Zwei Wochen, meine liebe Joan, sind seit jenem Abend vergangen.
Einen Großteil davon habe ich am Fenster verbracht. Es ist fast Juni. Was für ein Sommer, der uns dieses Jahr erwartet. Der Flieder und die Syringa und die Rosen sind teils schon in voller Blüte, das Gras ist lang und seidig und voller Gänseblümchen — ich weiß nicht, wo der Gärtner hin ist, aber ohne ihn ist es ohnehin besser.
Aber ich habe mir nicht nur den Monat Mai angesehen, Joan, ich habe auch nach der Fish-Familie Ausschau gehalten. Bei jedem vorbeibrausenden Auto frage ich mich, ob es Amanda in die Schule bringt, nachdem sie das Baby bei der Tagesmutter abgegeben hat. Bei jeder schwarz-roten Kappe, die ich sehe, egal an welchem Jungen, denke ich, sie muss Lucien gehören. In jedem Kinderwagen ist Timmy, und jede, die ihn schiebt, ist das Au-pair der Familie Fish. Mit allen führe ich Gespräche. Ich lade sie zum Tee ein. Ich backe einen Kuchen und ziehe mich an, um ihn vorbeizubringen. Ich beherrsche mich. Damit fange ich nicht wieder an. Die Kuchenbackerei der Anglikanerinnen, das ständige Hin- und Hergerenne mit selbstgemachter Marmelade. Ich hab’s versucht. Es hat nicht funktioniert.
Aber Sonntag ging ich wieder in die Kirche, in der Hoffnung, zumindest einen von ihnen zu treffen. Ich ging hinein und zitterte am ganzen Leib wie eine alte Jungfer, die in den Priester verliebt ist. Ich sank auf die Knie und versuchte zu beten, konnte die Rufe und Gespräche aus dem Pfarrhaus aber nicht ausblenden. »Jetzt komm, Amanda, wir sind spät dran.« »Aber du musst ja nicht gehen. Du glaubst doch gar nicht dran.« »Wir müssen — wegen Dad.« »Und was ist mit Ma?« »Was macht die denn?« »Timmy stillen und einen Essay lesen.« »Und wer macht uns unser Lunch?«
Und so ging es immer weiter, das Leben der Fishs in meinem Kopf. Nicht einer von ihnen tauchte in der Kirche auf, nicht mal Nick — es war ein unbekannter Priester mit groß angelegtem Grinsen, der im Gottesdienst ständig den Faden verlor und eine Predigt über die Bedeutung der Vereinten Nationen für die Zukunft Europas hielt, die ziemlich bescheiden zu sein schien. Anstatt zuzuhören, stellte ich mir vor, Lucien und Amanda säßen neben mir in der Bank und Timmy läge selig in meinen Armen und streichelte mir das Gesicht.
Gestern war es den ganzen Tag über besonders schlimm, und als es Abend und ziemlich dunkel geworden war, ließ ich die Hunde zu Hause und machte mich mit geheimnisvollem Lächeln und im dunklen Mantel auf den Weg in den Park und in Richtung Pfarrhaus. Es war still entlang der beinahe menschenleeren Straße, und ich schlüpfte durch das breite Tor, das an einer Stelle aus den Angeln hing, schlich mich im Schutz der Rhododendronbüsche die ungepflegte Einfahrt hinauf, huschte an der gläsernen Haustür vorbei und verbarg mich hinter dem Ceanothus vor dem Wohnzimmerfenster, in dem als einziges Licht brannte.
Ich stand sehr still, mit Abstand zum Fenster, flach gegen die Wand gedrückt. Was, wenn man mich entdeckte?
Schließlich lehnte ich mich zur Seite, drehte den Kopf und sah hinein, und dort saß Nick am Tisch inmitten des Chaos und schrieb, während Timmy in prachtvoller Größe auf seinem Schoß schlief. Nick schrieb friedlich vor sich hin. Eine Katze hockte auf der Fensterbank und sah hinaus in die Nacht. Sie sah mich angewidert an, sprang zu Boden und starrte penetrant und lautlos kommandierend die Tür an. Mitsamt dem Baby und dem Stift stand Nick auf, ließ die Katze hinaus und blieb nachdenklich mitten im Raum stehen. Ich dachte: Ach, er ist einsam und traurig. Ich sah ihn seufzen, sich das Baby auf die Schulter hieven, sich fragen, ob er es nach oben bringen und riskieren sollte, es beim Schlafenlegen zu wecken, einen sehnsüchtigen Blick zurück auf seine Arbeit werfen. Der Raum um ihn herum war unaufgeräumt und trostlos, trist und verwahrlost. Die zeitgenössische Kulisse für den gequälten anglikanischen Priester.
