Das Hauptgericht wurde serviert, seine Reste abgeräumt, und dann zog Norm einen Zettel aus der Tasche und entfaltete ihn.
»Also gut, welche Aufgaben haben wir noch zu erledigen? Denn ich bin mir sicher, dass die Liste zwanzig Aufgaben enthielt und wir noch nicht alle erfüllt haben.«
Widerstrebend nahm auch Mia ihre Kopie der Liste aus der Tasche. Alle stimmten darin überein, dass die folgenden Punkte noch unerledigt waren:
9. Heiße Küsse im Central Park.
»Tja, dazu wird’s wohl nicht mehr kommen, Andrew, was?«, sagte Melody. Sie war inzwischen reichlich angeheitert, und alle Versuche, einfühlsam zu sein, waren mit der letzten Flasche Wein verschwunden.
Zum Glück sah Norm die Sache mit Humor. »Ich bin mir sicher, dass wir uns an irgendeinem Punkt unserer Beziehung schon mal im Williamson’s Park heiß geküsst haben«, sagte er. »Oder im Thorpe-Park oder Abenteuerpark Chessington?«
Melody kicherte und legte kapitulierend den Kopf auf ihre Arme. Norm konnte sie immer noch zum Lachen bringen.
12. In Paris leben.
Das war Annas Aufgabe, und bisher hatten sie noch nichts über Paris gehört.
10. Die Chinesische Mauer besteigen.
»Kein Problem«, versicherte Norm ihnen. »Das werde ich diesen Sommer erledigen.«
Und alle brachen in begeisterte »Oh«- und »Ah«-Rufe aus, während sie ihn spöttisch ansahen, als wollten sie sagen: Na klar wirst du das, Norm.
14. Bei Sonnenaufgang nackt im Meer schwimmen.
(Oh Gott!) Mia hüstelte und blickte aus dem Fenster.
»Woodhouse!« Alle zeigten auf sie. »Du hast gesagt, du würdest das im Sommer tun!«
»In diesem Sommer«, wich sie aus. »In diesem Sommer werde ich nur noch nackt schwimmen. Jeden Tag. Versucht nur, mich daran zu hindern! Ich werde jeden Tag in Morecambe Bay sein«, scherzte sie.
Aber eigentlich ertrug sie es nicht länger, und sie wusste, dass sie etwas sagen musste.
»Nur mal so aus Interesse«, begann sie plötzlich. »Hat irgendeiner von euch schon mal eine solche Liste verfasst?«
Alle schauten sie mit verständnisloser Miene an.
»Eine dieser ›Die Dinge, die ich noch vor meinem dreißigsten Geburtstag tun will‹-Listen? Weil Fraser nämlich schon dreißig ist und wir anderen dieses Jahr noch dreißig werden.«
Als sie Fraser auf der anderen Seite des Tisches einen Blick zuwarf, hätte sie schwören können, dass seine Mundwinkel sich kräuselten.
»Nein, ich habe keine Liste verfasst«, antwortete er, ohne den Blick von Mia abzuwenden. »Und ich habe auch nicht vor, es je zu tun.« Er schaute sie so lange an, dass sie den Blick abwenden musste.
»Was ist mit dem Rest von euch?«, fragte sie.
Schweigen. Alle blickten einander fragend an.
»Ich hab noch nicht mal Zeit für eine komplette Einkaufsliste, ganz zu schweigen von irgendwelchen anderen«, meinte Melody.
Plötzlich hob Norm die Hand. »Also, ich hab eine«, verkündete er. »Ich habe eine Liste der Dinge, die ich tun will, bevor ich dreißig werde.«
»Davon hast du mir nichts erzählt«, warf Melody ein. »Aber du sagst mir ja ohnehin nie alles. Das habe ich längst gemerkt.«
Norm lachte schnaubend. »Was soll denn das schon wieder heißen?«
»Und was steht auf deiner Liste?«, mischte Fraser sich schnell ein. »Erzähl schon! Denn jetzt hast du mich neugierig gemacht.«
»Tauchen lernen«, antwortete Norm. »Den Song beenden, den wir zu schreiben begonnen haben, einmal als Stand-up-Comedian auftreten und noch viele andere Dinge …«
Mia lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Und, hast du irgendetwas von dieser Liste schon erfüllt? Ich meine, bei allem gebotenen Respekt, Norm, du wirst in sechs Monaten dreißig, und kannst du bisher irgendeinen der Punkte auf deiner Liste abhaken?«
Norm hüstelte. »Nun ja, ähm … bisher noch nicht.«
Mia leerte ihr Weinglas in einem Zug. Reden zu halten war eigentlich nicht ihr Ding, aber jetzt sah sie sich dazu gezwungen. Doch sie hatte das Gefühl, dass das Thema strittiger und beängstigender war, als sie gedacht hatte. »Tja, dann schließe ich meine Beweisführung ab.«
»Deine Beweisführung für was?«, fragte Melody. »Bin nicht ich die Anwältin hier?«
»Haben wir wirklich das Gefühl«, begann Mia wieder mit wild klopfendem Herzen, »dass Liv die Dinge auf ihrer Liste getan hätte, wenn sie überlebt hätte? Wäre sie nach Las Vegas geflogen, hätte sie eine Fremdsprache gelernt? Hätte sie sich auch nur daran erinnert, diese Liste geschrieben zu haben?«
Allgemeines Schweigen folgte auf ihre Frage.
»Sie schrieb diese Liste ein Jahr vor ihrem Tod, und meines Wissens hat sie nicht einen Punkt darauf erfüllt. Möchte irgendjemand diese Tatsache infrage stellen? Weiß irgendjemand, ob sie nicht wenigstens eine ihrer selbst gestellten Aufgaben erfüllt hat?«
Alle sahen sich ratlos an.
»Denn wenn es so ist, dann sagt es bitte!«
Wieder breitete sich nur Schweigen aus.
