Liebe Joan,
der schwarze Weihnachtstag ist jetzt gut einen Monat her, und zwischen den Briefen war eine lange Pause. Ich muss mich wohl fragen, warum ich dir weiterhin schreibe. Du warst eigentlich nie meine Freundin. Von unserer ersten Begegnung an, als dein untadelig offenes Gesicht einen wachsamen Ausdruck annahm, wusste ich, dass du um meine Freundschaft lieber einen Bogen machen wolltest. Ich ahnte, dass du alles das in mir sahst, was du um beinahe jeden Preis vermeiden musstest.
Wie ich dich beneidete, wenn ich manchmal — oft — am Fenster stand. Du warst immer so beschäftigt, immer unterwegs in deinem kleinen Auto, deine Haustür stand immer offen, dein Haus war immer voller Leute. Junge, sorglose Leute. Lange Lunchpartys. Benefizpartys im Garten. So gut organisiert, und dabei so zwanglos. Wie du jeden Tag Punkt Viertel vor drei mit deinem Hund vor die Tür bist und um halb vier wieder zu Hause warst. Immer genau richtig gekleidet mit deiner mädchenhaften Frisur. Auch als du langsam grau wurdest, sahst du immer noch jung und sexy aus. Und wie du gelacht hast — gelacht und gerufen und gewinkt, während du sechsmal am Tag, wenn nicht öfter, in dein Auto gesprungen bist. Dein Lachen war in der ganzen Rathbone Road zu hören. Wir lauschten deinem Lachen — wie mir heute scheint — mit einem mulmigen Gefühl.
Und dann wurde ich wohl Zeuge sämtlicher Stadien deiner Desillusionierung, wobei ich sie nicht gleich als solche erkannte. Ich versuchte freundlich zu sein, wurde jedoch immer von diesem, etwas zu strahlenden Blick abgeschmettert, und dann folgte ein ablehnender und, wenn du erlaubst, recht überheblicher und wütender Seitenblick. Er gefiel mir nicht, genauso wenig die Art, wie du angefangen hast, deine Oberlippe hochzuziehen, so müde, so lebensmüde warst du geworden. Es grenzte an ein höhnisches Grinsen. Es war ein höhnisches Grinsen. Ich hatte Erbarmen mit dem Grinsen und betete für dich.
Vermutlich habe ich bei dir nur beobachtet, was in weniger dramatischer Form bei vielen Frauen unseres Alters in der Rathbone Road zu sehen war: Langeweile, Überdruss, Erkenntnis. Die reichen, gebildeten Engländerinnen aus der Mittelschicht, die endlich der Strapazen des massenkompatiblen Lebens müde sind, schauen morgens in den Spiegel und sehen das Gesicht einer Frau in den mittleren Jahren. Und sind unfähig, sie zu grüßen.
Die einzige, die ich komplett ausnehmen kann von alldem, ist Marjorie Gargery, die das Glück hat, beharrlich in den schulischen Leistungen ihrer Kinder aufzugehen. Da sie mit ihren Kindern einen weiten Bogen geschlagen hat, ist Marjorie für viele Jahre in Sicherheit. Sam, wenn du dich erinnerst, ist gerade erst fünf, und alle vier Mädchen gehen noch zur Schule. Hepzibah wird, klug, wie sie ist, bei Marjorie durch mehrere akademische Grade hindurch für Spannung und Mitfiebern sorgen, bis hin zu der aufregenden Frage, ob sie es zur Professorin schafft oder nicht. Gladiola ist ein fruchtbares Kind und wird viele kluge Kinder gebären, und mit etwas Glück kann Marjorie sie bis zu ihrem Tod in ihrer Entwicklung begleiten. Die großen Rätsel der Pubertät stehen diesen Mädchen natürlich noch ins Haus. Wer weiß, ob sie nicht alle am Ende auf die Schule pfeifen. Emma sah neulich höchst verwegen aus, fand ich. Sie murmelte irgendetwas von der National Front. Und Grizel und ihre Sportlehrerin sind recht dicke Freundinnen geworden.
Seit deinem Weggang hat sich das Verhalten der Bewohner der Rathbone Road gelockert, Joan. Ich meine jetzt nicht in moralischer Hinsicht. Ich meine, dass wir eigentlich mehr miteinander reden. Deine Flucht hat zu einer Spaltung in der Straße geführt. Einige sind nachdenklicher geworden, andere treten offensiver auf. Anne Robin trägt neuerdings ein riesiges langes rundlich geschnittenes Kleidungsstück, das an eine Aubergine oder das Umstandskleid einer Sultanin erinnert. Es bedeckt ihren ganzen Körper, was an und für sich gar keine schlechte Sache ist. Andere sind noch verbohrter geworden, vor allem die Frauen über fünfzig, die Memsahibs, die »altehrwürdigen Gattinnen«. Zwei von ihnen habe ich vorige Woche auf einer unserer Sherry-Partys getroffen, und man kam auf dich zu sprechen. Ich sagte, du fehltest mir sehr, und Lady Gant erwiderte, sie hoffe, nun ja, du seist glücklich, wo immer du jetzt stecktest, sie zweifle aber doch ein wenig daran und mehr habe sie dazu nicht zu sagen. Ich sagte zu Anne Robin: »Also gab es Gerede«, und Anne sagte: »Einige von uns haben die Zähne gezeigt.« Sie strich über ihr glockenförmiges Kleid und sagte: »Es gibt einen Code, den wir hier nach wie vor einhalten.«
Warum, Joan, zeigen Frauen anderen Frauen, die sich von ihren Männern verabschiedet haben, die Zähne? Lady G konnte Charles nicht ausstehen. Tut mir leid, aber ich denke, das ist dir nicht neu. Offenbar wegen damals, als er ihr auf einem Grillfest bei den Gargerys etwas zu nah gekommen ist. Ach nein — das kann nicht sein. Das hätte ihr eher gefallen.
