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»Die ist komplett verrückt«, sagte Giles Osborne. »Und zwar so verrückt, dass sie mir und meinen Mitarbeitern Angst macht.«
Moss und Erika saßen in Osbornes verglastem Büro mit Blick auf die Gärten mehrerer Reihenhäuser. Hinter den Gärten rumpelte ein Zug vorbei, und auf einem Industriegelände in der Nähe erhoben sich vier riesige, regennasse Gasometer. Es schien absurd, ein derart hochmodernes Gebäude mit einem derart trostlosen Ausblick zu errichten.
Osborne sah aus, als hätte er nicht geschlafen, sein Gesicht war blass und eingefallen. Erika fiel auf, dass er abgenommen hatte, seit Andreas Leiche vor zwei Wochen gefunden worden war.
»Die Eltern sind voll im Bilde, was Linda angeht«, fuhr Osborne fort. »Sie ist schon seit Jahren das schwarze Schaf der Familie. Sie ist von jeder Schule geflogen, auf die man sie geschickt hat. Als sie neun war, hat sie mit einem Zirkel auf eine Lehrerin eingestochen. Die arme Frau hat ein Auge verloren.«
»Sie glauben also, dass Linda ein psychisches Problem hat?«, fragte Erika.
»So wie Sie das formulieren, klingt es viel mysteriöser und exotischer, als es ist. Sie ist verrückt. Ganz einfach schwachsinnig. Aber wenn viel Geld da ist und eine einflussreiche Familie betroffen ist, wird alles aufgebauscht. Das Problem ist, dass Linda genau weiß, dass ihre Taten keine Konsequenzen nach sich ziehen. «
»Zumindest bisher nicht«, bemerkte Moss.
Osborne zuckte die Achseln. »Sir Simon löst jedes Problem entweder mit Geld oder mit ein paar Worten in ein einflussreiches Ohr … Am Ende hat er der Lehrerin ein Haus gekauft. Sie wohnt jetzt im ersten Stock und vermietet das Erdgeschoss. Dafür kann man schon mal ein Auge opfern, meinen Sie nicht?«
Schweigen. Ein weiterer Zug rumpelte vorbei und ließ sein Signal ertönen.
»Tut mir leid. Ich möchte nicht grausam klingen. Ich bin dabei, Andreas Beerdigung vorzubereiten. Eigentlich hatte ich vorgehabt, unsere Hochzeit zu planen. Ich hätte mir nie träumen lassen … Linda kümmert sich um den Blumenschmuck. Sie besteht darauf, dass die Trauerfeier in der Kirche in Chiswick abgehalten wird, in die sie geht. Und ich sitze hier vor einem leeren Bildschirm und versuche, eine Trauerrede zu formulieren.«
»Um eine Trauerrede zu schreiben, muss man die verstorbene Person gut gekannt haben«, sagte Moss.
»Ja, das stimmt.«
»War Andrea religiös?«, fragte Erika, um das Gespräch in ein ruhigeres Fahrwasser zu lenken.
»Nein.«
»Und David, ist er religiös?«
»Wenn alle Nonnen große Titten und tiefe Ausschnitte hätten, wäre er garantiert katholisch«, erwiderte Osborne mit einem trockenen Lachen.
»Was meinen Sie denn damit?«
»Gott, müssen Sie denn alles wörtlich nehmen? Es war ein Witz. David ist ein Weiberheld. Er ist jung. Er ist eigentlich erstaunlich normal. Kommt eher auf seine Mutter als …«
»Linda«, ergänzte Moss.
»Ja, jetzt gibt es ja nur noch ihn und Linda«, sagte Osborne und wischte eine Träne weg .
»Und Linda geht regelmäßig in die Kirche?«
»Ja. Ich glaube kaum, dass es dem Herrgott Spaß macht, sich jeden Abend ihre schrägen Gebete anzuhören«, sagte Osborne.
»Ist Linda oft in Ihrem Büro gewesen?«, fragte Erika.
»Sie ist einmal mit Andrea gekommen, weil sie sich das Haus ansehen wollte. Danach ist sie ein paarmal alleine hergekommen.«
»Wann war das?«, fragte Moss.
»Juli, August letzten Jahres.«
»Und warum ist sie allein hergekommen?«
»Sie wollte zu mir, und mir ist ziemlich schnell klar geworden, dass sie … dass sie … Na ja, sie wollte Sex.«
»Wie hat sie Ihnen das denn zu verstehen gegeben?«
»Na, was glauben Sie denn wohl?« Osborne errötete. Er schaute sich um, als wäre er am liebsten im Erdboden versunken. »Sie hat ihren Pullover hochgeschoben und mir ihre Titten gezeigt. Sie hat gesagt, es würde niemand davon erfahren.«
»Und was haben Sie getan?«
»Ich hab ihr gesagt, sie solle verschwinden. Selbst wenn sie nicht Andreas Schwester gewesen wäre, sie ist ja nun nicht gerade …«
»Nicht gerade was?«
»Na ja, sie ist doch nicht gerade ein Hingucker, oder?«
Moss und Erika schwiegen.
»Soweit ich weiß«, fuhr Osborne fort, »ist es kein Verbrechen, jemanden …«
»Abstoßend zu finden?«, beendete Erika den Satz für ihn.
»So weit würde ich nicht gehen«, sagte Osborne.
»Und dann ist die Sache richtig hässlich geworden. Linda hat Ihr Büro verwüstet und ist laut Polizeibericht bei Ihnen eingebrochen und hat Ihre Katze vergiftet.«
»Ja. Und … ich weiß nicht. Sie haben also die Akte gelesen? «
Erika und Moss nickten.