♥
Arm in Arm gingen sie durch die vom Mond erhellten Straßen, die jetzt von Wochenend-Nachtschwärmern bevölkert waren, zum Hotel zurück.
Die vier Freunde hatten beschlossen, zum Kai hinunterzugehen und die Kerzen auf den Geburtstagskuchen in einer Bar am Hafen anzuzünden. Doch zuvor wollten sie nach Anna sehen.
Mia hatte sich bei Melody untergehakt und Fraser bei Norm. »Ihr liebt euch, ihr zwei«, spöttelte Melody, die hinter ihnen ging. »Ihr solltet das mal auf die Reihe kriegen – ihr habt sogar die richtige Größe füreinander.« Ihr Gelächter schallte durch die milde Nachtluft.
Mia fühlte sich den anderen verbunden, nahe und sicher. Der Wein half, aber auch, dass die anderen drei ihr hinsichtlich der Liste recht gegeben hatten. Alle hatten sofort festgestellt, wie zickig Anna dieses Jahr geworden war und wie sehr die Sache mit der Liste sie offensichtlich mitgenommen hatte. Doch bei genauerer Betrachtung waren auch sie nicht sehr viel besser dran. Keiner war unversehrt davongekommen, aber vielleicht war es ja auch einfach so, dass sie die Liste hatten abarbeiten müssen, um zu erkennen, wie verkorkst ihr Leben war.
Wenn Liv überlebt hätte, wäre sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nach Venedig gefahren, weil sie (seien wir doch mal ehrlich!) viel zu sehr damit beschäftigt gewesen wäre, ihr Leben zu leben. Und alle hatten in diesem tristen, seltsam geschäftsmäßig anmutenden Speiseraum den Pakt geschlossen, dass sie genau das von jetzt an auch tun würden: Sie würden ihr Leben leben.
»Was meint ihr? Sollen wir Anna jetzt anrufen? Ihr sagen, dass wir gleich die Kerzen auf ihrem Kuchen anzünden?«, fragte Mia, als sie vor dem Hotel standen.
Alle versuchten, Anna auf ihrem Handy zu erreichen, aber sie meldete sich nicht.
»Ach, lasst sie in Ruhe!«, sagte Fraser. »Wahrscheinlich hat sie zu tief ins Glas geschaut, oder sie schläft schon. Wir werden eine Kerze für sie anzünden.«
Und so gingen sie durch den Durchgang neben dem Hotel und überquerten die Mini-Hängebrücke, die auf die andere Seite des Kanals führte. Dort fanden sie eine moderne, kuppelförmige Bar direkt am Wasser, mit fröhlichen orangefarbenen Sesseln, azurblauen Ledersofas und einer Menge weißem Chiffon.
»Ein bisschen Ibiza in Leeds«, bemerkte Fraser, und es war, als wäre es okay, jetzt auszusprechen, dass Livs Tod nicht die einzige Erinnerung war, die sie je miteinander teilen würden.
Sie holten sich an der Bar Drinks – Bier für Mia und Fraser, Cidre für Melody und Norm –, setzten sich draußen dicht nebeneinander unter die Heizsonnen über den Korbmöbeln und betrachteten die im Dunkeln glühenden Lichter der gegenüberliegenden Gebäude.
Fraser nahm die Kuchen und Kerzen aus den Taschen, die er mit sich herumgeschleppt hatte, und stellte sie auf den Tisch vor ihnen. »Okay, wer hat ein Feuerzeug?«, fragte er, und erst da kam ihnen allen zu Bewusstsein, dass keiner von ihnen noch rauchte.
Sie bekamen vom Barkeeper Streichhölzer, und Melody nahm die Kerzen aus den Schachteln und legte sie auf den Tisch.
»Wie viele nimmst du für jede Torte?«, fragte Mia.
»Na dreißig!«, meinte Melody. »Ist das in Ordnung?«
»Nimm keine dreißig«, sagte Fraser ruhig an Mias Stelle, »sondern einfach eine willkürliche Anzahl … acht, fünf, was auch immer.«
»Okaaay …« Melody runzelte die Stirn.
»Ich meine, es ist doch irgendwie makaber, oder?«, sagte Fraser. »Da sie es doch bis zu ihrem Dreißigsten gar nicht geschafft hat. Sie würde es nicht wollen.«
Melody nickte zustimmend. »Ja, ich werde nur sechs nehmen«, entschied sie. »Fünf für uns und eine für Liv.« Langsam stellte sie drei auf Norms Kuchen und drei auf Annas, und dann griff sie nach dem Päckchen Streichhölzer und zündete die Kerzen an.
Es riecht wunderbar, dachte Fraser, wie Mittsommernachtsfeuer in der Winterluft.
Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Happy birthday« zu singen kam nicht mehr infrage, und alles andere schien gesagt zu sein.
»Nun, dann würde ich vorschlagen: Wünscht euch jetzt was!«, meinte Fraser schließlich, und alle schlossen die Augen und bliesen die Kerzen aus.
Dann saßen sie da und beobachteten die blinkenden Lichter auf dem Wasser. Hin und wieder sagte einer etwas, doch den Rest der Zeit verbrachten sie mit der Art von Schweigen, bei dem nur sehr gute Freunde sich behaglich fühlen. Irgendwann gingen Melody und Norm in die Bar, um weitere Drinks zu holen; Fraser und Mia blieben draußen sitzen.
Eine Zeit lang schwiegen beide. Fraser spielte mit den Streichhölzern und zündete einige der Kerzen wieder an, und sie saßen da und schauten in die Flammen.
Dann brach Fraser das Schweigen. »Danke, Mia.«
»Wofür?«, fragte sie, aufrichtig verwirrt.
»Für das, was du im Restaurant gesagt hast, und dafür, dass du die Sache mit der Liste beendet hast. Ich dachte schon seit langer Zeit das Gleiche. Mir fehlte nur der Mut, es auszusprechen.«
Mia erschauderte ein wenig, und das Glitzer-Make-up, das sie trug, schimmerte im Kerzenlicht. Fraser fand, dass sie geradezu unglaublich hübsch aussah.