Weißt du, ich war Charles einmal sehr zugetan. Vor ein paar Monaten noch glaubte ich, ich hätte mich in ihn verliebt, und bin deshalb in Panik geraten. Teils war es die Aufregung, dass die alten Regungen noch nicht ganz tot waren, teils Grausen, dass alles wieder von vorne losgehen könnte. Ich habe dir damals geschrieben. Einen albernen Brief. Habe ich ihn abgeschickt? Manche habe ich abgeschickt, manche nicht. Keiner kam zurück und keiner wurde beantwortet.
Da ich nun allein lebe, das heißt, allein bis auf die beiden Hunde, denn Charles hat nie angeboten, deinen zum Dolphin Square mitzunehmen, genauso wenig wie es Henry in den Sinn gekommen ist, Toby mitzunehmen, da ich nun also alleine lebe, habe ich reichlich Gelegenheit, nicht nur die Entwicklung meiner Gefühle zu studieren, sondern Gefühle überhaupt. Seit meiner zwei kurzen Jahre in Oxford, wo ich mich ein wenig mit Moraltheorie beschäftigt habe, ist das nicht mehr passiert. Ich dachte, das hätte ich alles längst vergessen.
Aber ein bisschen was muss hängen geblieben sein, denn jeden Morgen beim Aufwachen stelle ich fest, dass ich mühelos in eine Analyse meiner moralischen Prinzipien und »Herzensangelegenheiten« übergehen kann. Und da der Sex in den letzten drei Jahren so nachgelassen hat, bin ich imstande, meine eigenen Gefühle und diejenigen meines Umfelds mit einer erfreulichen Klarheit zu beobachten und festzuhalten — wenn auch leider nicht ohne eine gewisse Überheblichkeit, denn ich stelle fest, dass ich manchmal sowohl den Abstand als auch den Durchblick habe, etwa so, als wäre ich der einzige nüchterne Mensch auf einer feuchtfröhlichen Party.
Zumindest habe ich mir das so zurechtgelegt, Joan, von September bis Weihnachten und an jenem ganzen grauenhaften schwarz-weißen Nachmittag, als die schneeschweren Klumpen von den Bäumen fielen, plitsch platsch, und die buckligen Blumenbeete verschandelten, die dalagen wie Gräber. Ein Alptraum von einem Nachmittag. Ich weiß noch, wie sich im Steingarten plötzlich ein schwarzer Stein bewegte. Er kam geradewegs über das geweißte Gras auf mich zu. Es war die Schildkröte der Nachbarn, die an einem dunklen Wintertag nach Luft schnappte. Es war der Tag, an dem Charles und Henry zusammen weggingen.
Mein losgelöster Zustand hielt trotzdem den ganzen Nachmittag und über den Brief an dich hinweg an. Das Haus war warm, das Feuer brannte, die Hunde schliefen ausnahmsweise beide gleichzeitig, und ich hatte genug zu essen im Haus, um wochenlang nicht einkaufen gehen zu müssen. Es gab in Zukunft keine Hemden mehr zu waschen und zu bügeln, keine Socken mehr zu stopfen — tote schwarze Fische mit Löchern als Gesicht (ich bin die letzte Frau Europas im Besitz einer Stopfnadel), kein Beantworten von Einladungen zu Veranstaltungen, bei denen ich nicht eingeladen bin, Schluss mit Sekretärin spielen, Termine merken, Rechnungen bezahlen, Schlossherrin sein.
Apropos Rechnungen. Darüber musste ich gerade nachdenken. Ich werde dafür beten, dachte ich, und sobald die Banken wieder aufhaben, werde ich unser gemeinsames Konto leerräumen.
Als ich zum Ende meines Briefes kam und dich mehr oder minder fragte, ob ich nach Dhaka kommen und mich dir anschließen dürfte, blieb mein Blick an der Wand neben dem Kamin hängen, dort, wo das Porträt von Henrys Ahnen hängt, gemalt von einem Gainsborough-Schüler, und unwillkürlich dachte ich: Zwanzigtausend Pfund. Dies waren Barrys Worte gewesen. Er hatte mich gefragt, wo ich wohne, sich nach der Einrichtung, dem Stil der Möbel erkundigt. Als ich das Porträt erwähnte, sagte er: »Wenn’s der Gainsborough-Schüler ist, von dem ich gehört hab, ist es zwanzigtausend Pfund wert. Könnt ich Ihnen organisieren, bei einem Mann in Epsom.« Barry hat Gypsyblut in den Adern — Pferde, Autos, Antiquitäten.
