Leute, allmählich wundert mich gar nichts mehr. Mich wundert nicht, wieso es bis vor hundert Jahren kein Frauenwahlrecht in Deutschland gab, wieso es bis 1997 gedauert hat, um Vergewaltigung in der Ehe zur Straftat zu machen, und bis 2017, um die gleichgeschlechtliche Ehe zu erlauben. Mich wundert nicht, dass es bis heute nicht gelungen ist, etwas in jeder Hinsicht Sinnvolles wie ein Tempolimit auf Autobahnen einzuführen. Mich wundert nicht mal mehr – und ich weiß, das ist ein fast immer unangebrachter Vergleich –, aber mich wundert nicht mal mehr, wie «das mit den Nazis damals» passieren konnte. Man muss sich nur angucken, wie jetzt gerade über Klimaschutz geredet wird, und es wundert einen nichts mehr.
Die Situation ist eindeutig. Die Wissenschaft ist eindeutig. Die Fakten zum menschengemachten Klimawandel sind im Großen und Ganzen ausgehandelt, zumindest so weit, dass sie eine klare Sprache sprechen. Alles, was wir tun müssten, ist zuhören und dann auf Basis des Gehörten vernünftig handeln. Das ist alles. Und ich bin ziemlich sicher, dass wir genau das tun würden, wenn es nicht so viele Menschen gäbe, die mit dem Weltuntergang Geld verdienen würden. Die fossile Lobby arbeitet aktiv daran, die Menschheit aussterben zu lassen, weil sie unbedingt reich begraben werden möchte. Die FDP arbeitet aktiv dagegen, das Aussterben der Menschheit zu verhindern, weil sie nun mal eine Welt anstrebt, in der es kein Wir, sondern nur noch ein Ich gibt. Die CDU will einfach nur, dass die Ampel schlecht dasteht. Die AfD will die Sonne verklagen. Die BILD begräbt jede sinnvolle Debatte über Klimaschutz unter reißerischen Schlagzeilenbergen, weil sie fürchtet, Leute könnten sonst bemerken, dass ihr für guten, ausgewogenen Journalismus das Talent fehlt.
Und so gibt es immer, in jeder Debatte, die destruktiven Kräfte, die mit großer Reichweite und Wirkung Lügen verbreiten, die Aussagen und Taten absichtlich fehlinterpretieren, die Dinge aus dem Kontext reißen, die mit voller Berechnung niedere Instinkte anstacheln. Und es gibt immer die Dummen oder Denkfaulen oder Fühlfaulen, die dafür empfänglich sind, die nichts anderes wollen, als nach einem emotional unbefriedigenden Tag Zeitung zu lesen oder Fernsehen zu gucken oder ins Internet zu gehen und vom Sofa aus: «Weg mit dem Gesindel, den Schmarotzern, den Gören, den Ausländern, den Terroristen!» zu brüllen. Denn egal, wie machtlos diejenigen sind, die medial als Unruhestifter präsentiert werden, den Sofaschimpfer*innen gelingt es immer, sie als Bedrohung für die eigene Bequemlichkeit zu sehen und als Sündenbock für die Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben.
«Ich kriege keinen Job? Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg!»
«Ich habe einen Job, den ich aber hasse? Die Sozialschmarotzer leben von meinen Steuern!»
«Ich kriege keine Frau ab? Die linksgrünversifften Schlampen haben verlernt, echte Männer zu lieben!»
«Ich stehe jeden Morgen eine Stunde im Stau, weil nicht genug Geld in den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs gesteckt wird und sich zu viele Leute haben einreden lassen, ein fettes Auto sei ein erstrebenswertes Statussymbol? Die Klimaterroristen haben sich auf der Autobahn festgeklebt!»
Und über die «Klimaterroristen» – das scheint inzwischen ein gängiges Synonym für Menschen zu sein, die den Planeten auch für unsere Kinder bewohnbar halten wollen – lässt es sich gerade besonders gut aufregen.