Sie zündete ein Streichholz an und hielt die Flamme an eine weitere Kerze. »Du solltest mehr Selbstvertrauen haben«, sagte sie, »und dich auf deinen Instinkt verlassen.«
»Das tue ich und habe ich. Sieh mal …«
Und genau in dem Moment, vielleicht weil alles so perfekt erschien – das Kerzenlicht, das Wasser –, wusste Fraser, dass er seine Sache gut machen musste. Ausnahmsweise einmal durfte er es nicht vermasseln.
»… was immer du auch denkst, was zwischen mir und Emilia war …«
Mia legte einen Finger an die Lippen. »Pst!«
»Nein, lass mich bitte ausreden!« Fraser schob seinen Sessel näher, rückte die Kerzen ein wenig zur Seite und nahm eine von Mias Händen in die seinen. »Ich habe nicht mit ihr geschlafen«, sagte er. »Und ich hätte es auch nie getan. Nicht, weil sie mir unheimlich war oder lederne Unterwäsche trug …«
Nein, er brachte es nicht über sich, ohne zu scherzen – und wenn auch nur ein bisschen.
»Ich konnte es nicht, weil ich in Gedanken ganz woanders war.« Er unterbrach sich einen Moment. »Woanders bin …«
Mia holte tief Luft und lächelte ihn an. »Und wo bist du in Gedanken, Fraser?«
Er nahm ihre Hand, zog sie an seinen Mund und küsste sie. »Nun, das ist …«
»Du meine Güte, riecht ihr beide auch den Rauch?« Soeben waren Melody und Norm mit den frischen Drinks erschienen. »Hat der Kuchen Feuer gefangen?«, fragte Norm. »Irgendetwas brennt …«
Und erst da drehten sie sich um und sahen große Rauchwolken aus einem der Gebäude jenseits des Kanals aufsteigen.
Fraser stand auf. »Das verdammte Hotel brennt«, sagte er zunächst ruhig, um dann viel lauter zu rufen: »Unser Hotel brennt!«
Und dann war es, als käme ihnen allen gleichzeitig derselbe furchtbare Gedanke. Oh Gott. Nicht schon wieder!
»Jesus Christus, Anna …!«
Alle rannten wie der Blitz über die Hängebrücke, als auch schon die Feuersirenen zu heulen begannen. Sie konnten die erschrockenen Schreie der Leute in den umliegenden Bars hören. Gäste wurden bereits aus dem Hotel evakuiert, Dutzende entsetzter, verwirrter, verärgerter Gesichter, Leute in Pyjamas und Bademänteln oder andere, die zum Dinner angekleidet waren.
Norm, Melody, Fraser und Mia quetschten sich gleichzeitig in die kleine Drehtür des Eingangs und blieben, fluchend und der Panik nahe, in einem der Teilbereiche stecken.
Der Hotelmanager stand im Foyer und sprach mit betont ruhiger Stimme zu den aufgeregten Gästen, doch sein Gesicht verriet mühsam unterdrückte Panik.
»Alle hinaus, bitte, und bleiben Sie bitte ruhig!«, sagte er gerade, während er die Leute zur Tür hinausdrängte. »Bitte ruhig bleiben, die Feuerwehr ist unterwegs.«
Fraser packte ihn am Arm. »Wo genau ist das Feuer ausgebrochen? Woher kommt es? Sie müssen mir sagen, woher das Feuer kommt.«
»Aus dem zweiten Stock«, antwortete der Mann, ohne ihn auch nur anzusehen.
»Verdammt! Annas Zimmer befindet sich im zweiten Stock. Unsere Freundin ist im zweiten Stock!«
Der Mann fuhr fort, die Leute hinauszuscheuchen, aber Fraser rannte panisch im Foyer herum. »Anna!«, schrie er mit trockenem Mund und wild pochendem Herzen. »ANNA! Um Gottes willen, Anna, wo steckst du?«
Melody und Mia versuchten verzweifelt, sie auf ihrem Handy zu erreichen. Norm sprach mit den Leuten draußen vor dem Eingang.
»Ja, ich glaube, sie war betrunken«, konnte Fraser ihn sagen hören. »Ja, sie war mit Sicherheit betrunken. Sie hat langes, rötliches Haar, ist sehr schlank und groß …«
Für Fraser kam in diesem Augenblick alles zurück, die Hektik, die Verzweiflung, der Albtraum …
Oh Gott, nicht schon wieder!, dachte er. Bitte nicht schon wieder!
Fraser lief zu dem Hotelmanager. »Ich muss hinauf«, bat er. »Wir glauben, dass unsere Freundin noch im zweiten Stock ist. Wir können sie hier unten nirgends finden.«
Alle traten hinter ihn. »Frase«, bat Norm und legte ihm eine Hand auf die Schulter, die Fraser jedoch abschüttelte. »Bitte tu das nicht, Frase! Bitte! Es ist gefährlich. Warte auf die Feuerwehr!«
Fraser schüttelte seine Hand erneut ab, diesmal schon viel aggressiver.
»Nein. Für Liv war ich nicht da, ich werde nicht noch jemanden sterben lassen.«
Der Hotelmanager streckte die Hand aus, um ihn aufzuhalten. »Niemand darf hinein«, erklärte er. »Und schon gar nicht nach oben. Warten Sie, bis die Feuerwehr kommt! So sind die Sicherheitsbestimmungen, befürchte ich.«
Fraser sah rot. »Ich pfeife auf Ihre Sicherheitsbestimmungen«, sagte er, packte den Mann am Arm und zerrte ihn praktisch zur Seite. »Meine Freundin ist dort oben.«
♥
Rauch zog bereits über den Korridor, als Fraser den zweiten Stock erreichte. Dummerweise erinnerte er sich nicht mehr genau, welches Zimmer Annas war. Er hämmerte an jede Tür. »Anna! Anna!«
Der Rauch machte ihm schon schwer zu schaffen, er stieg ihm in Nase und Kehle und brachte ihn zum Husten.