Ich betrachtete das Gesicht. Genau wie Henrys. Das gleiche schmale Ziegengesicht. Ich ging hinüber zu dem Bild, nahm es von der Wand und suchte eingehend nach einer Signatur. Ich drehte es um und befühlte das splittrige, aufgeplatzte Holz auf der Rückseite. Ich drehte es wieder um und versuchte Henrys Blick zu begegnen. Ich machte die Entdeckung, Joan, dass Peabody-Augen keine Augen sind, in die man hineinsehen kann. Es sind schwarze Johannisbeeren. Ich pflanzte das Bild auf den Schreibtisch und dachte an Epsom.
Das Telefon klingelte. Ich war etwas langsam. Bevor ich den Hörer abnahm, drehte ich das Bild um. »Hallo?«
»Thomas Hopkin.«
»Nein, Eliza Peabody hier.«
»Ich bin Tom Hopkin.«
»Ach so, ja.«
»Sie kennen mich nicht.«
»Das ist richtig.«
»Ich stehe in einer Telefonzelle am Ende Ihrer Straße. Ich hatte mich gefragt, ob ich Sie vielleicht antreffe.«
Ich beschloss, Joan, dass es sich um irgendeinen vertrackten Privatdetektiv handeln musste, den Henry angeheuert hatte. Dann dachte ich, aber was gäbe es denn zu detektieren? Es sei denn, Henry hatte mich wegen irgendeiner paranoiden und unkommunizierten Eifersucht verlassen. Aber auf was? Auf wen? Barry wäre Henry nicht mal im Traum eingefallen, außerdem stirbt er gerade an AIDS. Barry wäre für Henry eine unbekannte Größe. Irgendein »Mann von der Straße«. Natürlich würde er sagen — und glauben —, dass Jesus auch Barry liebt, womit er, also Henry, aus dem Schneider wäre. Ist das die Möglichkeit, dachte ich, ein Privatdetektiv, der an Weihnachten arbeitet!
Mein ganzes Leben lang habe das Gefühl gehabt, bestimmte Ereignisse seien die Konsequenz meiner Sünden. »Ich habe nichts falsch gemacht«, sagte ich laut. »Henry ist es, der mich verlassen hat.«
Stille. Ich wollte gerade auflegen, da fiel mir ein: Das hier ist kein Privatdetektiv. Es ist ein Einbrecher. Er probiert wahrscheinlich alle Telefonnummern aus, um zu sehen, wer da ist und wer nicht. Weihnachten ist für den Einbrecher wie zusätzlich Geburtstaghaben. Er hat spitzgekriegt, dass ich zu Hause bin, und dass ich allein bin.
»Ich habe sehr viele Leute da«, sagte ich, »ich schmeiße gerade eine Party. Ich fürchte, ich kann nicht länger sprechen, außerdem muss ich meine Bullterrier füttern.«
»Ich wollte nur ein paar Geschenke vorbeibringen«, sagte Tom Hopkin. »Sie sind von Joan. Ich bin gerade gelandet. Würde das passen?«
Tja, Joan. Natürlich sagte ich Ja.
Dann ging mir auf, in was für eine äußerst haarige Situation ich mich gebracht hatte, so ganz allein im Haus. Ich fragte mich, ob ich irgendwie eine vergnügte Runde simulieren könnte, zumindest ein müdes Verdauungsgemurmel. Ich stellte den Fernseher sehr laut, schaltete den Kassettenrekorder an und erzeugte ein fröhliches Medley. Die Requiems legte ich beiseite. Ich schloss die Küchentür, damit die Hunde zu hören, aber nicht zu sehen waren.
Als es klingelte, kläfften die beiden wie zu erwarten wütend drauflos, und als Tom Hopkin das Haus betrat, schlug ihm eine beachtliche Illusion vorstädtischen Weihnachtstrubels entgegen.
Er stand auf der Matte, die Arme voller Pakete. Schneeflocken beklecksten sein schlaffes Haar und lose Platscher klebten auf seiner großen Brille. »Tom Hopkin«, sagte er, »British Council. Bangladesch, aber so bellen keine Bullterrier.« Er ging an die Küchentür und ließ beide an sich hochspringen. »Jack Russell«, sagte er zu Toby, »halt die Klappe. Pudel, lass mein Bein los.«
»Ich fürchte, das wird er nicht tun. Er ist zwar kein Bullterrier, aber er bildet sich’s ein. Bitte halten Sie die Geschenke von ihm fern. Er frisst Papier. Er gehört Joan. Ich glaube, auch seinetwegen ist sie in Bangladesch. Oje, den kriegen wir nie wieder in seinen Korb.« Letzteren Satz musste ich kreischen.
»Korb«, befahl der Mann und trat aus, und Toby zog sich unter den Küchentisch zurück und dein Hund knurrte verunsichert und schlich sich davon und setzte sich mit dem Rücken zum Publikum unter die Treppe. »Ich sagte KORB«, belferte dein Freund. Beide Hunde ließen den Kopf hängen und steuerten auf ihre Plätze zu. Mit unterwürfigem Blick saßen sie angespannt da, neugierig und doch fügsam. Tom Hopkin knallte ihnen die Tür vor der Nase zu und wir gingen ins Wohnzimmer, während ich zusah, wie der Schnee, der ihn bedeckte, schmolz und seine Brillengläser aufklarten. Dahinter ein unsteter Blick.
»Könnten Sie wohl«, fragte er, »ein paar Ihrer Geräte ausschalten?«
»Ausschalten?«
»Den Lärm.«
Ich schaltete sie aus. Fernseher. Kassettenrekorder.