Lasst uns kurz den unangenehmen Teil hinter uns bringen: die Fakten. Uäh, Fakten. Ich weiß. Also ganz schnell. Seit einer Weile wird ziemlich viel über die Klimaproteste der Letzten Generation geredet. Zuerst offenbarte sich eine Nation der Gemäldeliebhaber*innen, die vor lauter Kunstsinn die Existenz von schützenden Glasscheiben leugnete, und dann kam die Geschichte mit dem Betonmischer, dem Stau und der Fahrradfahrerin. Folgendes ist passiert: Die Letzte Generation hat als Klimaprotest eine Autobahn blockiert. Es ist ein Stau entstanden. Unabhängig davon gab es einen Unfall, bei dem ein Betonmischer, also ein Lkw, eine Fahrradfahrerin überrollt hat, die letztlich an ihren Verletzungen gestorben ist. Ein Spezialrüstwagen von der Feuerwehr stand im Stau und kam verspätet zum Unfallort.
Dann gab es ein paar Tage der Unklarheit: Hatte der Stau Einfluss auf die Rettung der Fahrradfahrerin? Hätte sie sonst vielleicht überlebt? Wer trug die Schuld an der fehlenden Rettungsgasse? Hat der Klimaprotest vielleicht zum Tod eines Menschen beigetragen?
Und dann kamen die Erkenntnisse: Beim Klimaprotest war die Rettungsgasse wohl eingeplant, bei den Autofahrer*innen offenbar nicht. Zudem sagte die Notärztin im Einsatz, der Spezialrüstwagen wäre ohnehin unter keinen Umständen eingesetzt worden. Doch während immer wahrscheinlicher wurde, dass die Letzte Generation keine Schuld trifft, entwickelte sich die Debatte immer weiter in Richtung «Das sind Mörder und Terroristen!». Daran kann man sehen, dass Debatte und Fakten nicht mehr verbindet als eine lose Bekanntschaft. Wenn sie sich zufällig auf der Straße treffen, unterhalten sie sich vielleicht mal kurz, ab und zu verbringen sie sogar mal eine Nacht miteinander, aber die Debatte ist nie bereit, eine feste Bindung mit den Fakten einzugehen, und die Fakten wollen sich natürlich auch nicht aufdrängen.
Was hängen bleibt, ist das Bild der Radikalen, der «Klima-RAF », der «Terrorist*innen», die bereit sind, für ihre Sache über Leichen zu gehen. Das wird natürlich sofort politisch ausgenutzt. Die Union zum Beispiel ergriff die Gelegenheit, um härtere Strafen für Klimaaktivist*innen zu fordern. Was zu der etwas traurigen Erkenntnis führt: Wenn der Staat so gut darin wäre, den Klimawandel zu bekämpfen wie Protestierende, hätten wir kein Problem. In Bayern wurden diverse Mitglieder der Letzten Generation für dreißig Tage in Polizeigewahrsam genommen. Auf richterliche Anordnung, ohne Prozess. 2017 hat Bayern sein «Polizeiaufgabengesetz» reformiert, wodurch es plötzlich möglich war, Menschen auf unbestimmte Zeit einzusperren, wenn von ihnen eine «drohende Gefahr» ausging. Ja, man hätte Leute theoretisch für immer ins Gefängnis werfen können, und als Begründung hätte ein diffuses «Vielleicht machen die mal etwas Blödes» ausgereicht, eine «drohende Gefahr», was wohl der schwammigste Begriff ist, den die Rechtssprache jemals in ihre Nähe gelassen hat. Daraufhin kam so viel Protest, dass die «drohende Gefahr» umformuliert wurde zu einer «konkreten Wahrscheinlichkeit», dass «in absehbarer Zeit Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung zu erwarten sind», und die Unendlichkeit wurde auf einen, bei Verlängerung auf zwei Monate herabgesetzt. Nun ist es etwas weniger krass, aber immer noch ein immenses Machtinstrument. Es ist ein Anti-Terror-Gesetz. Mit dem Klimaaktivist*innen eingesperrt werden. Einen Monat lang. Damit sie nicht demonstrieren. Das ist ein Skandal. Der aber nicht als solcher wahrgenommen wird, weil das Framing funktioniert. Weil nun mal das Bild der Radikalen hängen geblieben ist, die bereit sind, für ihre Sache über Leichen zu gehen. Und das birgt ein paar Probleme.