Fraser bedeckte den Mund mit seinem Ärmel und hielt eine Sekunde inne, um sich zu fangen. Draußen konnte er Sirenen heulen hören, die das Blut in seinen Adern stocken ließen.
Dann sah er sie oder hörte sie vielmehr: Ihr Handy in der Hand, kauerte sie wimmernd in einer Ecke des Ganges auf dem Boden.
»Anna, um Gottes willen …«
Er stolperte auf sie zu und zog sie an den Armen hoch wie eine Stoffpuppe. Sie war auch genauso leicht wie eine Puppe aus Stoff und zitterte unkontrollierbar.
»Mein Zimmer brennt!«, war alles, was sie hervorbrachte, während sie sich an ihn klammerte. »Mein Zimmer brennt, Fraser. Mein Zimmer brennt!«
♥
Zwei Feuerwehrautos und zwei Ambulanzen standen vor dem Hotel. In eine Decke gehüllt, hyperventilierend und hysterisch, saß Anna jetzt in einem dieser Krankenwagen.
Sie habe sehr viel Glück gehabt, erklärten die Sanitäter. Wenn Fraser sie nicht geholt hätte, wäre es vielleicht »ganz anders ausgegangen«, meinten sie, und alle wussten, was sie damit sagen wollten.
Anna hatte sich betrunken und war eingeschlafen, ohne an das offene Fenster und die brennenden Kerzen zu denken, und der Wind hatte die Vorhänge ins Zimmer geweht und in Brand gesetzt.
Zum Glück hatte der Rauchalarm Anna geweckt, sodass sie das Zimmer hatte verlassen können, bevor das Feuer sich ausgebreitet hatte, aber wenn sie noch viel länger dort oben geblieben wäre …
Da nur zwei Personen bei ihr in der Ambulanz sein durften, saßen Fraser und Mia bei ihr, während Norm und Melody draußen warteten.
Anna atmete schnell und unregelmäßig und wiegte sich weinend hin und her. »Es tut mir leid«, murmelte sie immer wieder. »So schrecklich leid …«
»Sie steht nur unter Schock«, meinte die Sanitäterin, als sie etwas an Annas Finger befestigte, das offenbar dazu diente, ihre Herzfrequenz zu messen. »Sie hat einen kleinen Panikanfall, nicht wahr, Anna? Aber beruhigen Sie sich! Es ist ja nichts passiert.« Die Sanitäterin wirkte beherzt und kompetent und sprach mit starkem Yorkshirer Akzent. »Atmen Sie tief ein … So ist es gut. Braves Mädchen!«
»Tief einatmen«, sagten alle, sogar Norm und Melody vor dem Krankenwagen. »Tief einatmen, Span! Wir sind bei dir.«
Was ungesagt blieb, war, dass sich alle instinktiv darüber im Klaren waren, dass dies ein von Anna inszeniertes Drama war. Ein Drama, um auszublenden, was wirklich mit ihr los war – nur konnte sich leider keiner vorstellen, was das war.
Fraser drückte Annas Hand und sah sich um. Irgendetwas sagte ihm, dass Menschen so etwas nicht zweimal in ihrem Leben durchmachen sollten. Dies tatsächlich zweimal zu erleben – die Ambulanz, die Sirenen, das rotierende Blaulicht – war mehr als genug für ein ganzes Leben.
Er sah seine Freundin an: Sie wurde wegen einer leichten Rauchvergiftung behandelt, aber hier, an Ort und Stelle, sie musste nicht einmal ins Krankenhaus. Sekundenlang schnürte ihm der schreckliche Gedanke, wie anders es hätte kommen können, die Kehle zu. Doch dann überschwemmte ihn eine Welle der Dankbarkeit, die so groß war, dass Fraser sich abwenden musste, damit ihn niemand weinen sah.
Anna war stockbetrunken – nie zuvor hatte Fraser sie so betrunken gesehen, denn die eitle, selbstbewusste Anna erlaubte sich das normalerweise nicht. Aber die Anna im Krankenwagen war ja auch nicht die eitle, selbstbewusste, die sie kannten, sondern eine sehr verängstigte auf dem Höhepunkt einer Krise. Auch wenn sie diese Krise vielleicht selbst erzeugt hatte.
»Ich habe es gesehen«, sagte sie immer wieder. Sie weinte und zitterte dabei jedoch so heftig, dass anfangs keiner viel Notiz von ihren Worten nahm. »Ich habe euch gesehen«, wiederholte sie dann lauter und eindringlicher.
Es war Fraser, der schließlich fragte: »Was hast du gesehen, Anna? Wen? Wovon redest du?«
»Von dem Kuss. In der Nacht, als Liv starb, sah ich, wie du Mia küsstest. Ich stand auf dem Balkon und sah euch in der Küche.«
Niemand sagte etwas, bis Norm das Wort ergriff. »Du hast was?« Er klang, als wäre das, was sie behauptete, geradezu absurd.
Fraser und Mia wechselten einen Blick.
»Warum hast du nichts gesagt?«, wollte Fraser dann ruhig wissen.
