Lieber Juan23794768, lieber BigA79813245, lieber Chris02465241 und liebe andere Kommentator*innen mit wirklich vertrauenerweckenden Nicknames auf Twitter,
ich weiß, es ist schwierig, wenn eine Frau etwas will. Frauen dürfen ja schon genug in diesem Land: wählen, sich scheiden lassen, Auto fahren. Da müssen sie nicht auch noch etwas wollen. Schon gar nicht etwas, das über den Durchschnitt hinausgeht. Zum Beispiel Parteivorsitzende werden. Denn wer etwas will, stellt damit die Behauptung in den Raum, dieses Etwas stünde ihm oder ihr zumindest potenziell zu. Und Frauen steht nichts zu. Frauen werden Dinge gnädigerweise zugestanden, und zwar reichlich! Es herrscht vermutlich seit der ersten Errungenschaft des Feminismus eine sich beharrlich haltende «Was wollt ihr denn noch?»-Haltung in diesem Land.
Was wollt ihr denn noch? Eine Frau kann doch sogar Bundeskanzlerin werden! – Ja, aber halt nur eine. Und das ist ja jetzt auch schon wieder vorbei. Okay, immerhin haben wir nun einen so unscheinbaren Mann als Bundeskanzler, dass kaum auffällt, dass Frau Merkel schon einen Nachfolger hat. Aber Angela Merkel ist wohl für kaum etwas so stark kritisiert worden wie für zwei Dinge, die mit ihrer Weiblichkeit in Verbindung gebracht werden. Erstens: Im Angesicht einer humanitären Katastrophe zumindest halbwegs Menschlichkeit gezeigt zu haben – so sind sie halt, die Frauen: zu emotional für die Politik! – und zweitens: einmal ein Kleid mit Ausschnitt getragen zu haben, was vielen wirklich sehr unangenehm war. Denn dadurch wurden sie daran erinnert, dass Frau Merkel kein Mann ist – ein Umstand, den sie zuvor mit aller Kraft zu verdrängen versucht hatten.
Die letzte Frau, die sehr öffentlichkeitswirksam etwas wollte, war Annalena Baerbock. Zu allem Überfluss wollte sie ausgerechnet die zweite Frau sein, die Bundeskanzlerin wird. Absurder Gedanke, schließlich hatten wir ja schon mal eine! Wie das ausgegangen ist, wissen wir alle. Und ihr, lieber Juan23794768 und lieber Chris02465241, ihr wisst es wahrscheinlich sogar noch besser als ich. Vermutlich findet Frau Baerbock hier und da noch immer ein paar abgebrochene Schnabelspitzen der Geier, die sie monatelang belagert haben, und muss sie sich aus der Kopfhaut rupfen. Aber immerhin eines ist Annalena Baerbock nicht: dick. Sonst hättet ihr noch viel mehr Spaß mit ihr haben können.
Ja, es gibt dicke Frauen. Es gibt auch dicke Männer. Und es gibt Menschen, die dicke Leute nicht attraktiv finden. Dank unseres aktuellen Schönheitsideals sind das sogar viele Menschen. Einige Menschen sind ungesund dick, andere gelten als dick, einfach, weil sie nicht zu dünn sind. Schlimm genug, könnte man sich drüber aufregen, aber dazu kommt man ja gar nicht, denn man verbraucht sein Aufregungspotenzial schon dafür, dass korpulenten Frauen – nicht selten im Gegensatz zu korpulenten Männern übrigens – nicht nur das Recht aufs Wollen abgesprochen wird, sondern das Recht aufs Können und im schlimmsten Fall das Recht aufs Sein.
Ricarda Lang ist Parteivorsitzende der Grünen. Ricarda Lang ist eine dicke Frau. Letzteres würde ich nicht erwähnen, wenn es nicht euer Hauptargument gegen sie wäre. Aber Leute: Da muss es doch etwas Besseres geben! Sogar dem einfachsten aller Geister kann doch der Gedanke unmöglich logisch erscheinen, es gebe einen Zusammenhang zwischen Körperform und politischen Fähigkeiten. Ich möchte mich wirklich ungern bei all den Andi-Scheuer-Witzereißerinnen einreihen, aber lasst mich zumindest kurz auf seine ausgesprochen athletische Figur hinweisen.
Keine Ahnung, ob Ricarda Lang etwas kann. Es ist mir auch egal. Ich bin nicht bei den Grünen; die sollen zur Vorsitzenden wählen, wen immer sie wollen. Aber wenn ihr Äußeres euer einziges Argument gegen sie ist, muss sie ja geradezu genial sein. Da tut es fast schon gut, wenn jemand ihre Kompetenz anzweifelt, weil sie kein abgeschlossenes Studium hat. Wobei ich auch nicht sicher bin, ob ein akademischer Grad das geeignete Kriterium für die Beurteilung von politischer Geistesschärfe ist. Ich möchte mich wirklich ungern bei all den Hans-Georg-Maaßen-Witzereißerinnen einreihen, aber lasst mich zumindest kurz darauf hinweisen, dass er nicht nur sein Studium abgeschlossen, sondern sogar promoviert hat.
Klar könnt ihr sagen: «Eine dicke Frau kann keine Partei führen, die hat ja nicht mal ihr eigenes Leben unter Kontrolle!»
Aber wisst ihr was? Natürlich hat sie ihr Leben nicht unter Kontrolle. Genauso wenig wie ihr. Niemand hat sein Leben unter Kontrolle. Das ist doch schön, eigentlich. Niemand kennt den Kampf seines Gegenübers. Wenn ihr ins Internet schreibt, dass eine Frau dick ist, hat das nur einen Grund: dass ihr euer Leben nicht unter Kontrolle habt, auch wenn ihr dreimal die Woche ins Fitnessstudio rennt. Und dass ihr findet, dass Frauen nichts wollen dürfen. Aber ich will etwas. Nicht, dass ihr euren Frauenhass ablegt, lasst uns nicht unrealistisch sein. Aber ich will, dass ihr euch wenigstens bessere Argumente überlegt.