich. Benimm dich einfach, Mia, und werde erwachsen! Das Problem war nur, dass sie beim besten Willen nicht aufhören konnte, an Fraser und Emilia zu denken. Wo waren sie jetzt? Amüsierten sie sich? Küssten sie sich? Wann immer sie an sie dachte, konnte sie nur Emilia sehen, wie sie Fraser mit ihren betörenden grünen Augen anschaute. Und es brauchte nicht viel, um Fraser zu betören. Machen wir uns doch nichts vor!, dachte Mia. Wenn es einer pummeligen, von Delfinen besessenen Barfrau in den Vierzigern gelungen war, würde es für eine über ein Meter achtzig große, superattraktive Brasilianerin erst recht kein Problem sein!
Und sie selbst hatte das Ganze gewissermaßen eingefädelt. War sie eigentlich verrückt? Plötzlich bereute sie bitter, die beiden auch nur miteinander bekannt gemacht und Fraser je zu diesem unseligen Picknick eingeladen zu haben, bei dem Emilia halb nackt im Park herumgesprungen war.
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»Was hat Fraser denn heute Abend angezogen?«, fragte sie Melody betont beiläufig und nippte an ihrem Wein. Sie waren vorher chinesisch essen gewesen, was ein ziemlich deprimierender Beginn des Abends gewesen war. Im Grunde hatte keine von ihnen sich das leisten können, aber Anna hatte darauf bestanden, weil sie noch ihre Aufgabe, Essstäbchen zu benutzen, zu erfüllen hatte. Jemand hatte dort seinen Geburtstag gefeiert, was Mia richtig traurig gemacht hatte, weil die Gäste sich alle gleich nach dem Geburtstagsständchen verzogen hatten – schon vor neun Uhr abends. Mia schwor sich, niemals im April schwanger zu werden.
Bislang war es ihr sehr gut gelungen, keine Fragen zu Fraser und Emilia zu stellen, jetzt jedoch hielt sie es einfach nicht mehr aus.
»Oh, es war zum Schreien«, sagte Melody. »Frase war im Gästezimmer und machte sich fertig, und ich platzte bei ihm herein, als er splitterfasernackt …«
Anna verzog das Gesicht. »Wie schön für dich!«
»Er stand vor dem Spiegel und betrachtete sich, der kleine Angeber. Es muss so gewesen sein, weil er direkt davorstand!«
Betrachtete sich nackt im Spiegel? Warum hielt er es für nötig, sich nackt im Spiegel zu betrachten?
Anna und Melody lachten. Mia auch, nur war es bei ihr kein echtes Lachen.
»Ja, und was hat er denn nun am Ende angezogen?«, versuchte sie es erneut. Beide Freundinnen schauten sie irritiert an, was sie plötzlich sehr verunsicherte. »Ich meine, als er endlich aufhörte, nackt herumzuspazieren?«
Melody runzelte die Stirn und wirkte leicht verwirrt. Mia rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum.
»Hm. Er trug dieses olivgrüne Hemd und einen schönen Mantel, den er zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte«, sagte sie schließlich. »Er sah sehr attraktiv aus, wenn ich ehrlich sein soll. Wenn ich ihn nicht besser kennen würde, hätte er sogar mir gefallen können.«
Das ist Folter, dachte Mia, die reinste Folter. Das olivgrüne Hemd. Warum das olivgrüne Hemd?! Er sah darin umwerfend aus!
»Wo wollten sie denn hin? Wisst ihr das?«, fragte sie. Der Alkohol hatte ihr die Hemmungen genommen, und die Fragen sprudelten nur so aus ihr heraus.