»Ja«, stimmte Mia zu, »warum hast du nichts gesagt?«
»Weil ich es nicht konnte.« Anna schaute Fraser an. »Weil deine Freundin gerade gestorben war. Ich wollte nicht, dass du dich noch schlechter oder schuldbewusster fühltest. Ich weiß, dass ich manchmal nervig sein kann, aber so schlecht bin ich auch nicht, oder?«
»Du bist überhaupt nicht ›schlecht‹«, erwiderte Fraser. »Wir lieben dich, du Dummkopf!«
»Ich hatte schon ewig nicht mehr daran gedacht, weil ich viel zu durcheinander war«, fuhr sie fort. »Doch mit der Zeit war es dann so, als würde dieser Kuss, den ich gesehen hatte, zu einem Riesending in meinem Kopf. Mir war, als schleppte ich ein großes Geheimnis mit mir herum – ein Geheimnis, von dem Liv nichts gewusst hatte, als sie starb, und das ich ihr jetzt nie wieder erzählen konnte.«
Mia barg den Kopf in den Händen. »Oh Gott, Anna, das tut mir leid!«
»Ich versuchte, dich zu einem Geständnis zu bewegen«, fuhr Anna fort, und sah einen Moment so aus, als wollte sie lachen. »Ich habe Fraser sogar selbst geküsst, weil ich einen verrückten Moment lang annahm, er würde darauf eingehen. Ich dachte, dann könnte ich so tun, als hätte auch dieser Kuss auf Ibiza nichts bedeutet. Ich wollte mir einreden können, dass Fraser … ich weiß nicht … jede von uns küssen würde, wenn er nur betrunken genug war!«
»Meine Güte! Danke …«, murmelte Fraser.
»Aber das wisst ihr ja wahrscheinlich sowieso schon alle.«
Die anderen wechselten einen Blick. »Oh, mein Gott«, murmelte Anna. »Du hast ihnen nichts erzählt, Fraser?«
Er lächelte und schüttelte den Kopf.
»Mich mit Buddhismus zu befassen war eine Hilfe, doch es war auch sehr schwer«, fuhr Anna fort. »Zumindest war Steve jemand, dem ich mich anvertrauen konnte, und so erzählte ich ihm alles. Steve kennt sich aus mit Karma …«
»Steve ist ein verdammter Scharlatan«, rief Norm von draußen, und Fraser hätte ihn umarmen können. Norm brachte die Sache immer auf den Punkt. »Er ist kein Buddhist, sondern ein Bullshitist«, fügte er hinzu, und alle lachten, sogar Anna.
»Vielleicht, aber er redete unentwegt über Karma«, fuhr Anna fort. »Wie darüber, dass alles im Leben sich früher oder später rächt, dass jeder irgendwann die Quittung für sein Verhalten bekommt und niemand mit Lügen ungestraft davonkommt. Und ich hörte ihm zu – ich war so durcheinander, dass ich jedem zugehört hätte –, und was er sagte, erschien mir sehr vernünftig. Aber ich wollte nicht, dass euch etwas zustößt; ich war wie gelähmt vor Angst, dass noch etwas Schlimmes passieren könnte. Deshalb versuchte ich, die Wahrheit aus euch herauszuholen. Ich glaubte, es Liv zu schulden, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Ich weiß, das klingt verrückt, doch …«
»Es ist verrückt«, warf Norm ein.
»Ich dachte eben …« Anna blickte zu ihnen auf. Ihr Gesicht war schmutzig vom Rauch, ihre Wimperntusche verlaufen, und Fraser bezweifelte, dass er sie je zuvor so kleinlaut erlebt hatte. »Ich dachte, dass ich Liv verloren hatte und jetzt auch noch euch alle verlieren würde, und das konnte ich nicht ertragen, weil ihr alles seid, was ich habe.
Melody, du hast immer Norm gehabt, und jetzt, da ihr euch getrennt habt, seid ihr nicht mehr ihr. Und du, Mia – wir beide standen uns einmal nahe, doch nun hast du Billy und scheinst auch Fraser zu haben, und du fehlst mir, Mia. Sehr sogar.«
»Oh, Anna«, sagte Mia schnell. »Du fehlst mir auch. Es tut mir so leid, Liebes, ich hatte keine Ahnung, dass du dich so fühltest.«
»Und ich, wen hatte ich?« Tränen liefen jetzt über ihre Wangen und tropften von ihrem Kinn. »Früher hatte ich Liv, aber jetzt ist sie tot, und ich habe sie so vermisst und vermisse sie immer noch so sehr! Ich habe keinen richtigen Job, ich habe kein Baby, meine Freunde waren mein Leben und meine Familie, und ich will nicht, dass das alles aufhört. Ich habe wahnsinnige Angst davor, dass plötzlich alles einfach aufhört.«
Gerade die Person von uns, die sich so verhielt, als brauchte sie uns andere am wenigsten, war vielleicht gerade die, die uns am meisten brauchte, erkannte Fraser jetzt.
Mia streichelte Annas Rücken und versuchte, sie zu beruhigen. Norm stellte einen Fuß in die Tür; er musste sich Klarheit verschaffen.
»Dann habt ihr zwei also herumgeknutscht in der Nacht, in der Liv starb?«
Mia legte den Kopf auf Annas Knie und sah Fraser mit einem etwas resignierten Lächeln an.
Fraser dagegen fühlte sich augenblicklich besser. Aus irgendeinem verrückten Grund empfand er Erleichterung darüber, dass es endlich einmal ausgesprochen worden war. »Ja«, sagte er, »und es hat mich seitdem fast wahnsinnig gemacht. Wir hatten so ein schlechtes Gewissen deswegen, ich vielleicht noch mehr als Mia …«
»Na klar, weil’s mir ja auch egal ist. Ich hab ja kein Gewissen«, warf Mia spöttisch ein.
Fraser legte eine Hand auf ihre Schulter. »Unsinn, du bist nur viel vernünftiger als ich.«
»Ich wusste einfach, was geschehen war, war geschehen«, sagte Mia leise. Inzwischen lehnten sowohl Melody als auch Norm mit bestürzten Gesichtern an der Tür des Krankenwagens. »Und dass nichts Liv zurückbringen würde. Ich wusste, dass wir nie erfahren würden, ob sie uns gesehen hatte oder was sie dabei empfunden hatte. Es hat mich auch verrückt gemacht – Gott, ich war monatelang in psychologischer Behandlung! Aber ich konnte mich nicht weiter deswegen geißeln. Wir können uns nicht ewig weiterquälen. Liv würde das nicht wollen, das weiß ich. Sie war meine beste Freundin.«
Melody nickte. »Hey, wir alle wissen das. Und außerdem spielt es heute keine Rolle mehr.«
Es war ihr erster Beitrag zu der Unterhaltung, und alle wandten sich ihr zu.
