Liebe Eltern dieser Elfjährigen,

ich weiß, ihr folgt nur einem Trend, den die Querdenken-Bewegung für sich entdeckt hat: sich wie Juden im Dritten Reich zu fühlen. Das ist so ein Ding. Das macht man jetzt offenbar so. Auf Demos werden gelbe Sterne mit der Inschrift «Impfen macht frei» getragen, Leute nennen das Infektionsschutzgesetz «Ermächtigungsgesetz», Jana aus Kassel will lieber Sophie heißen, weil sie sich nun mal wie eine Freiheitskämpferin gegen die Nazis fühlt. Ich habe das selbst noch nicht ausprobiert, aber es scheint richtig gutzutun. Vielleicht wollen das ja andere auch mal versuchen. Wer Überstunden machen muss, einfach mal sagen: «Das ist ja wie im KZ hier!» Was da für ein Ballast abfallen muss! Normalerweise versucht man die eigenen kleinen Unannehmlichkeiten ja immer einzuordnen und abzugrenzen gegen das große Leid der Welt. Aber nein, ihr macht es richtig: Scheiß auf Verhältnismäßigkeit! Maske tragen ist wie vergast werden! Wenn ihr das so fühlt, dann muss die Welt das ernst nehmen.

Es mag ein allgemeiner Trend sein, aber ich möchte euch ein besonderes Lob aussprechen. Was für ein Vergleich! Da stimmt einfach alles! Einen Geburtstag nicht richtig feiern zu können, das ist tatsächlich, wie sich vor Nazis verstecken zu müssen. Ich finde die Idee so toll, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass sie wirklich von einer Elfjährigen kam. Da habt ihr, liebe Eltern, ganz offensichtlich ein bisschen mitgeholfen. Und Anne Frank ist natürlich das perfekte Beispiel. Sie konnte ja auch einige Geburtstage nicht feiern. Einfach, weil sie nur fünfzehn Jahre alt geworden ist. Eure Tochter ist jetzt elf. Wenn eure Tochter wie Anne Frank ist, dann sage ich euch, was jetzt kommt: Wenn eure Tochter wie Anne Frank ist, dann müsst ihr komplett untertauchen, wenn sie dreizehn ist, um nicht deportiert und ermordet zu werden. Ihr lebt also zwei Jahre lang zu acht in einer kleinen Wohnung eingesperrt, eure Tochter darf nicht laut sein und das Haus nicht verlassen, das kennt ihr ja jetzt schon von ihrem Geburtstag. Nur halt zwei Jahre lang, weil ihr – bloß zur Erinnerung – sonst deportiert und ermordet werdet. Kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag werdet ihr verraten, sie wird für immer von euch getrennt und kommt mit ihrer Schwester zunächst nach Auschwitz und dann nach Bergen-Belsen. Zum Glück ist sie schon fünfzehn, denn sonst wäre sie sofort vergast worden. So hat sie immerhin noch ungefähr ein halbes Jahr zu leben. Und es ist ein schönes halbes Jahr. Sie wird ausgezogen, rasiert, kriegt eine Nummer eintätowiert, arbeitet, siecht dahin, sie infiziert sich mit Krätze, sie verliert ihre Schwester, die ein paar Tage vor ihr stirbt, und dann stirbt auch sie. Zwei Monate bevor sie befreit worden wäre. Mit fünfzehn Jahren. Begraben wird sie in einem Massengrab, ihr Todesdatum wird nicht mal mehr notiert.

So sähe das Leben eurer Tochter aus, wenn sie Anne Frank wäre. Sie ist aber nicht Anne Frank. Sie ist ein elfjähriges Mädchen in einem der momentan reichsten und sichersten Länder der Welt, das mit etwas besseren Vorbildern bestimmt zu begreifen in der Lage wäre, dass niemand sterben sollte, damit sie ihre Geburt feiern kann. Doch in einer Hinsicht hat sie es wohl tatsächlich schlechter erwischt als Anne Frank: mit ihren Eltern.

Sie ist ja keine Ausnahme auf euren Demos. Immer wieder sieht man Plakate, auf denen steht: «Anne Frank wäre bei uns!» Und das kann natürlich sein, ich will nicht für sie sprechen. Aber wenn Anne Frank noch leben würde, wäre sie jetzt über neunzig Jahre alt, also Teil der Risikogruppe. Ihr Leben und ihr Tod wären euch egal. Ihr Leben und ihr Tod sind euch egal, sonst würdet ihr ihr Leid nicht derart relativieren, um euch in eurer Bequemlichkeit suhlen zu können. Oder um es in eurer Sprache zu sagen: Ihr seid ein bisschen wie Hitler.