Auf einmal hob er den Blick und horchte. Dann wachte Timmy auf und zeigte aufs Fenster, und ich dachte: Lieber Gott, sie haben mich gehört. Was sage ich, was ich hier mache? Ich war zufällig in der Gegend? Um zehn Uhr abends? Ich musste fliehen. Aber bevor ich darüber nachdenken konnte, wie und wohin, kam Vanessas Auto um die Ecke geschossen und hielt direkt neben mir auf der anderen Seite des Ceanothus. Beide Autotüren wurden aufgeworfen, über der Veranda sprang das Licht an und erleuchtete Vanessa, die gerade etwas in Papier Gewickeltes aß, und Lucien, der ebenfalls kaute und einen großen Pappkarton in der Hand hatte, rannte lachend voran zur gläsernen Haustür. Nick erschien mit dem Baby.
Nick sagte: »Ihr kommt aber spät. War’s gut?«
»Wundervoll«, sagte Vanessa und nahm ihn und das Baby gleichzeitig in den Arm. »Vorzüglich. Big Mäcs. Wir haben das Programm. Hier — in der Box.«
»Ist Amanda noch wach?«, fragte Lucien. »Weck sie — wir haben ihr einen Big Mäc mitgebracht.«
»Hat’s dir auch gefallen, Lucien?«
»Großartig. Großartiger dritter Akt. Ma hat geweint.«
Nick sah lächelnd zu Vanessa hinunter und drückte sie an sich und küsste ihr das Haar. »Pass auf Timmy auf«, sagte sie, »nicht, dass er noch Burger isst.« Lachend gingen sie zusammen ins Haus. Kurz darauf kam Nick ans Fenster und zog die Gardinen vor, und irgendwer drehte laut Musik auf.
Also trat ich recht geräuschvoll aus dem Blumenbeet, Joan, und ging, mit leichten und federnden Schritten über den Kies knirschend, geradewegs die Auffahrt des Pfarrhauses hinunter. Als ich den Park erreichte, sah er sehr schwarz aus, und die Straße am Park entlang wirkte viel länger als vor einer halben Stunde, und sehr schlecht beleuchtet — nur alle Viertelmeile vielleicht eine Laterne. Ich kam am alten Tierheim vorbei, wo früher die streunenden Schafe gesammelt wurden, und dann ging ich querfeldein zum Teich, wo sich hinter einer nächtlichen Ente ein langes dreieckiges Glanzlicht erstreckte. Kein Laut war zu hören, nur das ferne Donnern des Verkehrs.
In einigen der Anwesen hier am Rand des Parks glommen trübe Lichter. Ich hielt Ausschau nach der Pferdekutsche vor dem schmiedeeisernen Tor, aber es war ja schon lange nach acht, also hatte ich sie wieder mal verpasst. Es ging ein warmer Sommerwind, und abgerissene Wolken trieben über den rot leuchtenden Londoner Himmel dahin. Ich ging die Hill Street hinunter und bog in die Rathbone Road und stand vor dem Kühlschrank und aß den Kuchen, den ich gebacken hatte. Er war mit Glasur und einer Kirsche. Die Hunde sahen mir verzweifelt zu.
»Ist ja gut«, sagte ich und fand die Leine. »Ist ja gut.« Ich sang und summte vor mich hin. Ich zog los, wieder die Rathbone Road hinunter, auf meine nächtliche Patrouille um den Block.
Jeden Pflasterstein kenne ich. Jedes beleuchtete Fenster kenne ich. Abend für Abend drehe ich meine Runden — halte inne und rufe, bleibe stehen und warte. Erst stehe ich vor Deborahs Haus und grüße das prachtvolle Schaukelpferd im Fenster. Kein Licht heute Abend, aber ich kenne die geblähten Nüstern, die Glut in den Augen, die gespitzten Ohren, die der fernen Trommel lauschen. Ich stehe da und starre aus der Dunkelheit in die Dunkelheit, bis ich seine tänzelnde Gestalt ausmachen kann. Bald schon ist Jahrmarkt. Bald schon ist Jahrmarkt.