»Es ist unwichtig, wer wen geküsst hat«, sagte sie. »Weil Liv nämlich Norm liebte.«
Die anderen brauchten eine Minute, um das zu verdauen. »Was?«, murmelte Fraser dann.
»Oh ja, und zwar seit Jahren schon, wie sich herausstellte.« Sie sah Norm an und lächelte, doch ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich weiß, dass das ziemlich schwer zu glauben ist.«
Fraser sah Norm an, der aussah, als würde ihm übel, so schockiert war er. Aber ein leichtes Zucken seiner Augenbrauen verriet Fraser, dass Melody die Wahrheit sagte.
»Ich habe das hier gefunden, als ich unser Haus ausräumte.« Sie zog ein Blatt Papier aus ihrer Tasche.
»Verdammt«, murmelte Norm. »Wie hast du das geschafft?«
»Oh, das war nicht schwer, du hattest es ja nicht sehr gut versteckt. Es steckte in der Hülle einer Green-Day-CD.«
Sie entfaltete es. Nur wenige Zeilen standen auf dem Blatt, und Fraser erkannte sofort die elegante, ein wenig schräge Linkshänder-Handschrift.
»Wie sich herausstellte, gab es noch einen weiteren, einen letzten Punkt auf Livs Liste, auf einem zweiten Blatt Papier«, sagte Melody. »Nummer einundzwanzig.«
Norm, der mit offenem Mund dastand, blickte Fraser an und biss sich auf die Unterlippe.
»Der Zettel trägt das Datum vom fünfzehnten Juli.«
»Das ist Billys Geburtstag«, bemerkte Mia.
»Und unser Hochzeitstag«, setzte Melody hinzu. »Sie schrieb diese Zeilen am Tag unserer Hochzeit. Am fünfzehnten Juli zweitausendfünf.«
Fraser schüttelte den Kopf. Dieses Datum hatte keine Bedeutung für ihn gehabt, als er es ganz oben auf der Liste gesehen hatte.
»Nummer einundzwanzig«, las Melody vor. »Du musst Norm loslassen. Er ist jetzt fort; es ist vorbei! Du wirst ihn aus der Ferne lieben müssen. Du hast viel zu viele Jahre damit verschwendet, dir etwas zu wünschen, was du nicht haben kannst. Das reicht jetzt, Olivia! Du musst dein Leben weiterleben.«
Melody faltete das Blatt zusammen und steckte es wieder in ihre Tasche.
Ein langes Schweigen entstand. Dann begann Fraser plötzlich zu lachen, obwohl ihm auch die Tränen kamen.
»Dieses durchtriebene Biest«, war alles, was er sagen konnte. »Olivia Jenkins, du durchtriebenes Biest …«
♥
Irgendwann gegen ein Uhr morgens rückten die Ambulanzen und Feuerwehrwagen wieder ab, und nur noch die fünf Freunde standen auf der Straße. Langsam gingen auch sie ins Hotel zurück, Mia, Melody und Anna voran und Norm und Fraser hinter ihnen.
»Also das ist ja ein Ding!«, sagte Fraser. »Wie raffiniert Liv damit hinterm Berg gehalten hat! Und du hast auch kein Wort darüber verlauten lassen.«
Für Fraser ergab nun alles einen Sinn, und er sah klarer. Norms Besessenheit mit der Liste, sein ständiges Gerede über Liv, als wäre es seine Freundin, die gestorben war. Wie viel Zeit Liv mit Norm zu verbringen pflegte … Und er, Fraser, hatte sich nie etwas dabei gedacht, sondern die Sache für harmlos gehalten.
Norm blieb stehen. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum ich es dir nicht erzählt habe. Wahrscheinlich dachte ich, du wärst am Boden zerstört, wenn du es wüsstest. Doch ich hatte ja auch keine Ahnung von dir und Mia.«
Fraser wandte sich ihm zu. Die Neuigkeiten hatten ihm einige seiner Schuldgefühle genommen, wenn er ehrlich sein sollte, trotzdem waren noch Fragen offen. Es gab Dinge, die er wissen musste. »Hast du mit ihr geschlafen?«, fragte er. »Sie geküsst?«
»Gott, nein!«, sagte Norm. »Niemals. Das schwöre ich.«
In der City war es still geworden, man hörte nur das eine oder andere betrunkene Gegröle von irgendwoher oder einen scharfen Pfiff nach einem Taxi. Das Geheul der Sirenen war längst verstummt.
»Warst du denn in sie verliebt? Sag mir bitte die Wahrheit, auch wenn es jetzt im Grunde nicht mehr wichtig ist!«
Norm schwieg, und Frasers Herz begann wie wild zu pochen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich und schaute Fraser fest in die Augen. »Ich weiß es wirklich nicht. Es gab vielleicht einmal eine Zeit, in der ich glaubte, es zu sein, doch vielleicht vermisste ich sie auch nur. Denn sie fehlte mir, fehlt mir nach wie vor, Fraser, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr. Wir hatten vor allem eine starke freundschaftliche Bindung. Und vielleicht gab es Zeiten, in denen ich glaubte, aus dieser Bindung könnte mehr werden, doch Liv war immer mit dir zusammen und ich mit Melody. Außerdem liebte ich Melody. Ich liebte sie wirklich und dachte, sie sei die Frau meines Lebens. Aber so war es ja leider nicht, nicht wahr? Als ich diesen letzten Eintrag auf der Liste sah, fühlte ich mich … na ja, geschmeichelt. Es war etwas, das nur Liv und ich hatten.