»Ins Borough, glaube ich.« Melody zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihn weiß Gott nicht danach ausgefragt, Mia. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, mich vom unverhofften Anblick seines nackten Hinterteils zu erholen.«
Melody und Anna lachten und tranken weiter. Mia konnte die beiden reden hören, war jedoch nicht in der Lage, etwas zu der Unterhaltung beizutragen. Ständig schossen ihr Bilder durch den Kopf, und sie fragte sich, was Fraser wohl gerade trieb. In den letzten Monaten waren ihre Gefühle für ihn drängender und viel schwerer zu verbergen geworden. Im Grunde wollte sie sie auch gar nicht mehr verbergen. Gestern war sie bei Mrs. Durham gewesen, und als die alte Dame den Tee einschenkte, hatte sie wie beiläufig gefragt:
»Wie lange bist du denn nun schon in Fraser verliebt? Ich muss sagen, dass er mir viel besser gefällt als dieser schreckliche Kerl, den du vorher hattest.«
Mia hatte so viele Monate mit ihren Gefühlen gekämpft, ja sogar versucht, sie auszulöschen, dass sie vollkommen geschlaucht war! Erschöpft! Es war ihrer Kontrolle entglitten. Als er mit Karen zusammen gewesen war, hatte Mia es gerade noch verkraften können, aber nur, weil Karen keine echte Gefahr dargestellt hatte … Doch nun, da sie wusste, dass er mit Emilia ausgehen würde, dass er mit ziemlicher Sicherheit Sex mit dieser hinreißenden jungen Frau haben würde und, was noch schlimmer war, es wahrscheinlich auch genießen würde? Ja, nun sah die Sache ganz anders aus! Sie spürte Eifersucht in sich, eine strapaziöse, schwächende Eifersucht, die sie nie zuvor gekannt hatte, ja, von der sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie dazu fähig war.
Melody war zur Toilette gegangen, sodass Mia und Anna jetzt allein waren. Unter Annas durchdringendem Blick wandte Mia das Gesicht ab.
»So«, sagte Anna mit einem übertriebenen Seufzer, und ihre Stimme war so kalt, dass Mia innerlich erschauderte. »Was ist los mit dir? Man könnte meinen, du wärst eifersüchtig, weil Fraser und Emilia miteinander ausgehen. Auf jeden Fall stellst du eine Menge Fragen.«
Mia bewegte sich nervös auf ihrem Stuhl. »Es interessiert mich nur«, antwortete sie. »Sie ist meine Portugiesisch-Lehrerin, daher habe ich natürlich eine Art persönliches Interesse.«
Anna gab nur ein verächtliches Schnauben von sich, und zu ihrem Schrecken wurde Mia sich der Tatsache bewusst, dass sie, anders als Anna Spanner, sehr betrunken war. Ärger lag in der Luft.
Anna beugte sich so weit vor, dass Mia ihren Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte. Ihre Augen wirkten riesig in ihrem kleinen Gesicht, und irgendwie sah sie wie ein verrückt gewordener kleiner Vogel aus. Mia wusste nicht, ob Anna zu weinen beginnen oder sie schlagen würde.
»Du bist verliebt in ihn, nicht wahr?«, fragte sie. »Du bist verliebt in Fraser.«
Gott, die alte Spanner hatte vielleicht Nerven, sie einfach so damit zu konfrontieren!
»Ich bin nicht verliebt in Fraser«, erwiderte Mia, doch kaum hatten die Worte ihren Mund verlassen, merkte sie, dass sie alles andere als überzeugend klangen. »Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest.«
Anna stieß gereizt die Luft aus. »Nein? Ich finde, du könntest wenigstens ehrlich sein. Glaubst du nicht, dass du es Liv schuldig bist, ehrlich zu sein, Mia?« Annas Lippen hatten zu zittern begonnen.
Weiß Liv es denn nicht schon längst?, dachte Mia.
Tränen brannten in ihrer Kehle und hinter ihren Augen, doch sie versuchte, sie mit aller Kraft zu unterdrücken. Eine Vielzahl verschiedener Emotionen wie überwältigende Trauer und Bedauern schienen in ihrem Kopf aufeinanderzuprallen, und sie fragte sich einmal mehr, wie es zwischen ihr und Anna so weit hatte kommen können. Wie es möglich war, dass der Verlust ihrer gemeinsamen Freundin eine solche Distanz zwischen ihnen geschaffen hatte. Hätte er sie einander nicht vielmehr näherbringen müssen?
Und dann, buchstäblich im Bruchteil einer Sekunde, klärten sich diese Gefühle, um eine einzige verblüffende Erkenntnis preiszugeben:
Es spielte keine Rolle, was andere sagten oder dachten. Sie liebte Fraser. Sie konnte es nicht ändern; sie liebte ihn mit jeder Faser ihres Herzens – und würde es sich nie verzeihen, falls aus dieser Nacht mit Emilia mehr als nur ein flüchtiges Abenteuer werden sollte.
Melody kam von der Toilette zurück.
»So«, sagte sie strahlend. »Was meint ihr, sollen wir noch eine Runde Tequila bestellen?«
Mia schüttelte den Kopf. »Nein, danke, ich glaube, ich gehe nach Hause«, antwortete sie, obwohl sie wusste, dass sie nichts dergleichen tun würde.