»Radio?«, fragte er.
Ich schaltete auch das aus.
»War das die Party?«
»Na ja — ja. Ich dachte, Sie wären vielleicht ein Eindringling.«
»Ah.«
»Wissen Sie, Joan hat sich offensichtlich verändert. Wir wissen jetzt nicht mehr viel über sie. Der letzte Freund, der hier war, ein Kurde, hat sich zulaufen lassen. Er trug ein grünes Kleid.«
»Ach, Tacky«, sagte er.
»Keine Ahnung. Möglich wär’s.«
»Ziemlich behaart?«
»Oh, also, ja«, sagte ich, und er sagte: »Wie hübsch Sie sind, wenn sie erröten, hier im Feuerschein. Ich frage nur ungern, aber hätten Sie etwas Essbares im Haus? Ich habe seit gestern nichts gegessen.«
»An Weihnachten?!«
»Ich saß im Flugzeug. Ich esse auf Flügen nie etwas. Ich faste. Ich trinke bloß Wasser.«
»Essen Sie denn — normales Essen? Es gibt Pute und alles. Und Plumpudding und Mince Pie.«
Ich ging in die Küche, wo die Hunde mir konsternierte Blicke zuwarfen, ohne sich vom Fleck zu rühren. Ich bereitete ein Festmahl zu. Ich sagte: »Es dauert ein paar Minuten, um den Plumpudding aufzuwärmen«, und er kam an die Küchentür und sagte: »Plumpudding. Wie herrlich viktorianisch. Früher war jeden Tag Weihnachten. Gastronomisch gesehen. Sie sind ja richtig altmodisch. Meinen Sie, ich könnte solange ein Bad nehmen?«
Er war bis auf die Haut durchnässt, wie mir jetzt auffiel. Wie hätte ich Nein sagen können. Und siehe da, noch bevor ich etwas erwidern konnte, rannte er schon die Treppe hinauf und die Wasserhähne rauschten.
Ich folgte ihm und sagte: »Hier, ein Handtuch«, und sein nackter Arm schlängelte sich um die Tür und griff danach. »Warten Sie«, sagte er. »Wären Sie so gut?«, und er reichte mir seine gesamte Garderobe heraus. Alles. Socken. Unterhose mit Eingriff. Schuhe. »Einfach nur um den Herd herum aufhängen, ja?«
»Und was ziehen Sie solange an?«
Schweigen.
»Möchten Sie etwas von Henry?«
»Wäre das möglich? Ein Bademantel würde genügen. Bis meine Sachen trocken sind.«
»Ja. In Ordnung. Henrys Ankleidezimmer ist gleich links«, und während ich unten auf einem frischen Glasteller die Brandybutter anrichtete, rief ich hinauf: »Ziehen Sie an, was Sie möchten. Er hat alles mitgenommen, was er braucht«, und schenkte mir aus der Kelchvase, die ich normalerweise für langstielige Blumen benutzte und die vor dem Küchenfenster stand, ein üppiges Glas Wein ein. Beim Weihnachtsessen hatten wir nicht einen Schluck Wein getrunken. Henry und Charles hatten hin und wieder ihre Gläser gehoben, ein Nippen vorgetäuscht und sich zu Tode betrübt und mit heiliger Langsamkeit die Münder abgetupft. Ich hatte gar nichts getrunken.
Ich befüllte die Vase aufs Neue.
»Auf den Knien wäre schön«, sagte dein Freund Tom Hopkin, der plötzlich vor mir stand, und ich fuhr herum und stieß einen spitzen Schrei aus, denn er war in voller Abendkleidung. Schwarze Fliege, blassrosa Smokingjacke und Henrys liebste Abendschuhe. Auch sein Gesicht war rosa. Das Haar seidig, blond und sauber. »Ahoi«, sagte er und zwirbelte mit Henrys Monokel an seiner Kette herum. »Das gibt’s bei uns nicht oft in Bangladesch.«
Ich sagte: »Auf den Knien?« Das ängstliche Gesicht des Vikars kam mir in den Sinn. »Sind Sie ein Geistlicher?«
»Ein Geistlicher? Ich bin vom British Council. Ich meinte das Abendessen. Könnten wir es auf den Knien essen?«
Ich wedelte mit dem Glastellerchen herum.
»Abendessen«, sagte er. »So — Platz da — ich kümmere mich um den Rest. Los, ziehen Sie sich ein Kleid an. Ein hübsches. Nehmen Sie sich ein Glas Wein mit«, und damit füllte er die Vase auf.
Also ging ich nach oben und zog das goldfarbene Kleid an und stürzte den Wein hinunter und stand da und sah mich an. Ich kramte nach einem Lippenstift, und nachdem ich ihn aufgelegt hatte, wischte ich ihn wieder ab. Lippenstift macht alt. Ich goss mir Parfüm über. Dann steckte ich mir die Haare hoch.
Dann machte ich sie wieder auf.