Erstens: Solange darüber geredet wird, ob die Protestierenden Mörder*innen sind, wird nicht übers Klima geredet.
Zweitens: Es ist unmöglich geworden, die Klebeproteste konstruktiv zu kritisieren, weil man damit Leuten wie der Springerpresse in die manipulativen Hände spielt. Dabei wäre ein sachliches Hinterfragen der Protestform sinnvoll. Ich kann zum Beispiel zugleich anerkennen, dass die Aktivist*innen vermutlich keine Schuld an dem Tod der Radfahrerin trifft und dass Autofahrer*innen gesetzlich dazu verpflichtet sind, im Stau auf Autobahnen eine Rettungsgasse zu bilden, und trotzdem finden, dass die Protestform zu gefährlich ist. Erstens, weil sich die Letzte Generation am Tag nach dem Vorfall selbst nicht sicher war, ob sie die Rettung der Fahrradfahrerin verzögert hat – es wäre also möglich gewesen und könnte in Zukunft passieren –, und zweitens, weil wir alle wissen: Menschen in Autos sind gefährlicher als Menschen ohne Autos. Das mit der Rettungsgasse funktioniert fast nie. Wer den Verkehr blockiert, muss das mitdenken, muss die Rücksichtslosigkeit der anderen voraussehen. Moralisch gesehen natürlich nicht, aber praktisch bin ich trotzdem dafür. Damit niemand zu Schaden kommt. Wir müssen nun mal mit dem arbeiten, was wir haben. Also mit verantwortungslosen Menschen in stinkenden Blechbüchsen. Genau wie wir mit der Gesellschaft arbeiten müssen, die wir haben, mit den Medien, die wir haben, und mit dem Hang zu vorschnellen Urteilen, den wir haben. Auch das Ausschlachten durch die Destruktiven, sobald sie eine Chance bekommen, hätte man also mitdenken können. Wobei man das auch als Argument für die Protestform sehen kann, denn so gibt es immerhin Aufmerksamkeit. Habt ihr mitbekommen, dass Klimaaktivist*innen zuvor Hörsäle und Schulen besetzt haben? Natürlich nicht! Darüber hat sich ja auch niemand aufgeregt. Wenn du Aufmerksamkeit für ein Thema willst, mit dem sich niemand beschäftigen möchte, gibt es kaum ein effektiveres Mittel, als die Leute wütend zu machen.
Und damit kommen wir zum dritten Problem: Die Bewegung muss sich rechtfertigen. Und es ist verlockend, sich durch Relativierung zu rechtfertigen. Indem man zum Beispiel sagt: «Selbst wenn die Fahrradfahrerin unseretwegen gestorben wäre, wie viele Leute sterben denn durch den Klimawandel, he? Oder im Straßenverkehr, ganz ohne unsere Proteste?» Das Ding ist nur: Wenn man einmal anfängt, Tote gegeneinander aufzurechnen, lässt sich damit an Protest so ziemlich alles rechtfertigen, egal wie extrem, weil die Klimabewegung bei der Rechnung so gnadenlos gewinnt. Jedes Jahr sterben weltweit acht Millionen Menschen an den Folgen der Luftverschmutzung durch fossile Brennstoffe. Du könntest also eine Protestform wählen, die ganz Hongkong umbringt, und wärst moralisch immer noch besser dran als die fossile Industrie. Aber das kann ja nicht der Maßstab sein. Keine Totenzahl, die über null liegt, darf der Maßstab sein. Die Hochrechnung beantwortet bloß recht klar die Frage nach dem Klimaterrorismus. Es gibt eine Seite, die versucht, den Untergang der Menschheit zu verhindern, und dabei aus reiner Verzweiflung Protestformen wählt, die möglicherweise die vom Straßenverkehr ohnehin gegebene Gefahr für einzelne Menschen begünstigen könnten, und es gibt die andere Seite, die aus reiner Profit- und Machtgier jedes Jahr Millionen Tote in Kauf nimmt. Ich will euch da echt keine Antwort aufdrängen, aber fragt ihr euch nicht auch, wer hier die wahren Klimaterroristen sind?