Tief im Innersten, in einem winzigen, noch nüchternen Winkel ihres Bewusstseins, war ihr klar, dass es keine gute Idee war, was sie da vorhatte. Im größten Teil ihres alkoholberauschten Hirns jedoch war es der beste Einfall, den sie je gehabt hatte. Aber vorher musste sie noch etwas anderes erledigen …
♥
In einer von Kerzen erhellten Ecke des Borough beugte Emilia sich über den Tisch und schaute Fraser tief in die Augen. »Weißt du was, Fraser?«, sagte sie und ließ das »r« auf eine Art und Weise rollen, die Fraser schon fast ein bisschen ängstigte. »Ich finde, du hast etwas Dunkles, Geheimnisvolles an dir.«
»Ach ja?« Tatsächlich fühlte er sich nur übersättigt und erschöpft. Erschöpft von all dieser Intensität und übersättigt von einem portugiesischen Essen mit Unmengen von Fleisch. Nie zuvor hatte er eine Frau dermaßen viel Fleisch essen sehen.
Emilia nahm mit einer Hand ihr Haar zusammen und legte den Kopf zur Seite. »Ja«, schnurrte sie, »ich finde dich wirklich ausgesprochen faszinierend, Fraser.«
Und unter dem Tisch kreiste ihr Fuß um seinen.
Fraser zuckte leicht zusammen. Je intimer Emilias Körpersprache wurde, desto abweisender wurde seine. Gott, er saß bereits mit verschränkten Armen und übereinandergeschlagenen Beinen da, und sie fand immer noch ein Stückchen nackter Haut von ihm, um ihren Fuß daran zu reiben! Sie war ein Teufel, diese Frau!
Emilia seufzte und trank einen Schluck von ihrem Wein. »Ich glaube auch, dass du großes Potenzial besitzt«, sagte sie und tippte sich an den Kopf. »Hier drinnen. Ich denke, du hast ein GEWALTIGES Potenzial, Fraser.«
»Danke«, murmelte er und schrie innerlich um Hilfe.
Sie waren jetzt schon fast drei Stunden zusammen, und in dieser Zeit war er zu dem Schluss gekommen, dass Emilia, was Konversation anging, nicht sehr viel zu bieten hatte. Er hatte versucht, mit ihr über Brasilien zu sprechen, über ihre Eindrücke von England, doch sie kehrte immer wieder zu diesen seltsam intensiven Feststellungen zurück, auf die Fraser nichts zu erwidern wusste. Er kam sich langsam wie ein Ausstellungsstück im Museum vor.
Als er sie jetzt ansah, loderten Emilias Augen förmlich in dem schwachen Licht. Es stand außer Frage, dass sie eine schöne Frau war. Sie hatte langes, honigblondes Haar und die faszinierendsten grünen Augen, die er je gesehen hatte, Brüste, die der Schwerkraft trotzten und – wie er sehen konnte, wenn sie sich vorbeugte – in einem Leder-BH steckten, was ihn, ehrlich gesagt, ein bisschen alarmierte.
Sie war absolute Spitzenklasse, was ihr Äußeres anging, daran war nicht zu rütteln. Doch sie weckte keinerlei Begehren in ihm. Sie reizte ihn einfach nicht. Er hatte kein Verlangen, mit ihr zu schlafen – er wollte sie nicht einmal küssen.
Das Einzige, woran er denken konnte, wenn er ihre superschmale Taille und ihren harten, durchtrainierten Bauch betrachtete, war Mias rundlicher, weicher, der sich immer ein ganz klein wenig über den Bund ihrer Jeans wölbte. Wenn er Emilias rot geschminkten Mund ansah, konnte er nur an Mias volle, weiche Lippen denken, die zum Küssen einluden, als pflegte sie sie mit Erdbeersahne.
Wann immer Emilia aufstand und zur Bar ging, betrachtete er ihre endlos langen, schlanken Beine und sehnte sich nach Mias etwas molligeren »Radfahrer-Schenkeln« (wie sie selbst sie nannte).
Fraser dachte daran, wie hinreißend sie ausgesehen hatte, als sie an dem Scrabble-Abend so überraschend aufgetaucht war. Wie elegant. Auch wenn sie behauptet hatte, wie Barbara Cartland auszusehen.
