27.

Nikola meinte, die Krümmung der Erdoberfläche zu sehen, wenn sie den Horizont in den Blick nahm und die Augen leicht unscharf stellte, doch wahrscheinlich war es eine Täuschung. Neben ihr lehnte Onishi über der Reling und beobachtete die unablässigen Wandlungen der Schaumformationen auf dem vom Schiffsrumpf aufgewühlten Wasser. Links von ihnen, am vorderen Mast, knallte eine grellbunte Flagge im Wind, deren Bild an einen Tattoo-Entwurf erinnerte: Zwei stilisierte Kraniche flogen zwischen poppigen Blüten und frei schwebenden Kiefernkronen über einem Ozean aus konzentrischen Halbkreisen vor einer rotglühenden Sonnenscheibe, neben der sich der schneebedeckte Fuji erhob.

Seit mehr als sechs Stunden jagte der Trawler jetzt Richtung Ostsüdost, auf der Suche nach den Bonito-Schwärmen. Irgendwann morgen gegen Mittag sollte er auf einen philippinischen Frachter aus Shanghai mit Ziel Los Angeles treffen. Ob die Fahrt wirklich nach Ostsüdost ging, ließ sich schwer überprüfen, denn der Himmel wurde von einer gleichbleibend grauen Wolkendecke verhüllt, so dass die Position der Sonne nicht auszumachen war. Da Nikolas Handy, einschließlich des dazugehörigen Kompasses, schon lange keinen Empfang mehr hatte, waren sie auf das angewiesen, was der Kapitän Onishi erzählte.

Sie starrte aufs Wasser. Die Aufregung, die sie gespürt hatte, nachdem das Schiff in Izumi, einem kleinen Hafen südlich von Chōshi, große Mengen Köderfische in die Tanks geladen und anschließend Kurs aufs offene Meer genommen hatte, war einer ruhigen Müdigkeit gewichen. Immerhin drohte jetzt nicht mehr von allen Seiten der Tod. Hätten der Kapitän oder die Besatzung von Takeda mehr Geld dafür bekommen, sie über Bord zu werfen, als Meister Harada dafür aufgewandt hatte, sie sicher außer Landes zu bringen, wären inzwischen genug Gelegenheiten dazu da gewesen, auch wenn Nikola und Onishi unter ihren Jacken Waffen trugen.

Nikola wollte etwas sagen, doch bevor der Gedanke sich zu einem Satz verfestigt hatte, war er schon wieder zerfallen.

Sie drehte sich um. Auf der überdachten Aussichtsplattform des Peildecks klebten zehn der vielleicht zwanzig Fischer an Bord hinter ihren Ferngläsern und suchten den Ozean ab. Auf der Brücke, eine Ebene tiefer, werteten drei andere die Signale von verschiedenen Ortungsgeräten – Echolot, Fishfinder und Seevogelradar – aus.

Nikola kannte die Nordsee und das Mittelmeer. Mit Yuki und seinen Freunden beziehungsweise Geschäftspartnern war sie einige Male vor der marokkanischen Küste auf den Atlantik hinausgefahren, allerdings ausschließlich bei bestem Wetter, und nie so weit, dass nicht nur kein Land mehr zu sehen gewesen wäre, sondern die Gewissheit, dass es überhaupt Land unter dem Himmel gab, Risse bekommen hätte.

Der Bug hob und senkte sich im stumpfsinnigen Rhythmus eines, nach Ansicht der Seeleute, mittleren Wellengangs, der jedoch so stark war, dass Nikola anfangs bei jeder Abwärtsbewegung das Gefühl gehabt hatte, das Schiff würde im nächsten Moment von einem riesigen Schlund verschluckt. Aus den Knien, der Magengrube, war ein fahles Gefühl, eine Ahnung von Schwerelosigkeit aufgestiegen, hatte sich im Brustkorb ausgedehnt, und dann war das Herz abgesackt wie in freiem Fall. »Bestimmt werde ich seekrank«, hatte sie gedacht, »ich kotze über die Reling und diesen Fischern klatscht mein halbverdautes Essen ins Gesicht.« Doch nach ein oder zwei Stunden – die Zeit hatte irgendwann ihre Konturen eingebüßt, so wie es in der grauen, nach allen Seiten hin grenzenlosen Fläche auch keine messbaren Abstände zwischen hier und dort, nah und fern mehr gab – war aus dem beängstigenden Gefühl, gigantischen Kräften über einem unauslotbaren Abgrund ausgeliefert zu sein, ein geradezu friedliches Schaukeln geworden. Ihre Wahrnehmung hatte sich in einen unscharfen Bewusstseinsstrom ohne feste Grenzen verwandelt, während der Körper in dieser verschwommen schwankenden Welt auf die Auswirkungen von Schwerkraft und Massenanziehung nur mehr stark verlangsamt reagierte.