Zu meinen Füßen auf dem Pflaster liegt vergessen ein von Vera gestricktes Kinderspielzeug. Die Hunde schnuppern daran. Ich setze es auf die Balustrade der Stufen, wo es seinen flachen Kopf anlehnt.
Einige der Häuser sind jetzt in Wohnungen unterteilt. Junge Leute in sexy Kleidern stehen in den Souterrains herum. Teure kleine Fernsehgeräte flimmern. Schränke aus Kiefernholz, Edelstahl, Trockenblumenbündel. Der breite Rücken einer schwangeren jungen Frau. Sie fasst die glitzernden Hähne mit gelben Plastikhandschuhen an. Adieu, du Sechzigerjahre-Tragödie von Heim und Herd, denn Heim und Herd sind jetzt Kunst. Die Böden sind aus blassem oder bronzefarbenem Kork. Die junge Frau dreht sich, um mit Mörser und Stößel Knoblauch zu zerdrücken. Das Licht fällt auf eine Flasche italienisches Öl. Ihr Freund, Kerl oder Ehemann bügelt gerade sein rosafarbenes Hemd.
Ein Stück weiter die Straße hoch sitzen die Gargerys in der Küche an einem Fünfzigerjahre-Resopaltisch, je einen Trinkbecher vor sich und vertieft in ein ernstes Gespräch. An den Wänden hängen Plakate, Pegboards, Urkunden; ein vielbenutztes Klavier, die Tasten konkav vom Üben. Es gehörte mal ihrer Mutter, und das Lied geht immer weiter. In den Etagen darüber befindet sich hinter abgedunkelten Scheiben je ein schlafendes, mit Wissen vollgestopftes Gargery-Kind. Während ich schaue, fliegen sämtliche Fenster auf und die Kinder schießen heraus und davon, fünf Chagall’sche Embryonen. Eins davon hält seine kleine Bettdecke umklammert, ein anderes einen Koffer mit der Aufschrift ›Irgendwo‹, eines heult den Mond an. Tröstet euch mit Kakao, geliebte Gargerys, solange es noch geht.
Ein paar Häuser weiter stehen wir vor Anne Robins Villa. Es ist ein älteres Haus und herrschaftlicher als wir alle zusammen. In ihrem Arbeitszimmer brennt noch Licht. Sie arbeitet mit Hochdruck, kreiert Kaninchen. Darüber brennt Licht im Fenster des neuen philippinischen Au-pairs. Orientalische Klänge. Die einsame Anne verstopft sich die Ohren auf der Suche nach Kindheit im leeren Nest.
Hinter mir naht auf leichten Sohlen der kleine schwarze Jogger. Er hat noch nie etwas gesagt. Er weiß, dass ich es bin. Er joggt jeden Abend vorbei, sagt aber nie was. Er wohnt irgendwo zur Untermiete.
Hier, gegenüber von meinem Haus, ist das Haus der kinderlosen und beachtlichen Baxters, mit Dulcie Baxter in voller Sicht an ihrem Schreibtisch beim Klausurenkorrigieren. Ihr herrliches weißes Haar steht ihr zu Berge vor Zorn über das, was sie auf dem Bogen sieht. Ihr Gesicht kann ich nicht erkennen, denn die Lampe leuchtet nach unten, aber ich bilde mir ein, ihre entschlossene, strenge Haltung zu sehen. Häkchen, Häkchen, Streichen. Sie schaut nicht hoch, vielleicht um sich den Anblick von Annes Licht zu ersparen. Sie verachtet Anne mit nahezu Johnson’schem Donnergrollen, kann kaum ihre Zunge zügeln, selbst wenn sie im selben Raum sind und den Sherry derselben Gastgeberin trinken. »Wieso sind wir alle so ungeheuer stolz auf Anne Robin? Den Mist könnte doch jede von uns schreiben.« Der Stift ist die Verlängerung von Dulcie Baxters Lehrerinnenfingern, ihrem engagierten, kritischen Geist. Sie ist zuverlässig, überarbeitet, Girton-Absolventin, unkreativ und stolz darauf. Sie wünschte, es gäbe nur tote Schriftsteller. Lebende sind ihrer unwürdig. Selbst die toten schlurfen nackt und kleinlaut unter ihrem Blick dahin. Shakespeare bebt in ihrem Angesicht. Einstmals, irgendwo, irgendwann, wird doch irgendein kleiner Strang Lyrik einen Baxter’schen Nerv getroffen haben? Man fragt sich das. Häkchen, Häkchen, Streichen.
