Erinnern Sie sich noch an die Punks auf Sylt, Herr Lindner? Sylt kennen Sie natürlich, den Ort, an dem die Reichen ihrer Schönheit frönen, an dem der Quadratmeterpreis ungefähr so weit über dem Bundesdurchschnitt schwebt wie die mit Gucci-Handtaschen bestückten Möwen über dem Meer. Den Ort, an dem Hummer und Champagner über Einsamkeit und schlechten Charakter hinweghelfen. Den Ort, den man vom Befall des Pöbels freigekauft hatte. Dieser Ort wurde im Sommer 2022 von Punks belagert. Schuld war natürlich das 9-Euro-Ticket, das den Schutzwall gegen das gemeine Volk zu einem Schutzwällchen degradiert hatte. Wobei ich das lustig finde. Das Teure an Sylt ist ja nicht nur die Anreise, sondern vor allem Sylt. Aber Punks wären nicht Punks, wenn sie nicht auch dafür eine Lösung gefunden hätten. Wie Spiegel Online berichtete, hatten sich einige von ihnen übers Internet Bier nach Sylt bestellt, um es nicht mitschleppen oder vor Ort kaufen zu müssen. Kapitalismuskritik durch Amazon -Bestellungen. Warum nicht?
Ich finde diese fröhliche Begegnung zwischen abgeschottetem Reichtum und allem, wovon er sich abschotten will, jedenfalls einen ganz wundervollen Anlass, um über Armut zu sprechen. Armut in Deutschland. Ich könnte Sie jetzt mit Zahlen langweilen, Herr Lindner. Ich könnte sagen, dass man in Deutschland als arm gilt, wenn man weniger als 1074 Euro pro Monat zur Verfügung hat. Dass in Deutschland über 13 Millionen Menschen in relativer Armut leben. Dass jedes fünfte Kind arm ist. Dass die wohlhabendsten zehn Prozent der deutschen Haushalte zusammen ungefähr sechzig Prozent des Gesamtvermögens besitzen …
Herr Lindner! Wach bleiben! Ich weiß, Zahlen sind nicht Ihr Ding. Reden wir also nicht über Zahlen. Reden wir über die Leute, die versuchen, Armut in Deutschland mit ihren Geschichten darzustellen. Nein, noch besser: Reden wir darüber, wie über Leute geredet wird, die versuchen, Armut in Deutschland mit ihren Geschichten darzustellen. Das ist nämlich interessant. Weil es zeigt, wie schwierig es ist, Menschen dazu zu kriegen, sich mit dem Unglück anderer zu beschäftigen.
Es gibt auf Twitter den Hashtag #IchbinArmutsbetroffen, unter dem Menschen ihre Geschichten aufschreiben. Es macht nicht viel Spaß, das zu lesen. Es sind jammernde Menschen. Ich habe selten so viel Demütigung, Scham und Hoffnungslosigkeit auf einem Haufen gesehen. Das sind ja alles Emotionen, auf die wir wenig Lust haben. Da sind Menschen, die schimmeliges Brot essen, die sich kein Sonnenspray leisten können, keine Bücher, keinen Urlaub, deren Familien sich abgewandt haben, die krank sind und einsam, die aufgehört haben, nach Liebe zu suchen, weil sie niemandem zur Last fallen wollen, und ja, die durch das 9-Euro-Ticket plötzlich überall hinkonnten. Denn das ist ja das Ding mit Armut: Sie hält dich gefangen. Die wenigsten Menschen in Deutschland verhungern, aber viele können sich nicht aussuchen, was sie essen wollen, können nicht wegfahren, können nicht in eine Bar gehen oder ins Kino, können ihren Kindern keine Geschenke kaufen. Für gesellschaftliche Teilhabe braucht man Geld. Im Kapitalismus kein Geld zu haben, ist vielleicht das größte Tabu, das in unserer Gesellschaft noch existiert. Du musst nicht mehr an Gott glauben, du darfst Mann sein und trotzdem einen Mann küssen, du darfst Frau sein und trotzdem manchmal reden, du darfst jeden Fetisch haben. Es darf dein einziger Weg zu sexueller Lust sein, dass dich eine dreiundsechzigjährige Krankenpflegerin in Bauarbeiterklamotten mit einem in Urin getränkten Staubwedel vermöbelt – alles kein Ding. Aber wenn du sagst: «Ich weiß nicht, wie ich meinen Kindern ein Weihnachtsgeschenk kaufen soll», wird jedes Gespräch mindestens unangenehm. Wenn es nicht beendet ist. Aber wahrscheinlich ist es nicht beendet, denn viel zu verlockend ist es für dein Gegenüber, herauszufinden, wer die Schuld an deiner Misere trägt. Und nach ungefähr zehn Sekunden zu dem Schluss zu kommen: Die Schuld liegt natürlich bei dir! Und dann kommen die ungefragten Tipps: «Gib halt weniger Geld aus! Oder such dir einfach einen anderen Job! Oder geh überhaupt mal arbeiten! Ach, du bist chronisch krank? Wieso, ist Faulheit jetzt eine anerkannte Krankheit? Was, Depression? Ja, ich bin auch manchmal traurig! Komm, raff dich auf! Wer nichts leistet, darf auch keine Wünsche haben! Wenn du richtige Armut sehen willst, guck mal in andere Länder! Krieg mal dein Leben auf die Reihe! Geh an die Sonne! Hör auf, den anderen auf der Tasche zu liegen! Unsere Gesellschaft hat schon genug Probleme mit euch sozial Schwachen!» Oder, meine Lieblingsreaktion auf einen Tweet unter #IchbinArmutsbetroffen: «Hi, schonmal was von Trading und Aktien gehört? Einfach mal dein Geld bisschen anlegen, anstatt jeden Tag 10er Schachtel Marlboro rauszulassen.» Das war wahrscheinlich nicht ernst gemeint, aber es war zu schön, um ignoriert zu werden. Ich glaube, all diese Tipps lassen sich so zusammenfassen: «Ändere einfach all die Dinge an dir und deinem Leben, die du längst geändert hättest, wenn du könntest.»
Natürlich gibt es Leute, die das System ausnutzen. Natürlich gibt es faule Menschen. Aber nicht jeder Mensch ohne Geld ist faul. Es gibt viele Ursachen für Armut: Jobverlust, Krankheit, Trennung, Kinder, Diskriminierung, zum falschen Zeitpunkt Twitteraktien gekauft – es kann uns allen passieren. Nicht selten wird Armut über Generationen vererbt, weil arm zu sein eben mehr bedeutet als nur kein Geld zu besitzen. Armut bedeutet auch: schlechtere Chancen zu haben. In der Bildung, auf dem Wohnungsmarkt, in der Arbeitswelt. Gleichberechtigung bedeutet noch keine Gleichstellung. Das ist zwischen den Geschlechtern so, zwischen verschiedenen Hautfarben und eben auch zwischen Arm und Reich.
Natürlich haben Sie viel zu tun. Sie müssen Ihre Kämpfe sorgfältig wählen. Aber ich weiß nicht, Herr Lindner. Meinen Sie wirklich, dass die «Gratismentalität» von Menschen mit wenig Geld das drängendste Problem in diesem Land ist? Dass sich Menschen ihre Armut aussuchen? Und dass ein armer Mensch, egal, ob er nun «selber schuld» ist oder nicht, es gerade gebrauchen kann, verachtet zu werden? Ich mag mich irren, aber ich glaube, die wenigsten Menschen können das gebrauchen. Ja, unsere Gesellschaft hat ein Problem mit sozial Schwachen. Aber nein, damit sind nicht die Menschen mit wenig Geld gemeint.