Liebe Alice Schwarzer,

 

das waren zwei sehr lange Sätze. Das Schöne an komplexer Sprache ist ja, dass sie komplexe Wahrheiten abbilden kann. Manchmal kann sie das besser als einfache Sprache. Manchmal braucht man Fremdwörter und Schleifen und Nebensätze, um Nuancen erkennbar zu machen, um das Absolute einer Aussage zu dämpfen, um ehrlich und differenziert und fair zu sein. Oder, wie Sie, um das Ungeheuerliche einer Aussage zu verschleiern. Ich finde das sehr klug von Ihnen. Zusammengefasst sagen Sie, dass Sie recht haben, der ukrainische Botschafter eigentlich aus Ungarn kommt und er Sie nicht zu kritisieren hat. Vermutlich wissen Sie selbst, dass das nicht die Aussage des Jahrhunderts ist.

Kurzer Exkurs: Ich habe mal einen Liebesbrief geschrieben. Meine Gefühle waren stark und mussten raus, zugleich war ich aber so schüchtern, dass ich auf keinen Fall zu direkt sein wollte. In der ersten Version schrieb ich noch: «Ich liebe Dich.» Aber das ging natürlich nicht. Viel zu krass. Also änderte ich es in: «Ich mag Dich.» Aber selbst das war mir noch zu eindeutig. Zweiunddreißig Versionen später stand in dem Brief: «Würde mir ein Fremder ohne jeglichen Anlass unterstellen, dass meine Abneigung Deiner Person gegenüber nicht vollkommen sei, würde ich – zumindest an guten Tagen – nicht sofort mit einem Messer auf ihn losgehen.»

Ist nichts draus geworden. Überraschung.

Diese schüchternen Liebesbrief-Vibes empfange ich bei all Ihren Aussagen zum Thema Krieg in der Ukraine. Es ist, als wollten die unsolidarischen Worte unbedingt raus, aber auf keinen Fall verstanden werden. Auch in Ihrem Brief an den Bundeskanzler. Sie warnen ihn darin vor dem «[…] Irrtum […], dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern.» Wenn man aus dem Satz mal ein paar völlig überflüssige Buchstaben wegwirft – ganz ehrlich, hatten Sie zu viele davon? –, steht da: «Wenn wir der Ukraine helfen, bringt Putin uns alle um, und wir sind selbst schuld.»

Blöderweise haben das trotzdem Leute verstanden und werfen Ihnen nun Täter-Opfer-Umkehr vor. Ich bin sonst immer gegen Vergewaltigungsvergleiche, weil sie meist sexualisierte Gewalt verharmlosen. Aber ehrlich gesagt: Der Vergleich zwischen einem Angriffskrieg, bei dem Sie verlangen, dass sich das angegriffene Land nicht zu sehr wehren können soll, um nicht noch mehr Gewalt zu provozieren, und einer Vergewaltigung, bei der das Opfer ja schon auch irgendwie selbst schuld ist, wenn es zu sexy angezogen war oder sich zu sehr gewehrt hat, ist leider ziemlich passend.

Ich weiß nicht, ob das etwas über Ihren heutigen Feminismus aussagt und ob es zu Ihrem heutigen Feminismus überhaupt noch etwas Interessantes zu sagen gibt. Ich weiß nur: Sie machen mir Angst, Frau Schwarzer. Vor dem Alter. Dabei gibt es so viele coole alte Leute. Aber es gibt eben auch Sie. Und Sie machen mir Angst vor einem Geist, der selbst nicht merkt, dass er sich in einem Augenblick von vor dreißig Jahren festgehakt hat und deshalb jedes Mal bis zum Zerreißen gespannt aggressiv zu sirren beginnt, wenn ihn ein neuer Gedanke zu berühren droht.

Das war ein viel zu langer und komplizierter Satz, um zu sagen: Wenn ich mal groß bin, will ich nicht so werden wie Sie.