Und hinter ihr kommt auf Zehenspitzen der alte Richard mit einer Tasse Tee. Ehrerbietig stellt er die Tasse neben ihr ab, und sie nickt.
Ich biege in die Hauptstraße ab und gehe an all den kleinen Schaufenstern vorbei. Ganz am Ende ist ein Laden mit einem in die Wand eingelassenen, schmeichelhaften alten Spiegel, der mir über die Jahre Trost gespendet hat. Doch heute Abend hat mein Spiegelbild etwas Wirres. Ich biege links ab. Laufe entlang der kleinen Cottages, es sind die Dienstbotenhäuser der großen Anwesen von vor hundert Jahren. Eine Frau mit grimmigem Pferdeschwanz spielt durch die Doppelverglasung Geige, sodass man unmöglich wissen kann, ob die Musik dem leidenschaftlichen Ausdruck ihres Witwengesichts entspricht. Sie ist allein. Ich schaue eine Weile zu, um zu sehen, ob sie in tausend Stücke zerspringt — Sterne und Kometen, die wie nasses Konfetti an der Decke kleben. Letzte Woche hat sie mir den Gefallen getan. Dann geht’s weiter und um die Ecke und heimwärts in Richtung der beständigen Dunkelheit der Kirche.
Doch in der Kirche ist Festbeleuchtung, und während ich voller Verblüffung hinsehe, kommen mit einem mal Gedanken an Henry in mir auf. So spät abends noch Licht in seiner Kirche, und ohne seine Zustimmung — wie kann er das ertragen? Er, der gute Gemeindevorsteher? Und auf einmal weiß ich auch, dass es irgendein Geheimnis gibt um Henrys Wegzug zum Dolphin Square mit seinem schimmernden Swimmingpool, der verschlossenen Front zum Fluss, dem finsteren unterirdischen Parkhaus, irgendein Geheimnis, hinter das ich eigentlich kommen müsste. Vielleicht ist es etwas, das alle wissen außer mir.
Inzwischen geht es auf Mitternacht zu. Der kleine Block teurer Mini-Wohnungen westlich des Westportals liegt im Dunkeln. Gegenüber ist die kunstlos wirkende Frau, bei der ständig eingebrochen wird und die bis spätnachts mit einer Keule auf dem Schoß dasitzt, selbst sie ist in Dunkelheit gehüllt. Daneben steht das Haus der Frau, die mit ihren Freundinnen kleine Gabelfrühstücke abhält, um über ihre Salattage zu reden, und sich abends in den Pub namens Leather Bottle schleicht — auch sie ist in Dunkelheit gehüllt. Grelles Licht aus den sechs langen Fenstern des nördlichen Querhauses scheint in ihre Betten hinein. Das breite Fenster der Südwand wirft grelles Licht auf die Wohnungsblocks.
St Saviour’s ist 150 Jahre alt und wurde als Tochterkirche der Pfarrkirche gebaut, die sich als zu klein erwiesen hatte für die Intensität des Christentums zur Zeit des Oxford Movement. Sie stellt einen der letzten Atemzüge der Präraffaeliten dar, als die Bruderschaft die Bodenhaftung verloren hatte, vergleichbar mit Picasso, der im Alter mit rosa Klopapierrollen herumlief und bonbonfarbene Tauben daraus machte. Unsere Fenster bestehen hauptsächlich aus bunten Farbtupfern, die so grell sind, dass es über die Dreißigerjahre hinweg immer wieder Petitionen gab, sie austauschen zu lassen. Es kam der Krieg und die Fenster überlebten. Die himbeerroten Roben, die lila Kamele, die orangen Palmen gaben kaum ein Klirren von sich, als die Landmine in der Rathbone Road hochging. Sie erstrahlen hier noch immer.
Und an diesem Abend, in dieser dunklen Nacht, Joan, haben sie wahrhaftig gestrahlt. Sie warfen ihr Kaleidoskop aus schmalen Scheiben, in Blei gegossen wie eine Stickerei von links, über die schwarzen Straßen. Als ich fast da war, hörte ich die Kirchenorgel.