Zwei Tabletts mit Pute. Eine neue Flasche neben dem Kaminfeuer, fertig entkorkt. Dein Freund beobachtete mich durch Henrys Monokel. »Sie hat mir ein Paar passende Ohrringe für Sie mitgegeben«, sagte er. »Schnapp.«
Ich packte die Ohrringe aus, Joan, und sagte: »Aber die müssen ja zehn Tonnen wiegen.« Dann legte ich sie an und stellte fest, dass sie federleicht waren. Ich sagte: »Sie sind wie der Jahrmarkt im Park. Sie sind wie Tamburine. Sie kitzeln an den Schultern«, und ich stellte fest, dass sich Stille über den Raum gelegt hatte und Henrys Monokel einen gleichmäßigen Glanz aussandte. »Haben die ein Glück«, meinte er. »Pouilly-Fuissé? Was sollen wir für Musik einlegen?«
»Es sind hauptsächlich Requiems. Ich glaube, ich möchte gar keine Musik hören.«
»Also Requiems bestimmt nicht. Fühlen Sie sich wohl?«
»O ja, sehr.«
»Und wie ich sehe, hatten Sie Hunger.«
Ich sah hinunter und erkannte, dass ich meine ganze Portion Pute mit kalten Röstkartoffeln, Brotsauce, zweierlei Füllung und einem grünen Salat verspeist hatte, dass mein Glas geleert war und sich in der Flasche nur noch ein Rest Pouilly-Fuissé befand. Ich dachte: Eliza, nimm dich in Acht, was sollte die Frage nach deinem Wohlbefinden? Und ich versuchte mich zu sammeln, um etwas Souveränes und Gastgeberisches zu sagen, zum Beispiel: »Was bin ich froh, dass Sie angerufen haben, und wie geht es eigentlich Joan?« Aber ich brachte nur einen Seufzer zustande und lehnte mich wünschend zurück.
»Wieso«, fragte er, »steht das Bild da mit dem Gesicht zur Wand?« Er drehte es um und sagte: »Ah so, ja.«
»Er ist einer von Henrys Ahnen.«
»Der arme Kerl.«
»Henry ist mein Ehemann.«
»Ja, ich weiß über Henry Bescheid.«
»Henry ist — hat Joan viel erzählt?«
»Nein. Nicht viel. Aber man denkt sich seinen Teil.«
»Sie schreibt nie. Zumindest nicht mir. Ich schreibe oft.«
»Warum schreiben Sie? Sind Sie mit ihr verwandt?«
»Meine Güte, sind Sie altmodisch. Das kommt bestimmt davon, dass Sie unter Indern leben. Sie müssen schon sehr lange im Ausland sein. Familien sind hierzulande nicht mehr wichtig genug für Briefe. Nicht mal Freunde schreiben sich noch groß Briefe heutzutage.«
»Also war Joan eine enge Freundin?«
»Na ja, sie war eigentlich gar keine Freundin. Aber sie hat eine Liste mit Adressen dagelassen — mit Postfächern.«
»Warum schreiben Sie denn dann? Bleiben Sie sitzen, ich hole den Plumpudding.«
Ich hörte, wie in der Küche lang und breit diskutiert wurde, und als er mit Silbergeschirr und der Flasche Courvoisier aus der Hausbar zurückkam, zu der der Schlüssel, ich schwöre, unter der Untertasse im Arbeitszimmer liegt (deine Freunde sind recht trinkfreudig, Joan), trabten beide Hunde kleinlaut hinter ihm her.
»Na schön«, sagte er gerade zu ihnen, »wir werden sehen. Das hängt ganz davon ab, wie ihr euch in der nächsten halben Stunde benehmt«, und er reichte mir den Plumpudding und schwenkte eine große weiße Stoffserviette. Dann setzte er sich auf die andere Seite des Kamins vor seinen eigenen Teller. Die Hunde blickten ihn versonnen an. Erst ließ der eine sich hinplumpsen, ordnete seine Vorderpfoten, legte das Kinn darauf ab und blickte weiter versonnen, dann der andere. Mein Hund seufzte.
»Viel besser«, sagte Tom Hopkin. »Nicht wahr?«
»Ja, viel besser.«
»Ich seh’s gern, wenn man die Suppe auslöffelt«, sagte er, »ich meinte, sind Sie schon auf eine Antwort auf die Frage gekommen, warum Sie Joan so zwanghaft Briefe schreiben?«
Ich dachte: Herrje, er hält mich für lesbisch. Er will jetzt das übliche versaute Zeugs hören. Wenn ich es leugne, denkt er, ich versperrte mich der sogenannten neuen Natürlichkeit. Übel, wie Sarah sagen würde.
»Ihrem Erröten und so weiter entnehme ich, dass Ihr Interesse an Joan etwas recht Hehres ist. Sex mit Ihnen ließe wohl zu wünschen übrig.«
Das war ein Schlag in die Magengrube.
»Ich habe eigentlich kein sonderliches Interesse an Joan als Person, außer, dass ich aus irgendeinem Grund das Gefühl habe, sie sehr gut zu kennen.« (Ich dachte: Wie macht er das? Er zwingt mich, die Wahrheit zu sagen.) »Wie gesagt — wir waren nicht mal befreundet. Wenn überhaupt, waren wir ein Gegensatzpaar. Sie erinnert mich an jemanden oder etwas — ich weiß nicht. Ich glaube, ich schreibe ihr, weil ich mich für ihr Verschwinden ein bisschen verantwortlich fühle. Ich habe ihr vorgeworfen, sie sei ein Hypochonder und solle sich zusammenreißen. Erst habe ich dafür gebetet. Gott sagt mir oft, was ich tun soll. Zumindest war das mal so.«
»Erteilen Sie öfters Leuten Ratschläge, die nicht Ihre Freunde sind?«
Ich erzählte ihm von meiner Arbeit im Hospiz.
