Liebe Bundesregierung,
erinnern Sie sich an diese «allesdichtmachen»-Aktion? Diese Videos von fünfzig Schauspieler*innen? Ich hoffe es nicht, denn alles daran war traurig, nicht zuletzt die schauspielerische Leistung der Beteiligten. Ich will auch gar nicht weiter darüber reden, das deprimiert mich nur. Bloß über eine Sache, die besonders nervt: dass das ausgerechnet Leute aus der Kulturszene waren. Immer wenn ich jetzt traurig darüber bin, dass die Theater und Clubs und Kinos unter der Pandemie zu leiden haben, denke ich: Oh nein, hoffentlich steigt nicht der unbändige Wunsch in mir auf, ein zynisches, unreflektiertes und überhebliches Video ohne konkrete Lösungsvorschläge über die Corona-Maßnahmen zu drehen, das durch seine bloße Existenz alle berechtigten Hilfeschreie aus der Kulturbranche diskreditiert! Dabei ist das ja Quatsch. Ich glaube, wir haben verlernt, einen Zustand zu bedauern, ohne ihm seine Notwendigkeit abzusprechen. Ja, die Maßnahmen machen wenig Spaß. Und ja, es ist schlimm, dass Kunst und Kultur an diesem Virus sterben. Doch nein, deshalb sollten wir nicht mehr Menschen daran sterben lassen. Aber vielleicht die Lufthansa. Nur so eine Idee, liebe Bundesregierung. Von dem Geld, das die Lufthansa von Ihnen und uns geliehen bekommt, könnte man die gesamte Kulturbranche nämlich dreimal retten.
Stattdessen gibt es nur zwei Extreme: Für die einen sind Kunst und Kultur eine verzichtbare «Freizeitgestaltung», die anderen sehen ihre Kunst schon zu wenig gewürdigt, wenn ein paar Plätze im Saal frei bleiben müssen. Ich glaube, beide haben unrecht. Vom finanziellen Aspekt völlig abgesehen, bei aller künstlerischen Eitelkeit: Wenn ein Mindestabstand im Publikum die Kunst zerstört, dann war es nie gute Kunst. Wenn ein Orchester nicht auch für nur eine Person spielen kann, dann liebt es weder die Musik noch die Menschen genug. Wenn einem Comedian vor wenig Publikum seine Witze dumm vorkommen, weil ihm das laute Gelächter fehlt, dann waren die Witze auch vorher schon dumm. Eitelkeit ist ein Luxus für bessere Tage. Ein bisschen Demut vor dem Schutz von Leben steht uns schon ganz gut. Das muss uns ja nicht daran hindern, den Wert von Kunst und Kultur zu erkennen. Und den Verlust zu spüren. Kultur ist mehr als eine Freizeitgestaltung. Kunst und Kultur leisten, was fälschlicherweise nur der Religion zugesprochen wird: Sie spenden Geborgenheit, sie helfen der Gesellschaft bei ihrer eigenen Sinnfindung. Der Verdacht von Verzichtbarkeit kann sich nur da einschleichen, wo es sie im Überfluss gibt.
Die heutige Gesellschaft hat sehr, sehr viel Kultur auf Vorrat. Wenn unser Küchenschrank immer gut gefüllt mit haltbaren, konservierten Lebensmitteln wäre, fänden wir auch Supermärkte verzichtbar. Klar, ab und zu wäre es schon schön, frisches Gemüse zu kaufen, aber man kann auch mal eine Krise lang ohne. Und man kann auch mal eine Krise lang ohne Konzerte, Lesungen, Ausstellungen und Theateraufführungen. Aber nur, weil man haltbare, konservierte Kunst und Kultur im Küchenschrank hat. Ich glaube nicht, dass die Leute die Kultur so verzichtbar fänden, wenn dieser Schrank leer wäre. Dann müssten sie jetzt nämlich monatelang zuhause sitzen und könnten kein Netflix gucken, kein Buch lesen, keine Musik hören. Es gäbe kein Fernsehen, kein Radio, kein YouTube, keine Serienmarathons, keine Fantasyromane, keine Lyrik des poetischen Realismus, keine Gemälde und keine Tonträger mit Musik von Beethoven. Es wäre sehr, sehr still in unseren Wohnzimmern. Es wäre still, und wir wären um einiges einsamer.
Ich habe etwas getan, liebe Bundesregierung, das das Problem genauso wenig lösen wird wie alles, was Sie bisher getan haben: Ich habe der Kultur ein Gedicht geschrieben.
Natürlich lieben wir Kultur!
Wir lieben das gemeinsam Fühlen
Lieben Bühnen, lieben Bücher
Lieben das Theaterspielen
Lieben Kunst und lieben Tanz
Wir rotzen gern auf harten Stühlen
Im dunklen Saal in Taschentücher
Um uns durch unser’n Wahn zu wühlen
Wir lieben ihn, des Dramas Glanz
Natürlich lieben wir Kultur!
Wir lieben sie, wir lieben sie
Wir lieben sie! Sie schmückt so schön
Wenn’s uns grad in den Alltag passt
Das Grau des kahlen Restverstands
Sie spendet Trost und Energie
Sie reflektiert, ist krass, obszön
Sie schenkt uns Halt und Herz und Hass
Doch gibt ihr das schon Relevanz?
Natürlich lieben wir Kultur!
Doch das System braucht keine Liebe
Das System braucht das System
Die Kunst kann warten, jetzt ist Krise
Wenn sie dran stirbt: nicht mein Problem!
Wir haben reichlich Kunst gespeichert
CD -Konserven, Netflix-Tanks
Hab’n Stoff auf YouTube angereichert
Und ja, wir haben Markus Lanz
Doch was, wenn dieses Polster schwindet
Weil uns die Quelle langsam stirbt?
Wenn Sang und Klang ins Nichts abschwellen
Verliert die Kunst dann ihre Erben?
Was bleibt dann noch, das uns verbindet
Und nicht im Vorratsschrank verdirbt?
Kannst Herzen nicht auf Stand-by stellen
Nicht, ohne dass sie daran sterben