Ich betrat die Vorhalle und stand da. Joan — noch nie in meinem ganzen Leben habe ich ein solches Orgelspiel gehört. Das Gebäude bebte in seinen Grundfesten. Die Kamele und Kakteen und regenbogenfarbenen Heiligen bebten vor Ehrfurcht und Freude. Die Musik dröhnte, schwoll an und brauste dahin, immer wuchtiger, immer furchtsamer und andächtiger. Die Hunde begannen zu winseln und zu heulen. Sie zogen an ihren Leinen. Ich stand da und schauderte und empfand eine nahezu sexuelle Erregung. Ich wickelte mir beide Leinen um die Hände, zog die Hunde in Richtung Portal und versuchte den Türgriff zu bewegen, doch die Tür war abgeschlossen.
Die Musik stieg jetzt immer höher empor, und ich rüttelte an der Tür und sank auf die Knie und presste die Stirn gegen den dicken Eisenring des Türgriffs und spürte, wie sich das Innere der Kirche mit Musik füllte wie das Meer mit den Gezeiten, wie ein Glas bis über den Rand hinaus. Die Musik durchdrang die Tür, bis auch ich voll davon war. Sie flutete mich. Ich brachte die Hunde nach Hause und aß noch ein Stück Kuchen und eine kleine Pastete.
Dann, Joan, wusste ich, dass ich noch mal zurückmusste. Erweckungserlebnis hin oder her, aber man muss das Erlebnis danach mit der Alltagswelt in Bezug setzen können. Ich musste in Erfahrung bringen, was in der Kirche los gewesen war. Es war meine Pflicht als Kirchenhelferin. Seit Wochen hatte ich keine Bank mehr abgestaubt — was keinem aufgefallen war —, also hatte ich jeden Grund, mich dort aufzuhalten, zumal meines Wissens nirgends geschrieben stand, dass wir unsere Arbeit nicht auch um Mitternacht verrichten dürfen. Und so zog ich aufs Neue los, allein, nur um festzustellen, dass St Saviour’s jetzt im Dunkeln lag und kein Laut aus dem Gebäude drang. Ich nahm den Schlüssel von seinem Platz an der Innenseite der Südtür über dem Schwarzen Brett hinter dem losen Stein, und ich fragte mich, warum ich nicht vorhin daran gedacht hatte, dass er dort zu finden war. Hatte der Orgelspieler, wer immer es gewesen war, ihn benutzt? Sich damit eingeschlossen? Und gerade erst wieder zurückgelegt?
Der Schlüssel fühlte sich nicht wie gerade zurückgelegt an, er fühlte sich kalt an, als hätte er lange in seinem kleinen feuchten Grab gelegen, doch der einzig andere Schlüssel, bis auf den des Vikars, befindet sich immer im Pfarrhaus. Einen dritten hatte damals Henry. Vielleicht hat ihn jetzt, wer immer sein Stellvertreter sein mag — ich habe nie nachgefragt. Vielleicht liegt er auf Henrys zweifellos noch immer akkurat und pedantisch aufgeräumtem Schreibtisch am Dolphin Square. Dein Simon hatte auch mal einen Schlüssel, vielleicht erinnerst du dich, Joan, als er seine ersten Orgelprüfungen ablegte, aber das ist mehrere Jahre her. Ich erinnere mich, dass Simon früher nachts geübt hat. Es gab Beschwerden.
Im Innern der Kirche tastete ich neben der Tür nach dem Lichtschalter, um mir in die Sakristei zu leuchten, aber ich fand ihn nicht, also tastete ich mir meinen Weg durch das dunkle Seitenschiff. In der Sakristei fand ich die Schalttafel für die gesamte Kirche und legte den Schalter um, der mit Chorraum markiert war.
Als ich in den Chorraum kam, war die Orgel abgeschlossen und der Deckel heruntergezogen, und ich ging hinüber und befühlte das Kissen, das keinerlei Restwärme abgab. Ich sah hinauf zu den schweigenden silbernen Orgelpfeifen mit ihren Schwalbennesterschlitzen. Unglaublich, dass die Herrlichkeit, die ich vor kaum einer halben Stunde gehört hatte, diesen kühlen Rohren entsprungen war. Ich hatte geträumt.
Die Musik war aus.
Doch tief unten aus dem unbeleuchteten Kirchenschiff hörte ich jemanden hantieren, ein plötzliches Scheppern. Irgendjemand lief dort herum. Ich rief: »He! Hallo? Ist da jemand? Hallo?«
Schweigen.