»Sie dachten, Sie könnten ihr medizinische Hilfe anbieten? Haben Sie denn eine Ausbildung?«
Ich ließ den Kopf hängen und sagte, dass ich dort hauptsächlich Geschirr spülte, mich aber tatsächlich manchmal berufen fühlte, einen Stift zu schwingen und ein wenig herumzuschwadronieren.
»Aber das ist doch kein Grund, sich zu schämen!«
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Das neue Holzscheit knackte und schlug Funken. Der Courvoisier wogte sanft in seinem Glas und fing das Licht ein. Sein Haar glänzte jugendlich seidig. Ich dachte: Dies ist der Mann, nach dem ich mein ganzes Leben gesucht habe.
»Sie sind offenbar eine vortreffliche Frau«, sagte er, und ich brach in Tränen aus.
»Ich bin weit davon entfernt. Aber ich gebe mir Mühe.«
»Wobei — eine vortreffliche Frau zu sein?«
»Nein, natürlich nicht. Sie sind gemein. Wer könnte das wollen? Ach, na ja — ja, wahrscheinlich doch. Ich kann nicht anders. Ich versuche, ein guter Mensch zu sein. So bin ich erzogen. Ich war zu früh dran für das ganze Theater mit der Selbstverwirklichung, für Selbstliebe und Germaine Greers Feminismus — ich hatte zu viel zu tun, um Henry am Laufen zu halten. Ich weiß, dass alle sagen, ich sei humorlos und eingebildet und selbstgerecht und ich rede zu viel, aber nicht mal Lady Gant kann mir unterstellen, ich würde mir keine Mühe geben. Ein guter Mensch zu sein.«
»Gibt es wirklich jemanden namens Lady Gant?« Er lächelte zufrieden. »Und versuchen Sie auch, Gutes zu tun?«
»Ja, natürlich. Warum auch nicht? Ich kann nicht anders. So bin ich erzogen.«
»Gewiss, warum denn auch nicht? Noch ein Gläschen Courvoisier? Sie sind einem Besäufnis doch nicht abgeneigt? Erzählen Sie mir von Henry.« (Scharfer Blick aufs Porträt.) »Sie sagen, er habe Sie verlassen.«
»Hab ich nicht. Hab ich das gesagt? Das weiß doch noch gar keiner. Es ist gerade erst heute Mittag passiert.«
»Heute? Beim Weihnachtsessen? Nun, Weihnachten ist für große Ereignisse bekannt — es gibt recht viele Selbstmorde. Hat er jemals den Abwasch gemacht?«
»Henry? Na ja, es gab ja kaum was abzuwaschen. Wir haben beide eigentlich nichts gegessen. Als er und Charles heute aus der Kirche kamen, wusste ich gleich, da ist was im Busch. Und dann sind sie auf einmal aufgestanden und gegangen. Noch vor dem Nachtisch.«
»Das hört sich in der Tat unmenschlich an.«
Ich nippte an meinem Courvoisier und wollte schon wieder weinen; doch während ich so dasaß, begann ich nachzudenken, und nach dem Nachdenken — der Wein und der Brandy hatten mir mitnichten die Sinne verwirrt, Joan, falls du das denkst — beim Nachdenken wurde mir klar, dass es einiges gab, das für Henry sprach.
»Es gab für ihn nicht viel zu verlassen. Es war kein sehr fröhliches Weihnachtsfest. Ich habe es nie geschafft, ihm ein Kind zu schenken. Wir haben beide keine Eltern mehr. Verwandte gibt es kaum, und unsere Freunde haben alle ihre eigenen Pläne. Charles saß da wie ein toter Fisch, seine Frau war in Bangladesch und hatte nicht mal eine Weihnachtskarte geschickt. Ich habe Henry jetzt wirklich nichts mehr zu sagen. Schon seit Jahren, wobei ich immerhin versuche, ein Gespräch in Gang zu halten. Ich denke, das war vielleicht Teil des Problems. Ich hätte mysteriös und verschwiegen sein sollen. Er ist ein sehr hochrangiger Beamter. Meine Zunge geht gerne mit mir durch, wenn wir zusammen auf Partys sind, und ich bin schon seit Ewigkeiten nicht mehr mit ihm gesehen worden. Er hat denselben Dienstrang wie Charles, und die beiden sind enge Freunde geworden. Beide interessieren sich ausschließlich für ihre Arbeit und ihren Glauben.«
»Und was ist mit der Liebe?«
»Die Liebe?«
»Lieben Sie sich, Sie und Henry?«
»Ob wir uns lieben? Na ja. Ich — darüber denke ich nicht nach. Religion beschäftigt mich auch sehr.«
»Sprechen Sie weiter.«
»Na ja, in unserem Alter, also in Henrys und meinem Alter, sollten wir wahrscheinlich versuchen, Gott zu lieben.«
»Wie, auch nachts?«
»Na ja, immer. Das ist ein christliches Prinzip. Wieso sollten wir das nicht klar kommunizieren, wie die Moslems das tun. Außerdem haben wir getrennte Betten, auf jeder Zimmerseite eins. Henry sagt, sie sähen aus wie maßgefertigt.«
»Und wenn Sie im Bett liegen, denken Sie da auch an Gott?«
»Ja. Manchmal.«
»Und Henry stört das? Meinen Sie deshalb, er habe wenig zurückzulassen gehabt?«
»Ach, Henry hält sich gar nicht mehr im Schlafzimmer auf. Er schläft unten im Arbeitszimmer mit einem kleinen Heizlüfter.«
Tom Hopkin schloss die Augen und öffnete sie wieder. Er sah mich an.