»Die Sache mit Linda war ein großes Dilemma für mich. Sir Simon hat mich gebeten, die Anzeige zurückzuziehen. Was hätte ich tun sollen?«
»Tut mir leid, dass ich das Thema ansprechen muss, Giles, aber wussten Sie, dass Andrea sich auch mit anderen Männern getroffen hat?«, fragte Erika.
Osborne schürzte die Lippen. »Ich weiß es jetzt jedenfalls.«
»Und was empfinden Sie dabei?«
»Was glauben Sie denn wohl, was ich dabei empfinde, verdammt noch mal?! Wir waren verlobt. Ich dachte, sie wäre die Richtige. Klar, sie hat gern geflirtet, und ich hätte mir eigentlich denken können, dass es nicht immer dabei blieb, aber ich dachte, sie würde sich schon beruhigen, wenn wir erst mal verheiratet wären und sie einen dicken Bauch hätte.«
»Einen dicken Bauch?«, fragte Erika. »Sie meinen, wenn sie schwanger geworden wäre?«
»Ja. Ich hatte keine Ahnung, dass sie’s mit mehreren Männern getrieben hat. Anscheinend war sie sogar dumm genug, sich mit diesem Vollidioten Marco Frost einzulassen. Er hat Andrea Angst gemacht mit seiner Besessenheit. Glauben Sie, Sie haben genug gegen ihn in der Hand, um ihn ins Gefängnis zu bringen?«
Erika schaute Moss an. »Mr. Osborne, ich möchte Sie bitten, sich dieses Foto einmal anzusehen.« Sie legte das Foto von Andrea und dem dunkelhaarigen Mann auf den Tisch. Osborne warf einen Blick darauf.
»Nein. Den kenne ich nicht.«
»Ich habe Sie nicht gefragt, ob Sie den Mann kennen. Bitte, sehen Sie genau hin: Das Foto wurde neun Tage vor Andreas Verschwinden aufgenommen.«
Osborne betrachtete es noch einmal. »Gott, wer soll das sein? Wahrscheinlich einer von den vielen, die ihr schöne Augen gemacht haben.«
»Und was ist hiermit? Und hiermit … oder hiermit?«, fragte Erika und legte ein Foto nach dem anderen auf den Tisch: Andrea im Bett mit dem dunkelhaarigen Mann, nackt, ihre Brustwarze zwischen seinen Zähnen, dann Andrea mit dem Penis des Mannes im Mund.
»Was soll das?«, rief Osborne und sprang auf. Er hatte Tränen in den Augen. »Wie kommen Sie dazu, mich derart auszunutzen?«
»Sir, diese Fotos stammen aus Andreas zweitem Handy, das wir gerade gefunden haben. Dass wir Ihnen die Fotos zeigen, hat einen ganz bestimmten Grund. Sie wurden wenige Tage vor Andreas Verschwinden aufgenommen.«
Osborne ging zur Glastür. »Tut mir leid, aber ich bin heute hierhergekommen, um mich an Andrea zu erinnern und etwas über ihr Leben zu schreiben. Man hat mich gebeten, auf ihrer Beerdigung eine Rede zu halten, und jetzt kommen Sie und beschmutzen ihr Andenken mit pornografischen Fotos!« Er öffnete die Tür, um sie zum Gehen aufzufordern.
»Sir, wir glauben, dass der Mann auf den Fotos in den Mord an drei Osteuropäerinnen verwickelt ist, die hier als Prostituierte gearbeitet haben, und ebenfalls in den Mord an einer älteren Frau. Außerdem glauben wir, dass Andrea am Abend ihres Todes mit diesem Mann zusammen war«, erklärte Erika. Sie schaute Moss an. Osborne sah, wie die beiden einen Blick austauschten.
»Moment mal«, sagte er. »Was ist mit Marco Frost? Ich dachte, der wäre Ihr Mann. Chief Superintendent Marsh hat mir das versichert und Assistant Commissioner Oakley ebenfalls …«
»Es handelt sich um eine weitere Spur, die wir verfolgen«, sagte Erika .
»Sie haben also in Wirklichkeit überhaupt keine Ahnung, wer Andrea umgebracht hat, oder? Und jetzt kommen Sie auf einen vagen Verdacht hin hierher und schikanieren mich mit diesen Fotos? Andrea hatte ihre Fehler und ihre Geheimnisse. Aber sie war voller Liebe, und sie wollte nichts als Liebe …« Osborne brach in Tränen aus. Er hielt sich eine Hand vor den Mund. »Das ist mir alles zu viel. Bitte gehen Sie jetzt.«
Erika und Moss nahmen die Fotos vom Tisch und überließen Osborne seinem Kummer.
»Verfluchter Mist«, sagte Moss, als sie zu ihrem Wagen kamen, den sie ein paar Straßen weiter geparkt hatten.
»Ich hab’s ausgeplaudert, nicht Sie«, sagte Erika.
»Chefin, ich muss das alles DCI Sparks und Marsh berichten.«
»Ich weiß. Kein Problem.«
Moss fuhr Erika nach Hause. Trotz allem, was passiert war, trotz der neuen Erkenntnisse, die sie gewonnen hatten, waren sie der Wahrheit kein Stück näher gekommen. Der Moment, an dem sie wieder eingestellt und ihre Dienstmarke zurückbekommen würde, schien ferner denn je.
Als sie in ihrem Wohnzimmer das Licht einschaltete, sah sie ihr Spiegelbild im Fenster. Sie schaltete das Licht wieder aus. Sie schaute auf die menschenleere Straße hinaus. Alles war still. Sehr still.