Ich musste unten durchs Kirchenschiff, um zum Ausgang zu gelangen. Wenn ich von der Sakristei aus das Licht löschte, würde ich im Stockdunkeln durchs Kirchenschiff gehen müssen. Ich starrte in die Schatten. Absolute Stille. Finsternis.
»Hallo?«
Weiterhin Stille.
Ich ging in die Sakristei, schaltete die Lampen aus und begann mir mit ausgestreckten Armen und im schwachen Licht der etwas helleren Langfenster einen Weg durchs Seitenschiff zu bahnen. Erst ging ich mit langsamen, mutigen Schritten, dann immer schneller, mit trotzigem Blick in die Dunkelheit.
Als ich die Südtür erreichte, war mir flau und ich drehte mich um und rief ins Kirchenschiff: »Ich lass mich nicht veralbern. Es ist überhaupt niemand hier.«
Es herrschte Stille, und dann begann die ganze Kirche vor Lachen zu dröhnen, und ich rannte stolpernd davon. Ich hörte es, schrill, triumphierend und voller Hohn wie ein schwachsinniges Kind. Die Tür krachte hinter mir ins Schloss, und ich rannte über die Straße, die Gasse hinunter und hinein in die schläfrige Rathbone Road.
Ich lag im Bett.
Es war ein Uhr morgens.
Ich schlief ein wenig, wachte aber immer wieder auf, erst vom Widerhall der Musik, dann vom Widerhall des Gelächters. Dann schlief ich und träumte.
Ich träumte von einem Kind mit ausgestreckten Armen und von dem selbstsicheren Mädchen, Amanda, und dem würdevollen Jungen. Der Junge stand an einem Tisch voller Bücher und er redete streng auf mich ein. Bei aller Strenge schien er gerecht, wenn auch nicht sonderlich freundlich, ich wusste, dass das, was er sagte, zu meinem Besten war, doch ich konnte nicht verstehen, was er sagte. Seine Lippen bewegten sich, doch die Tonspur war defekt. »Sag’s mir, sag’s mir«, bettelte ich, und als ich aufwachte, rief ich es laut. In meinem Schlafzimmer brannte Licht. Es ging aus.
Ich habe mein Bett umgestellt, Joan, ach, schon vor langer Zeit, ich wollte diese Sache mit den getrennten Betten wohl abstreiten, sie leugnen. Zunächst hatte ich Sachen auf Henrys Bett gehäuft und alles mit Tüchern bedeckt. Dann hatte ich die Sachen zum Trödler und Henrys Bett zum Seniorenhilfswerk geschickt. Mein eigenes Bett steht jetzt einzeln und mitten im Raum. Den Teppich habe ich entfernt und längst natürlich die Gardinen. Jetzt liege ich Nacht für Nacht aufgebahrt wie eine Leiche, Nachttischleuchte und Nachttisch sind unnötig. Ich schwebe jetzt, ganz wie Danae, den Sternen dargeboten. Die Deckenleuchte in der Mitte ist eine schirmlose Glühbirne.
Der Fensterrahmen hebt sich gegen die mondlose Nacht ab. Ich höre den Wind bei dir gegenüber in den hohen Bäumen, Joan, und in meinen eigenen hohen Bäumen hinter mir im Garten. Ansonsten herrscht vollkommene Stille. Die Hunde schlafen in der Küche. Ich beginne zu treiben.
Dann springt erneut der Lichtstrahl quer durchs Zimmer. Rauf, im Kreis, runter und davon. Eine Taschenlampe.
Es ist jemand im Zimmer, Joan, und ich stehe, bevor es mir klar wird, am Fenster und mein Herz geht wie ein Blasebalg. Rumpel, fauch — ich taste nach einer Gardine, um mich daran festzuhalten, aber da ist keine. Rumpel, fauch. Ich klammere mich an den Fensterrahmen.