»Eliza, Joan hat mir Süßigkeiten für Sie mitgegeben. Sollen wir sie aufmachen?«
Er setzte sich neben mich aufs Sofa und wir aßen die Süßigkeiten. Um ehrlich zu sein, Joan, sie waren nicht sehr gut. Sie waren so süß, dass mir ganz anders wurde. Ich ging auf kalten Entzug. Sie waren ganz wabbelig und sahen aus wie blasses, gepudertes Menschenfleisch. »Orientalische Köstlichkeiten«, sagte Tom Hopkin, und ich sagte: »Ich habe auch Pralinen da. Barry hat sie mir geschenkt«, und wir aßen Barrys Pralinen, die traumhaft schmeckten, zwei Etagen voll.
»Wer ist Barry?«, fragte er beim dritten Sahnetrüffel — er hatte ihn sich aus der unteren Etage geangelt. Für einen Moment überlegte ich allen Ernstes, ob ich es ihm erzählen könnte. Aber nein.
Da nahm er mich in die Arme, und ich merkte, wie der eine Arm hinter meinem Rücken, der auf dem Sofa ruhte, weiter in die Ferne zu streben begann, während er mich zur Seite und nach unten schob. Ich dachte: Ich wünschte, ich wäre bei dieser Sache nicht ganz so analytisch.
Dann wälzte er sich mit einer schwerfälligen Seitwärtsbewegung auf mich, und ich dachte: Que sera, sera. Bitte lieber Gott, ich habe es nie mit einem anderen Mann als Henry gemacht, und ich bin ein halbes Jahrhundert alt.
Ich wartete.
»Ich hab’s«, sagte er, schnappte sich ein Buch aus dem Regal neben dem Kamin, manövrierte es um meinen Hals herum und hielt es mir mit beiden Händen vor die Nase. Er schob seine Wange dicht an meine. »Dryden«, sagte er. »Ich lese es Ihnen vor.«
Nachdem er die Cäcilienode komplett durchhatte, Joan, wusste ich nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Ich saß aufrecht, angespannt, aufgeladen, wachsam, ängstlich da. Und sehnsüchtig. Ich sehnte mich nach dem letzten Vers. Ich sehnte mich nach Hopkin. Das Buch war so dicht vor unseren Gesichtern und er flüsterte mir so klangvoll in mein rechtes Ohr und hielt mich so fest im Arm.
Ich dachte: Ich sitze hier allein im Haus mit einem wildfremden Mann im besten Anzug meines Mannes mit unmittelbarem Zugriff auf meine Halsader. Er hat anderthalb Flaschen vom Wein meines Mannes getrunken, und drei Brandys. Er ist geisteskrank. Er liest mir ein höchst unangemessenes Gedicht vor. In Kürze wird er mich vergewaltigen.
»Wundervoll«, sagte er und klappte das Buch zu. Er schmiegte sein Gesicht an mein Schlüsselbein. Das Monokel stieß klackernd gegen deine Ohrringe. Die Tamburine rasselten. Er ließ das Monokel fallen.
Wenn sie meine Leiche finden, sagte ich mir, werden einige vielleicht traurig sein; aber ich küsste Tom Hopkin erst mit geöffneten Augen und dann mit geschlossenen. Dann wechselten wir die Lage und ich küsste ihn erneut. Dann drehte ich den Großen Ahnen aus dem achtzehnten Jahrhundert um hundertachtzig Grad und ließ mich rückwärts in Toms Arme gleiten, worauf wir zusammen auf den Boden rollten. Bei der Landung rief er: »Korb«, und beide Hunde trabten artig in die Küche. Er machte sich los, ging hinüber, um die Tür zu schließen, kam zurück und gesellte sich zu mir auf den Kaminvorleger.
»Eliza?«
»Ja?«
»Wäre es möglich, ein Taxi zu rufen?«
»Ein Taxi?«
»Ich sollte zurück in die Wohnung.«
»In welche Wohnung?«
»Ich habe eine Wohnung in Warwick Gardens.«
»Warwick Gardens? Aber Sie hatten doch gerade noch Tropenkleidung an. Sie waren gerade angekommen.«
»Nein. Auf dem Weg vom Flughafen bin ich kurz in die Wohnung gefahren. Ich bin etwas zerstreut.«
Ich dachte an all das, was heutzutage so gesagt und geschrieben wurde über Frauen, die die Initiative ergreifen. Es gibt einen unvermeidlichen Satz. »Sie müssen jetzt nicht gehen.«
Ich probierte ihn aus. Er schaute nachdenklich.
Irgendetwas hatte ich wohl falsch gemacht. Es ist nach wie vor der Mann, der es sagen muss. Ich hatte geglaubt, wir wären da inzwischen weiter. Ich hatte geglaubt, die Frauen fällten jetzt die Entscheidungen — Anne Robin, Marjorie Gargery, Lady Gant. Ich sah sie alle, wie sie sich dem neuen Roman, der TV-Serie, dem läuternden und verjüngenden feministischen Merkblatt entsprechend verhielten, jede mit ihrem heimlichen Geliebten hinter den blickdichten Gardinen ihrer hübschen Häuser mit den Alarmanlagen und Fensterschlössern und Ketten vor der Tür.