»Ich war noch nie in Amerika«, sagte sie, jedoch nicht laut genug, um den Lärm der Motoren, des Winds und der Wellen zu übertönen.

»Was?«, rief Onishi.

»Ich hab gesagt, dass ich noch nie in Amerika gewesen bin!«

Er nickte, und auf das Nicken folgte ein Echo des Nickens, als hätte auch er Mühe, aus weit verstreuten Gedankenfetzen eine Antwort zu bilden.

»Bestimmt wird es dir gefallen«, sagte er schließlich und legte ihr den Arm um die Schulter. Obwohl sie inzwischen schon fast vier Wochen so etwas wie zusammen waren, fühlte es sich ungewohnt an, nicht nur, weil er nicht zu Zärtlichkeitsbekundungen in der Öffentlichkeit neigte, sondern auch, weil die Geste für jemanden, der eigentlich jeden Muskel perfekt beherrschte, sonderbar ungelenk wirkte.

Sie lächelte Onishi an und Onishi lächelte zurück, zumindest war es der Versuch eines Lächelns, das ausdrücklich ihr galt – weder einem perfekten Tempura noch einer alten Kalligraphie oder einem Schwerthieb, der besonders präzise gelungen war –, auch wenn es ein wenig verunglückte, da sein Gesicht wenig Übung darin hatte.

Nikola schloss die Augen, um die Wärme seines Arms, seines Körpers deutlicher zu spüren, dazu den Wind im Haar, die gesprühte Nässe auf der Haut, den salzigen Geschmack, riss sie jedoch nach wenigen Sekunden wieder auf, erstens, weil es in ihrem Bauch plötzlich zu schwappen begann, und zweitens, weil sie sonst im nächsten Moment jeglichen Halt verloren hätte und entweder nach vorn über die Reling oder rückwärts auf die Fließbandanlage für die gefangenen Fische gestürzt wäre.

Ihr Mund näherte sich Onishis Ohr: »Hast du eine Idee, was wir dort machen sollen, in L. A.?«

Er schüttelte den Kopf.

»Irgendetwas muss Harada Sensei dir doch gesagt haben!«

»Dass er alles so weit geregelt hat, dass es Arbeit gibt, aber nichts Kompliziertes, und dass wir John Viaggi hundert Prozent vertrauen können.«

»Welche Art Arbeit?«

Er schüttelte den Kopf und hob die Schulter: »Ich habe keine Ahnung.«

»Und was ist mit mir?«

»Mal sehen.«

Sie spürte einen Moment Ungeduld, die sich unter anderen Umständen in Ärger verwandelt hätte, doch das unablässige Bemühen des Körpers, sich selbst in der Balance zu halten, wirkte sich offenbar auch beruhigend auf ihren Gemütszustand aus, und sowieso war es weder der richtige Ort noch der passende Zeitpunkt, um über Dinge zu streiten, die in den Sternen standen – wenn überhaupt irgendwo.

Da es sonst nichts zu tun gab, suchten ihre Augen jetzt wieder die Wasseroberfläche ab, doch ganz gleich, wie weit und in welche Richtung sie schaute, da war nichts, was aus dem Einerlei herausstach, kein anderes Schiff, kein Vogel, keine Besonderheit, die auf einen Fischschwarm hindeutete. Oft zögen Bonitos im Schutz von Walen oder Riesenhaien, hatte Onishi gesagt, und wenn sich irgendwo Möwen oder Seeschwalben in großer Zahl versammelt hätten, eine nach der anderen hinunterstieße, kurz eintauche und wieder aufsteige, könne das ebenfalls ein Indiz sein.

›Leere, nichts als leere Leere‹, ging es ihr durch den Kopf. Es war weniger eine Feststellung, geschweige denn eine Erkenntnis, eher ein vor- und zurückschwingender Rhythmus, der vom Hin und Her der Wellen und des Schiffs ausgelöst wurde. Sie versuchte erneut einen Gedanken über irgendetwas zu fassen – das Wetter, die Route, Japan, Amerika, Fischfang –, doch in ihrem Kopf zerfloss alles, kaum dass es für den Bruchteil einer Sekunde Umriss, Form, Gestalt angenommen hatte, wurde unfertiges Zwischenstadium, war schon das Nächste, Übernächste, Vierte, Siebte, Zehnte und zerfiel dann zusammen mit den geschwungenen Linien aus Schaum und Wasser zu ihren Füßen.