Das Licht kommt wieder und es ist nicht der Strahl einer Taschenlampe in meinem eigenen Haus, Joan, sondern in deinem. Das Licht kommt von gegenüber. Rauf geht es und runter, es flitzt umher in einem der oberen Fenster im oberen Stock. Kurz erhellt es die Stuckrosette an der Decke deines Schlafzimmers und den sizilianischen Kronleuchter mit den gemalten Zitronen aus dem Peter Jones, den dir nachzumachen ich nie mutig genug war — alles voller Spinnweben. Ich sehe dein Haus aufblitzen, dich selbst aufblitzen, noch immer farbig und lebendig leuchtend — dein königsblauer Teppich auf der Treppe, deine Marmorurnen mit dem immerwährenden Efeu, deine unbrauchbaren französischen Kerzenhalter aus dem achtzehnten Jahrhundert an der Wand. Dein beneidenswertes Pfeifen auf den guten Geschmack unserer Straße.
Jetzt ist wieder alles schwarz.
Ein Einbrecher bewegt sich in Nummer 34, Joan, also rufe ich sofort die Polizei.
Und dann, liebe Joan, gehe ich wieder los, in Morgenmantel und Pantoffeln gehe ich nach drüben — und mit Tweedmütze, denn es ist nicht warm. Ich gehe mit schnellen Schritten und lautlos durch dein Gartentor, ums Haus herum, vorbei am Ballsaal und den Stapeln instabiler goldfarbener Stühle und in den Garten. Von der Terrasse aus beobachte ich das Haus.
Im Inneren der schwarzen Fenster ist zunächst nichts zu sehen, aber dann, von der Diele aus, wieder der Lichtstrahl der Taschenlampe. Er kommt näher. Ein Leuchten, anhaltend, schwindelerregend, fegt eilig über die Wohnzimmerwände. Ich rücke näher an die Fenster heran und stehe zwischen dem Unkraut und den treuen, ungepflegten Chrysanthemen und Dahlien. Ich sehe hinein.
Wieder geht die Taschenlampe an, und ich sehe Simon. Er hat die Taschenlampe auf den Kamin gestützt und sie scheint ihm ins Gesicht, während er mit Papier und Hölzern und einer Schachtel Streichhölzer hantiert. Die Flamme am Ende eines Anzünders greift über auf die Hölzer, und er beginnt mit seinen wunderschönen Fingerspitzen kleine Stückchen Kohle zusammenzulegen. »Ach, Simon!«
Ich klopfe gegen das Fenster, und eigentlich müsste er sich zu Tode erschrecken, aber er macht seelenruhig weiter mit seinem gelben Feuer, bevor er mir langsam sein sanftmütiges Galahad-Gesicht zuwendet. Er lächelt, steht auf und geht an die Terrassentür, wo ich stehe, und ich sehe seine Lippen, die den Namen »Eliza« formen. Dann sehe ich, dass es weder Simons Lippen sind noch sein Gesicht, noch würde Simon jemals diesen glitschigen schwarzen Laufanzug tragen, und da legt sich eine Hand wie ein Backstein auf meine Schulter und die Polizei ist hier.
Nicht nur hier, sondern vor deiner Haustür auf der Straßenseite, Joan, und an deiner Seitentür am Kohlenschuppen und neben dem Klohäuschen des Gärtners. Ein Polizeiauto hat sich leise in die Rathbone Road geschlichen, vollbepackt mit strammen Unsympathen. Leise, aber nicht heimlich, denn aus allen Ecken der Straße bewegen sich weitere Gestalten in diverser Montur auf uns zu. Es sind die Gargerys samt Philippinerinnen und Dulcie Baxter mit hektischem Blick und Tinte im Haar. Sehe ich da nicht auch Isobel Ingham, eingehüllt in einen Shawl? Und die schwangere junge Frau mit ihrem bügelnden Ehemann? Nur Deborahs Haus ist dunkel, die blaue Tür geschlossen. Die Ceresstatue kümmert’s nicht die Bohne.
»Eliza, ach Eliza!«
Die Bewohner der Rathbone Road bewegen sich auf mich zu, während ein Polizist mich in ihre Richtung abführt. »Ach Eliza, was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?«
Sie sind so überzeugend, die Bewohner der Rathbone Road, so artikuliert, selbstsicher, souverän, hochgebildet, nachhaltig, stark, autoritär und reich. Sie machen die Polizeipräsenz zunichte, bevor ich auch nur angefangen habe, mich ihr zu erklären, geschweige denn ihr Gesicht zu sehen. Das Polizeiauto ist weg. Marjorie Gargery rennt mit einer Tasse Tee herbei und irgendwer mit einem Mantel. Isobel Ingham geht wortlos und ohne einen Blick zurückzuwerfen davon und verschwindet durch die hohe Tür in ihrer Wand. Alle anderen — bis auf das schwangere Pärchen, das abseits steht und leicht befangen ist —, aber alle anderen drängen mich hinüber bis vor meine eigene Haustür. Und, ach, um Himmels willen, hier kommen die Baxters mit Wärmflaschen aus ihrem Haus, und wie es aussieht, sind sie entschlossen, die Nacht bei mir zu verbringen.