Mit mir und Melody lief es nicht besonders gut. Ich schien ihr nie gut genug zu sein, und wahrscheinlich war es einfach schön zu wissen, dass ich für jemand anderen etwas Besonderes war. Dass jemand anderer mich gut fand.«
Fraser nickte bedächtig, während er all das in sich aufnahm.
»Ich glaube übrigens auch nicht, dass sie mich liebte. Nicht wirklich. Nicht am Ende. Wir waren einfach nur jung, Mann, und versuchten, uns über uns selbst und das Leben klar zu werden.«
Ja, wir waren jung, dachte Fraser. Sehr jung. Aber wieso hatte er dann manchmal das Gefühl, als hätte er schon ein ganzes Leben hinter sich?
»Sie hat dich geliebt, Frase«, sagte Norm schließlich und trat vor, um Frasers Arme zu ergreifen. »Zumindest zur Zeit ihres Todes liebte sie nur dich, glaube ich. Doch das werden wir wohl nie erfahren.«
Beide schwiegen eine Minute, während Fraser all das zu verarbeiten versuchte.
Dann sagte Norm: »Ich möchte nicht, dass das zwischen uns steht.«
Fraser nickte langsam.
»Weil diese Typen, mit denen ich Ski laufen war, diese Kollegen von der Metro, nicht meine wahren Freunde sind. Mein einziger wahrer Freund bist du.«
Fraser blickte Norm an, dessen Gesicht gezeichnet war von Schuldgefühl und Sorge, und für eine Sekunde sah er wieder den schüchternen, pummeligen Achtjährigen, der sich vor zwanzig Jahren im Fußballclub Bury mit ihm angefreundet hatte und ihm seitdem nicht mehr von der Seite gewichen war.
Fraser trat einen Schritt vor und umarmte ihn. »Und auch du bist mein Freund«, sagte er. »Mein einzig wahrer Freund.«
♥
Gegen ein Uhr nachts saßen Mia, Melody und Fraser in der Bar. Norm und Anna waren schon zu Bett gegangen.
Das Drama und Trauma des Abends war Fraser nahegegangen, und er war erschöpft und den Tränen nah wie immer, wenn die alten Dämonen wieder ihre Fratzen zeigten. Anna schwor, dass Liv nicht gesehen hatte, wie er und Mia sich küssten, dass sie nicht auf dem Balkon gewesen war, als es passierte, aber niemand konnte sich dessen hundertprozentig sicher sein. Vielleicht hatte Anna sie ja nur nicht bemerkt. Nicht, dass das noch von Bedeutung wäre …
»Ich hätte da sein müssen für Liv«, sagte er und biss sich in den Daumennagel. »Ich hätte für sie da sein müssen, doch ich war es nicht.«
»Aber nun begreif doch endlich, Fraser!«, erwiderte Mia. »Wir waren alle betrunken. Keiner von uns war für sie da.«
Fraser starrte seine Hände an. »Doch ich habe Anna gerettet, nicht? Warum konnte ich Liv nicht retten? Und ich weiß immer noch nicht, ob sie glücklich war in ihren letzten Momenten. Das bringt mich um, verdammt noch mal! Es bringt mich um!«
Eine Weile saßen sie schweigend da. Dann konnte Fraser Mias Blick auf sich spüren, und er hob den Kopf und sah, wie sie für einen Moment die Augen schloss, nur eine Sekunde, und dann ein wenig den Kopf wiegte, als hätte sie etwas gedacht und es wieder verworfen.
Während er sie noch beobachtete, stand sie plötzlich auf. »Ich muss ins Bett«, erklärte sie leise. »Melody, du kümmerst dich um ihn, ja?« Dann ging sie zu Fraser und küsste ihn auf die Wange, gerade lange genug, dass er ihren warmen Atem auf der Haut spüren konnte. »Du warst heute Abend großartig. Ich bin sehr stolz auf dich.« Dann gab sie auch Melody einen Kuss und ging.
Jetzt blieben nur noch Fraser und Melody, und das einzige Geräusch war das Summen des verglasten Kühlschranks.
»Ein Bier?«, fragte sie. »Ich habe einen Fünfer, den kann ich ihnen hierlassen.«
Sie ging zu dem Kühlschrank, kam mit zwei Flaschen Budweiser zurück und reichte Fraser den Flaschenöffner.
Fraser öffnete sein Bier und stieß einen tiefen, müden Seufzer aus. »Und wie geht es dir, Mel?«, meinte er, als er sich wieder hinsetzte und sie ansah. »Denn seien wir doch ehrlich – niemand hat dich danach gefragt, oder?«
Melody streifte ihre Schuhe ab und zog die Füße unter sich. »Mir geht’s gut. Tatsächlich sogar mehr als gut, es geht mir blendend.«
»Und was sagst du zu den neuesten Erkenntnissen dieses Abends? Ich meine, ich weiß, dass du und Norm nicht mehr zusammen seid, aber es muss doch trotzdem sehr, sehr wehgetan haben?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Nicht wirklich. Und außerdem ist das sowieso alles Geschichte, nicht? Selbst wenn Liv überlebt hätte, hätte sich irgendwann herausgestellt, dass Norm und ich nicht zueinanderpassen. Und vielleicht wäre ja aus dir und Mia noch ein Paar geworden? Am Ende kommt ja doch immer alles heraus.«
Fraser lächelte schwach. Daran hatte er gar nicht gedacht. Wie lebensklug seine alte Freundin wurde! Wie stark sie sich in allem erwiesen hatte! Er war wirklich stolz auf sie.
Schweigend tranken sie ihr Bier. »Darf ich etwas sagen?«, fragte Melody nach einer Weile. »Darf ich ganz offen zu meinem Freund sein?«
»Ja, aber wenn ich noch mehr Offenbarungen heute Abend höre … noch mehr Enthüllungen, dann kippe ich vielleicht noch aus den Latschen!«
Melody lachte geheimnisvoll. »Nein, es ist keine Enthüllung. Mehr ein guter Rat: Du musst aufhören zu denken, du hättest irgendwas mit Livs Tod zu tun gehabt.«
Fraser biss sich ins Handgelenk und sah sie von der Seite an, als wäre das, was sie ihm riet, zu viel von ihm verlangt.