»Sag mal …«, setzte sie an, zu leise, als dass Onishi sich ihr auch nur zugewandt hätte, um von ihren Lippen zu lesen, was er nicht hören konnte – … »Wenn wir …«, fuhr sie fort, doch in diesem Moment begann hinter beziehungsweise unter ihnen mit einem abrupten, ganz und gar nicht fließenden Ruck eine mechanische Bewegung. Das Förderband im Schiffsrumpf war angesprungen, eine primitive Mechanik, die ratterte wie ein Güterzug auf überalterten Gleisen. Im nächsten Moment lief der erste Fischer nach vorn, betrat links die Plattform, die ein wenig über die Seitenwand hinausragte und größtenteils von einem bleichen Kunststofftank ausgefüllt wurde. Tausende lebender Sardinen schwammen darin. Rechts davon befand sich ein überdachtes Regal mit hundert oder zweihundert Angelruten. Der Mann trug blauweiße Regenkleidung, außerdem einen gelben Bauarbeiterhelm, hatte sich bereits in Position gebracht, und beobachtete ebenso ruhig wie gespannt die Wasseroberfläche. In wenigen Augenblicken würde sein Einsatz beginnen, und auf keinen Fall wollte er den richtigen Moment auch nur um eine Sekunde verpassen.

Nikola überlegte, ob der Ausguck auf der Backbord- oder auf der Steuerbordseite war, erinnerte sich, dass sie sich die Regel und worin der Unterschied zu rechts und links bestand, schon mehrfach hatte erklären lassen und sich nie hatte merken können. Eine abgehackte Stimme tönte aus einem Blechlautsprecher über das Deck. Plötzlich richtete der Mann sich auf, und eine andere Spannung erfasste ihn. Er drehte sich um, zog ein küchensiebgroßes Netz aus der Halterung, begann, mit hoher Geschwindigkeit die fingerlangen Fische aus dem Tank zu schöpfen und über die Reling zu werfen. Es war eine einzige kraftvoll-flüssige Bewegung, kreisend und wellenförmig zugleich. Unmittelbar vor dem Schiff tauchten jetzt tatsächlich Vögel auf, jagten niedrig über das Wasser, manche blitzen ebenfalls silbern, wenn sie in waghalsigen Manövern die Richtung wechselten und versuchten, einen der Köder im Flug zu erwischen. Andere waren grau oder schwarz, vielleicht Jungtiere, möglicherweise gab es hier im Pazifik auch dunklere Arten von Möwen oder sogar Fregattvögel.

Die Angler kamen jetzt zügig vom Peildeck und aus dem Rumpf. Weitere Kommandos schepperten aus dem Lautsprecher. Die Männer warfen sich kurze Sätze zu, vielleicht jahrhundertealte Parolen, mit denen sie das Ziel ins Auge fassten, Geister beschwichtigten, sich gegenseitig anfeuerten, die Gemeinschaft stärkten.

»Was sagen sie?«, rief Nikola Onishi ins Ohr, doch Onishi zuckte bloß mit den Schultern.

Die ersten beiden hatten bereits ihre Ruten aus dem Regal gezogen, gingen an der Plattform vorbei in die Spitze des Bugs. Einer von ihnen war derjenige, der sie gestern Nachmittag im Hotel aufgesucht hatte. Er hieß Hiroshi. Den Nachnamen hatte Nikola gleich wieder vergessen, als sie sich heute Morgen endlich korrekt vorgestellt worden waren. Auch er trug Ölzeug, allerdings einfarbig blau. Einen Helm hielt er für überflüssig, stattdessen hatte er eine Basecap mit einem fetten gelben Stern auf dem Kopf. Nikola war kurz irritiert, so wie sie angesichts der Hakenkreuze an japanischen Tempeln irritiert gewesen war, dann fiel ihr auf, dass mit dem Stern etwas nicht stimmte, sie entdeckte seitlich den Schriftzug Sapporo-Beer, außerdem war der Stern fünfstrahlig.

»Lass uns hochgehen, wir stören hier«, sagte Onishi und setzte sich in Bewegung.

Alle Angler hatten sich mittlerweile Ruten aus dem Regal gezogen und ihre Plätze eingenommen, in einer streng festgelegten Hierarchie, entsprechend ihrer Erfahrung und ihres Könnens, und der Mann auf der Plattform warf weiterhin ununterbrochen seine Köder.