»Es ist alles in bester Ordnung mit mir. Ich habe Simon. Simon wird heute in Nummer 43 übernachten. Es war nur Simon. Ich habe keine Ahnung, warum er nicht einfach gefragt hat, ob er hier schlafen kann.«
Aber sie haben mich ins Bett gesteckt (die Schweine), und Dulcie scheint Matratzen durchs Haus zu schleppen, damit sie bei mir auf dem Boden schlafen kann. »Bitte, Eliza, Sie dürfen jetzt nicht allein sein.«
»Schauen Sie«, sage ich und setze mich auf, schütte Tee in mich hinein, knuspere Kekse, hellwach wie noch nie. (Ich bin nicht müde. Ich bin seit Monaten nicht müde gewesen.) »Lincoln Biscuits, sehr schön, Dulcie — es tut mir leid. Ich bin wach geworden, weil da ein helles Licht war, das zu mir reinschien. Ich bin rübergelaufen und hab gesehen, dass es nur Simon war, der bei sich zu Hause eingebrochen war.«
Jetzt standen beide Baxters Seite an Seite am Fuß meines Bettes.
»Simon?«
»Joans Simon. Er muss aus Cambridge nach London gefahren sein und den letzten Zug verpasst haben. Für ein Konzert, nehm ich an. Ich habe ihn vorher in der Kirche spielen hören. Wissen Sie — wie früher. Er war wundervoll. Ich saß auf der Veranda und hörte ihm zu.«
Jetzt sitzen sie Seite an Seite am Fußende meines Bettes, die beiden Baxters, und rutschen unruhig mit ihren mageren Hinterteilen hin und her.
»Ich muss verrückt sein — ich wusste doch, dass er einen Schlüssel für die Kirche hatte. Ich hab einfach nicht geschaltet. Als das Licht der Taschenlampe plötzlich auf mir herumsprang, habe ich nicht geschaltet. Ich hab die Polizei angerufen, bevor ich rüberlief und sah, dass es nur Simon war. Aber bevor ich Zeit hatte, nach Hause zu gehen und noch mal anzurufen und zu sagen, dass es ein Versehen war …«
»Eliza«, sagte der düstere Richard Baxter mit den klugen rechtsprechenden Lippen, den in dürftigen, aber ordentlichen Büscheln abstehenden Haaren. (Wie klug von ihm, Richter zu werden. Sein Kopf ist bereits eine halbe Perücke.) »Eliza, darf ich Ihnen nur eine Frage stellen. Wo, glauben Sie, ist Simon jetzt?«
»Na ja, ich hoffe, ich hoffe doch sehr, dass sich jemand um ihn kümmert. In dem Haus da drüben friert es sicher Stein und Bein. Seit Monaten ist keiner auch nur in der Nähe gewesen. Ich sehe Charles dort nie mehr. Oder überhaupt. Sarah ist in Oxford …«
Die Baxters sitzen nachdenklich da, und ich versuche aufzustehen, um nach Simon zu suchen, der hungrig und allein sein muss. Vier Baxter’sche Hände sind in der Luft, um mich zurück in die Kissen zu drücken.
»Dulcie, Richard, könnten Sie rausfinden, was mit Simon ist?«
Zweifaches freundliches Baxter-Nicken.
»Ich habe ein Gästezimmer. Der arme Junge mit seinen Anzündern. Er braucht jemanden, der sich um ihn kümmert. Er braucht seine Mutter.« Ein Blitz der Angst durchzuckte mich. Dann fiel mir das aalglatte, gemeine kleine Gesicht wieder ein, das ebenso wenig Simon war wie Tom Hopkin.
»Ja«, sagen sie und beobachten mich. »Ja, Eliza.«
Jetzt auf einmal sind meine Augen schwer. Es muss irgendetwas im Tee gewesen sein, und ich will dagegen aufbegehren. Seit Monaten habe ich keinen Schlaf gebraucht. Strenggenommen habe ich seit dem Weihnachtsgelage nicht mehr richtig geschlafen.
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