Herr Palmer,
Sie haben diesen Satz Ende April 2020 gesagt, also relativ früh in der Pandemie. Das ist jetzt schon um einiges mehr als ein halbes Jahr her. Und natürlich haben Sie recht! Vielleicht sind heute einige der Leute, die wir durch die Maßnahmen vor Corona bewahrt haben, trotzdem schon tot. Warum also haben wir das überhaupt getan? Was ist schon ein halbes Jahr? Obwohl, ich kenne ein sechs Monate altes Baby. Das findet ein halbes Jahr wahrscheinlich viel. Und wissen Sie was? Ich glaube, auch ein Achtzigjähriger findet ein halbes Jahr viel. Zeit ist eben nur da bedeutsam, wo sie anfängt oder endet. Es ist die Arroganz der gesunden Mittelalten zu glauben, die Sache mit der Endlichkeit betreffe sie nicht. Und habe sie auch nicht zu betreffen. Das mit dem Sterben sollen mal schön die Alten übernehmen! Sterben, das machen wir nicht selbst, da haben wir Leute für!
Und ich finde die Einstellung gut. Es ist doch höchste Zeit, dass wir mal den Wert eines Menschenlebens ausrechnen! Als Währung schlage ich «Palmer» vor. Der Wert Ihres Lebens beträgt genau ein Palmer. Sie sind elf Jahre älter als ich, also ist mein Leben schon 1,3 Palmer wert. Und ein Achtzigjähriger ist nur 0,6 Palmer wert, also weniger als die Hälfte von mir. Daraus folgt: Wenn ein Achtzigjähriger ein Beatmungsgerät bekommt, dann will ich zwei Beatmungsgeräte!
Natürlich haben Sie das alles wieder gar nicht so gemeint. Aber Sie haben es gesagt, und da Sie zwar moralisch ein höchst wunderlicher Mensch zu sein scheinen, aber vermutlich trotzdem klug sind, haben Sie es auch mit voller Absicht gesagt. Um den Diskurs zu verschieben. Um den Gedanken mal in den Raum zu stellen. Denn wenn so ein Gedanke erst mal im Raum steht, wird er zwar meist in irgendeine Ecke geschoben, aber er bleibt im Raum. Und dadurch rückt alles andere weiter in die Mitte.
Wenn ich so etwas höre, frage ich mich immer, ob die Erde von unsympathischen Menschen bevölkert ist. Aber ich glaube das gar nicht. Ich glaube nicht, dass alle Menschen schlecht sind, auch Sie nicht. Ich glaube nur, dass es die meisten Menschen anstrengt, gut zu sein. Deshalb klappt das immer nur für kurze Zeit. Wenn alle Krisen der Menschheit nur zwei Wochen dauern würden, wären wir grandios darin, sie zu meistern. Vor ein paar Jahren haben wir uns an Bahnhöfe gestellt und applaudiert, weil Flüchtlinge es bis nach Deutschland geschafft haben. Wir haben Kleider, Zeit, Geld und Essen gespendet. Aber ein paar Wochen später haben wir halt Steine auf Flüchtlingsunterkünfte geworfen. Also nicht wir wir, aber wir als Gesellschaft. Und in einer Pandemie sperren wir uns zuhause ein, tragen Masken, halten Abstand und stellen das Wohl der Risikogruppe über unser eigenes. Aber schon wenige Wochen später gehen wir mit der Risikogruppe um wie mit jeder anderen Minderheit auch: Wir sagen ihr, dass sie sich nicht so anstellen soll. Alte Menschen sterben ja eh bald. Kranke Menschen auch. Oder auch nicht. Egal, ich will shoppen gehen! Ich will Leute treffen! Ich will in den Urlaub fahren! Ich will – und das ist ja durchaus verständlich – wieder Geld verdienen! Und dann kommt durch Menschen wie Sie, Herr Palmer, die Frage auf, die erschreckenderweise immer aufkommt, wenn es um den Schutz anderer geht: «Oder soll man es lassen?»
Das war vor ein paar Jahren der Titel einer ZEIT -Diskussion über Seenotrettung und könnte jetzt Ihr neuer Slogan sein. Schließlich will Ihre Partei Sie ja ohnehin loswerden. Sie könnten eine neue Partei gründen. Die «Oder soll man es lassen?»-Partei. Und da Sie dann Vorsitzender sind, können Sie sich die Frage auch selbst öfter mal stellen. Wenn Sie eine Interviewanfrage bekommen, zum Beispiel. Oder wenn Sie einen Satz anfangen. Manchmal reicht es auch schon, einfach den zweiten Teil des Satzes wegzulassen. «Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen.» Reicht doch. So ist es sogar ein richtig schöner Satz. Den hätten Sie einfach so lassen sollen.