Es nützte alles nichts. Er war heute Abend mit dem Herzen einfach nicht dabei – außerdem erschien es ihm wie Verrat. Und dennoch – je weiter der Abend fortschritt, desto deutlicher ließ Emilia erkennen, dass sie zu allem bereit war. Sie war fest entschlossen, die Nacht mit ihm zu verbringen.
Die Frage war, wie er den Kopf aus der Schlinge ziehen sollte? Denn schließlich wusste er jetzt schon, dass er es nicht durchziehen konnte.
»Sollen wir in eine andere Bar gehen?«, fragte er in der Hoffnung, eine mit lauterer Musik zu finden. »Oder tanzen? Tanzt du gern?«
Sie streckte die Hand aus, streichelte seine Wange und legte wieder ihren Fuß um seinen Knöchel. »Warum gehen wir nicht zum Haus deiner Freunde, wo du übernachtest?«, erwiderte sie mit verheißungsvoll glitzernden Augen.
Frasers Kehle schien ein bisschen eng zu werden. »Klar«, sagte er. »Warum auch nicht?«
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Mia fühlte sich stark wie nie zuvor, als sie im Fond eines Taxis saß, und war absolut überzeugt, endlich einmal das Richtige zu tun. Es kam nicht sehr oft vor, dass sie derart viel Vertrauen in ihre Entscheidungen setzte, und das Neue daran spornte sie förmlich an und beflügelte sie.
Das war es doch, was Leute in Romanen und Filmen taten, nicht? Sie unternahmen halsbrecherische Fahrten zu Flughäfen, um den Gegenstand ihrer Begierde im letzten Moment von seinem falschen Weg abzuhalten. Der einzige Unterschied war, dass sie nicht zum Flughafen, sondern zu einem Pub fuhr, betrunken, wahrscheinlich sogar sehr betrunken, und dass sie vorher noch etwas anderes zu erledigen hatte.
»Würden Sie hier bitte auf mich warten?«, bat Mia, als sie vor dem Williamson’s Park hielten. »Es wird nicht lange dauern.«
Der Taxifahrer nickte widerstrebend. »Das kostet Sie aber was«, meinte er. »Ich sitze hier nicht umsonst herum, verstehen Sie?«
Mia stieg aus dem Taxi und lief auf das Tor zu. Es war natürlich verschlossen – immerhin war es schon neun Uhr abends –, aber das konnte sie nicht aufhalten. Sie warf ihre Tasche hinüber, zog ihren Rock hoch und kletterte das Tor hinauf. Hoffentlich endet mein kleiner Ausflug nicht im Krankenhaus!, dachte sie, schwang die Beine auf die andere Seite und sprang.
Sie landete unglücklich auf ihrem Knöchel. »Mist, verdammter!«, ächzte sie. Doch dann rappelte sie sich auf und eilte, halb hinkend, halb laufend, durch die kühle, dunkle Stille, in der das einzige Geräusch der Wind in den Bäumen war.
Als sie, nach Atem ringend, Livs Bank erreichte, verlor sie keine Zeit.
»Ich bin’s, Liv!«, sagte sie. Von hier oben auf dem Hügel hatte man einen guten Blick auf Ashton Memorial, das ein perlmuttfarbenes Leuchten auf den Rasen vor dem Gebäude warf.
Der Park war um diese Zeit menschenleer.
»Hör zu, ich werde dir jetzt etwas gestehen, und ich bin alles andere als nüchtern, aber wie wir immer zu sagen pflegten, ist Alkohohl keine Entschuldigung. Außerdem kennst du ja sowieso all meine Geheimnisse.«
Sie hatte plötzlich ein Bild von sich selbst vor Augen, wie sie in ihrer Kunstpelzjacke mutterseelenallein in einem Park stand und mit schon etwas schwerer Zunge laut zu einer Toten sprach.
»Liv, ich liebe Fraser!« Sie hielt inne, dann schrie sie es noch einmal laut in die Nacht hinaus: »ICH LIEBE FRASER! Und es scheint nichts zu geben, was ich dagegen tun kann. Ich wollte mich nicht in deinen Freund verlieben, ehrlich nicht, das musst du mir glauben. Aber jetzt ist es passiert, und was ich mir auf dieser Welt am meisten wünschen würde, Liv, ist dein Segen. Gib mir ein Zeichen, Liv! Deine Erlaubnis, dass ich es darf! Ich verspreche dir, dass ich mich sehr gut um ihn kümmern werde. Ich werde ihn lieben und ihn ehren, das gelobe ich; ich werde dich nicht enttäuschen, Liv.«
Dann wartete sie, doch nichts geschah.