»Es war ihr Tod und ihr Leben, Fraser. Sie ist es, die ihr Leben verlor, nicht du. Sei mir nicht böse, aber zu glauben, dass irgendein Kuss oder du und Mia etwas damit zu tun hattet, ist nichts weiter als arrogant und egoistisch.«
Schuld ist ein egoistisches und nutzloses Gefühl. Das hatte Melody schon einmal zu ihm gesagt, und jetzt erinnerte er sich wieder daran.
Er ließ ein kurzes, beschämtes Lachen hören.
»Wir müssen sie gehen lassen«, meinte Melody. »Wir müssen Liv gehen lassen.«
♥
Fraser lag auf seinem Bett, noch voll bekleidet und weit entfernt davon zu schlafen, weil seine Gedanken ihm keine Ruhe ließen. Er wollte mit Mia sprechen. Musste mit ihr sprechen. Er nahm das Telefon von seinem Nachttisch und saß dann ein paar Sekunden wie gelähmt im Bett. Würde sie ärgerlich sein, wenn er sie weckte? Oder vielleicht schlief sie ja noch gar nicht? Er schaute auf die Uhr: 1 Uhr 45. Er stellte sie sich vor, ganz allein in ihrem Bett, und sah sich ihre Decken anheben, leise neben ihr darunterschlüpfen und seine Arme um ihren weichen, warmen Körper schlingen, um dann bis zum Morgengrauen so neben ihr liegen zu bleiben.
Der Wunsch, es zu tun, war so überwältigend, dass er im Bett auffuhr und beschloss, zu ihr hinüberzugehen. Dann begriff er, dass er sie damit zu Tode erschrecken könnte, und entschied sich, sie stattdessen anzurufen. Aber sie meldete sich nicht, und für eine Sekunde ergriff ihn Panik. Wo war sie? Wo konnte sie um Viertel vor zwei Uhr morgens hingegangen sein? Vielleicht war irgendetwas nicht in Ordnung? Oder vielleicht ignorierte sie ihn ja auch einfach nur.
Wie ferngesteuert ging er zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Und da sah er sie. Sie saß unten am Rand des Kanals und ließ die Füße über dem Wasser baumeln.
Der zusätzlichen Wärme wegen trug sie über ihrem Mantel einen der flauschigen Bademäntel des Hotels, worüber Fraser lächeln musste, denn sie sah aus wie eine Gefängnisinsassin auf Freigang.
Er betrachtete sie eine Weile – ihr Profil, ihren Nacken, der so schlank und elegant war mit dem hochgesteckten Haar –, und ein Gefühl schwellte ihm die Brust, das so stark war, dass es ihm den Atem raubte. Ohne weiter darüber nachzudenken, warf er sich die Jacke über, griff nach seinen Schlüsseln, verließ das Zimmer und stürmte die Treppe hinunter.
Er nahm die kleine Gasse neben dem Hotel, ging dann über den knirschenden Kies zu ihr hinüber und rief ihren Namen.
Sie drehte sich um.
»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte er. »Ich hätte auch meinen Bademantel mitbringen sollen.«
»Was für eine Nacht, hm?«, sagte Fraser, als er sich neben ihr niederließ und eine Hand auf ihr Bein legte. »Es ist kurz vor zwei Uhr morgens – was tust du hier draußen?«
»Nachdenken. Ich denke darüber nach, wie wir uns kennenlernten, und über alles, was seither geschehen ist …«
Fraser seufzte. »Ja, und wer hätte gedacht, was noch alles vor uns lag, als du mich damals an jenem schicksalhaften Tag unter Hypnose ansprangst!«
Mia presste die Lippen zusammen und wandte sich ihm zu. »Ich war nicht hypnotisiert, Fraser …«
»Du warst es nicht?«
»Nein.«
»Ja, aber warum …?«
»Denk mal drüber nach!«
Fraser blickte sie stirnrunzelnd an und lächelte nervös.
Eine Weile sagten sie nichts, saßen nur da und starrten in das schwarze Wasser, und ab und zu berührten sich ihre Füße, wenn sie sie hin und her schwenkten.
»Dann bist du also noch nicht müde?«, fragte Fraser schließlich. »Ich dachte, du wärst gleich zu Bett gegangen.«
»Ach, weißt du … Ich wollte nicht den Tod durch ein eisernes Rad riskieren. Als Freundeskreis scheinen wir ja wirklich nicht viel Glück zu haben.«
Fraser lachte. »Ja, ich denke, es ist nicht übertrieben zu sagen, dass wir nicht unbesiegbar sind. Es könnte einfach irgendwann alles vorbei sein.« Er wandte sich ihr zu. »Doch es ist nicht alles vorbei, oder?«
»Nein, Fraser, das ist es nicht«, erwiderte Mia lächelnd.
»Aber hast du manchmal das Gefühl, als wäre es das?«
Sie schauten einander fest in die Augen; ihre Gesichter waren nur noch Zentimeter voneinander entfernt.
»Ja, manchmal. Doch dann rufe ich mir in Erinnerung, was der springende Punkt ist.«
»Es einfach zu genießen.« Er versucht nicht einmal, es wie eine Frage klingen zu lassen, dachte Mia.
»Ja, genau. Es einfach zu genießen.«
»Und die Dinge zu tun, die uns wichtig sind, solange wir es können.«
Er konnte ihren Atem auf seinem Gesicht spüren, und ihre Lippen berührten schon beinahe die seinen.
»Und was ist wichtig?«, fragte Mia, obwohl Fraser vermutete, dass sie die Antwort bereits kannte. »Was ist dir wirklich wichtig, Fraser?«
Er beugte sich vor und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. »Das«, sagte er und küsste sie. »Du.«