Onishi hatte bereits das Peildeck erreicht, von wo aus man ohnehin einen besseren Überblick hatte, Nikola stieg gerade die Treppe hinauf, als es knallte, dumpf und spitz zugleich. Etwas Lebendiges war auf Blech geschlagen. Sie blieb stehen, drehte sich um. Der nächste Knall folgte, noch einer und noch einer. In immer kürzeren Abständen klatschten oberschenkelgroße Fische auf die grellblau lackierte Fangfläche, die einen halben Meter hinter den Anglern begann und gut dreieinhalb Meter bis in die Mitte des Decks anstieg. Dort erhob sich eine senkrechte, ebenfalls blaue Wand. Einzelne Exemplare, die mit zu viel Schwung aus dem Wasser gerissen worden waren, prallten dagegen. Nikola versuchte die innere Logik der verschiedenen Bewegungsabläufe zu erfassen, die Ordnung im Zusammenspiel der knapp zwanzig Angler zu begreifen. Jeder von ihnen hielt seine Rute mit dem Kunstköder, aus dem ein glatter Haken ragte, in einer unablässigen Kreisbewegung, senkte sie vor sich ins Wasser, riss sie einen Augenblick später aus der Lendenwirbelsäule heraus, mit dem ganzen Oberkörper wieder hoch und zurück, so dass die Rute sich unter dem Gewicht des Bonito erst bog, doch sobald der Fisch über dem Kopf des Anglers den Scheitelpunkt seiner Flugkurve erreicht hatte, ließ die Spannung nach, und der Fisch löste sich wie von Zauberhand vom Haken, landete je nach Schwung und Kurve seitlich, kopfüber, mit dem Schwanz zuerst auf dem blauen Blech, während Rute und Köder bereits wieder vorschnellten, ins Wasser tauchten, wo das nächste Tier, von den vor seinen Augen zappelnden Ködern in Jagdfieber, regelrechten Blutrausch versetzt, auf alles biss, was im Entferntesten Beute ähnelte. Unversehens fand es sich aus seinem Element gezogen, segelte durch die Luft, schlug hart auf. Je nachdem, mit welchem Körperteil, welcher Wucht der Aufprall erfolgte, spritzte mehr oder weniger viel Blut aus dem Maul, den Kiemen, dem aufgeplatzten Schädel, das auf der blauen Fläche dunkelviolett wirkte, Kleckse wie von Farbbeuteln, die gegen eine Wand geschleudert wurden, und dann rutschte der zappelnde oder springende, mal vom Aufschlag betäubte, mal vom Schock gelähmte oder sofort tote Bonito das Blech hinunter in die Förderrinne, die unmittelbar hinter der Sitzbank der Fischer nach vorn führte, dort kurz unter Deck verschwand und auf der gegenüberliegenden Seite wieder heraustrat. Einzelne Bonitos hatten noch genug Kraft und sprangen heraus, doch nie reichte der Schwung, um es über die Reling zurück in den Ozean zu schaffen. Manchmal blieb auch tatsächlich einer am Haken hängen, so dass der Angler, dem ein solches Missgeschick passierte, aus der vollkommen gleichmäßigen, dabei verwirrend vielschichtigen Choreografie ausscheren musste, aufstand und sich umdrehte, den Fisch zu sich heranzog, ihn eigenhändig vom Köder löste und auf das Band warf. Auch auf dem Band zappelten sie, manche ununterbrochen und kräftig, andere nur noch vereinzelt und schwach, die wenigsten starben schnell, und sogar auf der anderen, vom Peildeck aus rechten Seite, wo sie zurücktransportiert wurden, um schließlich im Bauch des Trawlers zu verschwinden, gelang einigen noch ein Satz aus der unerbittlichen Förderstraße, doch daneben standen zwei junge Männer, einem klebte eine Kippe zwischen den Lippen, und der Rauch verwehte schon beim Verlassen des Mundes, schnappten sie sofort, manchmal beidhändig, manchmal einfach am Schwanz, hoben sie auf und warfen sie zurück auf das Band. Der Schwarm dort draußen musste riesig und die Bonitos vollkommen ausgehungert sein, sie bissen auf alles, was sich bewegte, flogen in einem fort auf das Schiff, manche geradeaus, als hätten sie sich gezielt und mit einem kraftvollen Schlag der Schwanzflosse aus dem Wasser katapultiert, um vor einem übermächtigen Feind zu fliehen, andere vollführten Saltos, drehten Schrauben um die eigene Achse, wieder andere taumelten wie trunken oder im Rausch, und so unterschieden sich auch die Geräusche, mit denen sie aufschlugen. Jeder hatte seinen eigenen Klang, so wie auch die Blutspur, die er hinterließ und die sofort vom Wasser oder Schleim des nächsten oder übernächsten verwischt wurde, einzigartig war.