Welche Geliebten? Was in aller Welt weiß ich denn — was irgendeine von ihnen treibt? Ich begann vor meinem inneren Auge die Geliebten heraufzubeschwören, Joan, die ein wenig Nervenkitzel in das Leben von Robin, Gargery und Gant brachten. Den Milchmann für Robin, sie ist die Ausgeburt des Konventionellen; den Fensterputzer für Gargery, der sie mit seinen langen Schwenkarmen mit sich reißt. Für Gant? Was? Ha — einen Arzt. Einen jungen und eingeschüchterten Kassenarzt, geplättet unter dem Feld des güldenen Tuches. Ich warf den Kopf hin und her vor Vergnügen, oder war es Hysterie, in Anbetracht ihres Glückes, und ich lachte und lachte unter der hageren köstlichen Anatomie dieses Mannes, der aus der Kälte gekommen war und sich in Henrys Samtjackett hineinschlawinert hatte.
»Oh, nicht weinen«, sagte er. »Bitte weinen Sie nicht. Ich habe mich unmöglich aufgeführt. Das muss der Jetlag sein.« Er setzte sich auf, schraubte sich das Monokel aus dem Auge und setzte seine Brille auf. »Es war Irrsinn, heute Abend noch mal loszugehen. Für mich ist es ungefähr vier Uhr morgens. Meine Frau ist da viel vernünftiger. Sie ist gleich ins Bett gegangen. Ich brauchte ein bisschen Bewegung, also habe ich die Geschenke vorbeigebracht.« Ich saß auf dem Teppich und er tappte davon, um kurz darauf in seiner eigenen Kleidung wieder aufzutauchen.
»Ich habe Henrys Sachen zurückgetan. Es war sehr angenehm. Bitte sagen Sie ihm recht vielen Dank, wenn er nach Hause kommt — ich bin sicher, er kommt bald zurück. Ich fühle mich — nun, ein wenig schuldig. Schönen Abend, ihr Hunde.«
Ich begleitete ihn nicht zur Tür, und erst eine gute Stunde nach seinem Abschied rappelte ich mich hoch und legte die Kette vor. Die Hunde würden heute auf die Runde um den Block verzichten müssen.
Das Bad war völlig verwüstet — Schaum auf dem Boden, überall Handtücher, triefnasse Badematte. Henrys Sachen lagen kreuz und quer verstreut. Ich dachte: Warum schickt Joan mir solche schrecklichen Männer? Um mir klarzumachen, dass es schlimmere gibt als meinen eigenen? Will sie mir sagen, ich soll mir nicht die Mühe machen, ihr in die Freiheit zu folgen?
Liebe Joan, ich fände es wirklich gut, wenn du jetzt mal schreiben und mir erzählen würdest, was du so treibst. Und zwar rasch. Wenn ich mich zu dir gesellen soll, muss ich den Ahnen verkaufen, solange Barry noch in der Lage ist, das Geschäft in die Wege zu leiten. Seit Weihnachten ist schon wieder ein Monat vergangen.
Am Weihnachtsabend ließ ich mich aufs Bett plumpsen, Joan, in deinem Kleid und den Ohrringen, und das Bett begann sich zu drehen. Es schraubte sich immer weiter hinauf und aus dem Fenster und fort in die Ferne. Ich sah hinunter auf die Straße mit ihrem zertretenen Schnee, den hell erleuchteten Bäumen in jedem Fenster, den aalglatten Autos, die nach und nach in aller Ruhe heimkehrten, aus denen Familien quollen, die Geschenke trugen, einander etwas zuriefen. Babys, Päckchen, Flaschen, Spielzeug, Hunde, Decken, endlich wieder zu Hause. Die gut genährte westeuropäische Hochleistungs-Menschenfamilie. Die Sieger.
Immer höher schraubte ich mich hinauf und über den Horizont hinweg, dann weiter und weiter und weiter und raus aus der Welt.
Richtung Himmel? Es ist keiner mehr da, mit dem ich über den Himmel sprechen kann. Heute dachte ich, ich hätte vielleicht einen gefunden. Er hatte genau die richtige Stimme für die Cäcilienode. Eine himmlische Stimme. Und himmlische Hände. Nun, vielleicht liegt es an meiner Obsession mit dem Himmel und alldem, dass ich in dieser Welt so grandios gescheitert bin. Ich sollte mich auf eine Welt nach der anderen konzentrieren. Aber ich frage mich, was Gott sich dabei gedacht hat, mir so viel Einsamkeit aufzuerlegen?
Ich glaube daran, Joan, dass ich leiden könnte, ich glaube, dass ich sogar großes Unglück ertragen könnte, schreckliches Leid in der Hoffnung einer glorreichen Auferstehung. Aber wie soll man mit Gott Hand in Hand gehen, wenn Er seiner Dienerin abzuverlangen scheint, den Weihnachtsabend allein in der Rathbone Road zu verbringen?
Nichtsdestotrotz bin ich deine aufrichtige
und geknickte Nachbarin Eliza
Frohes neues Jahr.
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