»Liv?«, fragte Mia wieder. »Was sagst du dazu?«
Was erwartete sie? Dass etwas aus dem Himmel fiel? Dass eine Eule an ihr vorbeiflog? Ein Blitz herniederging?
Mia wartete und wartete, aber alles blieb still.
Schließlich setzte sie sich auf die Bank und lächelte. Du Schwachkopf, Mia!
Sie wusste, was Liv sagen würde. Und was sie tun würde.
Mia wartete noch ein paar Minuten, um sich zu sammeln. Dann stand sie auf, nahm ihre Tasche und lief zum Tor. Schnell kletterte sie hinüber und ging zurück zum Taxi. Unterwegs bemerkte sie, dass sie sich die Jacke aufgerissen hatte.
»Zum Borough, bitte«, rief sie durch die Trennwand. »Und können Sie auch dort einen Moment warten?«
Kaum hielten sie vor dem Pub, sprang sie aus dem Taxi, stürmte ins Borough und ging schnurstracks auf die Bar zu.
»Haben Sie hier einen großen, braunhaarigen Mann mit einer umwerfend schönen Frau gesehen?«, fragte sie den Barkeeper.
Sein Gesicht hellte sich auf. »Oh ja, das war eine Klassefrau! Ein echter Glückspilz, dieser Bursche. Sie sieht aus wie dieses Model Giselle.«
Mia schloss für einen Moment die Augen.
»Aber die sind schon lange weg«, setzte der Barkeeper hinzu. »Kein Wunder – der Mann sah aus, als hätte er eine tolle Nacht vor sich.«
Mia schlug die Hände vors Gesicht. »Okay, vielen Dank. Danke für die Auskunft.«
Vor dem Pub stieg sie wieder ins Taxi. So ein Mist! Bestimmt waren sie zu Melodys Haus gefahren. Kurz kam Mia der Gedanke: Du bist betrunken, also fahr lieber heim und werde nüchtern … Aber sie hatte es satt, vernünftig zu sein und sich wie eine Erwachsene zu verhalten. Dies war ihr Fear-and-Loathing-Moment. Sie nahm ihr Leben in die Hand, weil niemand sonst es für sie tun konnte.
Das Taxi bog in Melodys stille Sackgasse ein und hielt vor ihrem prachtvollen Haus, und diesmal bezahlte Mia den Fahrer und sagte ihm, er könne fahren.
Dann hämmerte sie an die Tür. »Fraser! Ich bin’s, Mia. Ich weiß, dass du da drinnen bist! Also lass mich rein!«
Als keine Antwort kam, hob sie einfach den Briefkastendeckel hoch und brüllte ins Haus hinein: »FRASER! Ich bin’s, Mia! Hör zu, du darfst das nicht durchziehen, du darfst nicht mit Emilia schlafen! Ich habe nachgedacht …« Ihre Knie schmerzten vom Bücken, sodass sie sich wieder aufrichten musste. »Du musst diesen Punkt der Liste nicht erfüllen. Ich bin die blöde Liste leid! Ich bin alle leid, die mir sagen wollen, wen ich lieben darf und wen nicht, all diese Schuldgefühle, und du solltest das auch alles langsam leid sein! Es ist, wie es ist, Fraser, und ich bin machtlos dagegen. Ich kann nichts für meine Gefühle. Ich dachte, ich könnte sie unter Kontrolle halten, doch ich kann es nicht, und außerdem …« Sie zögerte eine Sekunde, denn wenn es heraus war, war es heraus. »Ich bin eifersüchtig! Wahnsinnig, ja, fast schon krankhaft eifersüchtig …«
In diesem Moment flog die Tür auf, und Fraser stand in seinem Morgenrock vor ihr.
»Mia.«
»Wer zum Teufel ist das?«, rief jemand im Hintergrund. »Oh …«
Dann erschien Emilia oben auf der Treppe, nackt bis auf die Unterwäsche.
Einen Moment stand Mia nur reglos da, außerstande, sich zu bewegen, und dachte, dass es so lange Beine gar nicht geben dürfte.
»Mist«, war das Einzige, was sie schließlich sagte, und blickte Fraser ins Gesicht. Sekundenlang schien sich alles zu verlangsamen, und dann fuhr sie herum und lief davon.
Hinter sich konnte sie Fraser hören. Er stand auf der Straße und rief ihren Namen.