Jetzt verriss es einen Fisch, der am Haken des letzten und damit unerfahrensten Anglers aus dem Wasser geschleudert worden war, er segelte knapp an Nikolas Kopf vorbei, schlug ein Stück hinter ihr auf die Holzplanken des Decks, zuckte, zappelte, und Nikola überlegte, ob sie hingehen, das Tier aufheben sollte – und dann? Sie zögerte, schaute zu Onishi hinüber, sah, dass er sich dieselbe Frage stellte, ebenfalls nicht wusste, wie er reagieren, was er tun sollte. Die Kraft des Fisches ließ nach, die Abstände zwischen seinen Sprüngen wurden größer, die Sprünge kleiner. Nikola sprach halblaut vor sich hin, um ihre Gedanken beim Hören besser zu verstehen: »Wenn ich jetzt dorthin gehe und den Fisch aufhebe, bringe ich ihn dann runter zum Fließband oder werfe ich ihn zurück ins Meer, und würde er überleben, oder ist er schon zu schwer verletzt und stirbt sowieso?«

Eine Weile rührte der Fisch sich kaum noch, dann begann er zu zittern, als stünde er unter Strom. Nikola war wie gelähmt. Sie hätte es nicht übers Herz gebracht, das Tier auf das Fließband zu werfen, zuzuschauen, wie es unerbittlich abtransportiert wurde zu einem rechteckigen Loch, in dem rosafarbenes Wasser gurgelte, darin verschwand. Aber wenn einer der Fischer sähe, wie sie ihn nähme und zurück in den Pazifik würfe, würde er vermutlich verdammt wütend werden. Vielleicht wurden sie pro Stück bezahlt oder nach Tonne, und jedes einzelne Exemplar hatte dem Rücken, den Armen und Händen dessen, der es aus dem Meer gezogen hatte, Kraft abverlangt. Einen kurzen Moment lang sah sie vor ihrem inneren Auge, wie sie ihre Pistole zog und den Bonito in den Kopf schoss, um wenigstens sein Leiden zu verkürzen, was nicht nur vollkommen absurd war, sondern auch unkalkulierbare Folgen haben konnte. Sie waren auf diese Leute angewiesen. Ohne sie würden sie den Frachter nach Los Angeles nicht erreichen, und wenn der Kapitän oder der Oberfischer nachhaltig verärgert wäre und zu dem Schluss käme, dass es sich nicht lohnte, wegen einer verrückten Europäerin Ärger mit dem Staat oder einem führenden Boss zu riskieren, konnten sie es sich jederzeit anders überlegen und über Funk die Polizei benachrichtigen, so dass bei der Rückkehr ein Sondereinsatzkommando am Kai wartete.

Der Fisch auf den Planken zuckte noch einmal, sprang zwanzig Zentimeter Richtung Bordwand, die jedoch nach wie vor anderthalb Meter entfernt und einen unüberwindlichen Meter hoch war. Nikola spürte, dass er seine Lebenskraft jetzt endgültig verbraucht hatte, bildete sich ein, für einen Sekundenbruchteil den Schatten des Todes über das Holz huschen zu sehen, riss ihren Blick mit Gewalt los, drehte sich um.

Vor ihr flogen noch immer unablässig Fische durch die Luft und dazwischen Möwen oder Albatrosse, als hätte der ganze Bonito-Schwarm den Entschluss gefasst, sich den Vögeln anzuschließen und fortan in der Luft zu leben, wo die Freiheit so viel größer wäre als in den Weiten des Ozeans, doch dann klatschen sie in einem ebenso vorwärtsdrängenden wie unbegreiflichen Rhythmus einer nach dem anderen auf das Blech, hüpften, glitten, rutschten herunter in die Transportrinne, zogen ihre letzte Kurve auf einem gnadenlosen Fließband erst auf der Steuerbord- und dann auf der Backbordseite, oder umgekehrt, verschwanden im Bauch des Schiffes, erstickten oder wurden geschlachtet, schockgefrostet oder auf Eis gelegt, dann geräuchert, getrocknet und zu hauchdünnen Flocken gehobelt.

Nikola stand da, versuchte vergeblich, sich eine Zigarette anzuzünden, und sagte: »Das ist alles schon ganz schön brutal.«