52
Als Erika das Revier in der Lewisham Row betrat, wurde sie Zeugin einer Prügelei. Zwei halbwüchsige Jungs, die sich gegenseitig zu Fall gebracht hatten, wälzten sich über den Boden, angefeuert von diversen Geschwistern und ihren Müttern, die selbst noch Kinder waren. Der größere der beiden Jungs gewann die Oberhand und begann, das Gesicht seines Kontrahenten mit den Fäusten zu traktieren, bis seine Lippen blutig aufplatzten. In dem Moment bahnte sich Woolf einen Weg in das Getümmel, gefolgt von zwei uniformierten Kollegen.
Erika gelang es, unbeschadet zur Zwischentür vorzudringen, wo sie von Moss eingelassen wurde.
»Verdammt, ist das gut, Sie wieder hier zu haben, Chefin«, sagte Moss, als sie den Flur hinuntergingen.
»Immer mit der Ruhe. Ich wurde herzitiert, nicht eingeladen«, entgegnete Erika, nun war auch sie ein bisschen nervös geworden.
»Also, Marsh flippt total aus«, sagte Moss.
»Das kommt davon, wenn man sich von Außenstehenden vorschreiben lässt, wie man eine Ermittlung zu führen hat«, bemerkte Erika trocken.
Moss klopfte an die Tür zu Marshs Büro, und sie gingen sofort hinein. Marsh war blass. Er stand vor seinem Schreibtisch, den Blick auf den Computerbildschirm geheftet. BBC brachte gerade die Eilmeldung, dass Marco Frost aus der Haft entlassen worden war .
»Danke, Detective Moss«, sagte er. »DCI Foster, bitte nehmen Sie Platz.«
»Mir wäre es recht, wenn Moss bleibt, Sir. Sie hat an dem Fall gearbeitet, während ich …«
»Ich bin durchaus im Bilde über Ihre Ermittlungen.«
Es klopfte kurz, dann streckte Marshs Sekretärin den Kopf zur Tür herein. »Sir Simon Douglas-Brown ist am Telefon. Er sagt, es ist dringend.«
Marsh fuhr sich mit der Hand durch das kurze Haar. Er wirkte genervt.
»Ich bin gerade in einer wichtigen Besprechung, bitte teilen Sie ihm das mit. Ich rufe ihn so bald wie möglich zurück. Danke.«
Die Sekretärin nickte und schloss die Tür.
»Bin ich etwa Ihre wichtige Besprechung?«, fragte Erika. Marsh kam um seinen Schreibtisch herum und setzte sich. Erika und Moss zogen sich einen Stuhl heran.
Marsh bemühte sich zu lächeln. »Hören Sie, DCI Foster … Erika. Was passiert ist, ist bedauernswert. Ich gebe zu, dass man Sie womöglich unfair behandelt hat, und ich werde das Thema zu gegebener Zeit offiziell ansprechen. Aber wir befinden uns ganz plötzlich inmitten einer Krise. Wir müssen zurückrudern. Ich brauche alle Informationen und Erkenntnisse, die Sie aus Ihrer Privatermittlung gewonnen haben.«
»Die Sie jetzt hoffentlich zu Ihrer offiziellen Hauptermittlung machen?«
»Das werden wir sehen. Geben Sie mir erst mal alles, was Sie haben«, sagte Marsh.
»Nein«, sagte Erika.
»Nein?«
»Chef, ich erzähle Ihnen alles und lege Ihnen meine Theorien ausführlich dar, sobald Sie mir meine Marke zurückgegeben und mir wieder die Leitung der Ermittlung übertragen haben.« Erika lehnte sich zurück und sah Marsh herausfordernd an.
»Für wen halten Sie sich eigentlich, dass Sie glauben, Sie könnten hierherkommen und …«
»Okay. Viel Erfolg bei Ihrem Plausch mit Sir Simon. Grüßen Sie ihn von mir.« Erika stand auf und wandte sich zum Gehen.
»Was Sie von mir verlangen, ist so gut wie unmöglich. Gegen Sie wurden ernste Vorwürfe erhoben, DCI Foster!«
»Blödsinn! Assistant Commissioner Oakley hat mich auf Anweisung von Sir Simon Douglas-Brown von dem Fall abgezogen. Der kleine Matthew Paulson wandert seit Jahren von einem Erziehungsheim ins nächste. Er hat mehrere Sozialarbeiter tätlich angegriffen, und, ich wiederhole, als ich ihn geohrfeigt habe, hatte er seine Zähne in meine Hand geschlagen. Wenn das alles ist, was gegen mich vorliegt, bitte sehr, aber Sie verlieren eine Polizistin, die den Täter fassen kann. Und das werde ich der Presse genau so erzählen, denn ich werde nicht lautlos abtreten, das verspreche ich Ihnen.«
Marsh fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
»Sir, Marco Frost hat sich gerade ein Alibi verschafft, und Sie alle stehen da wie die Witzfiguren aus einem Polizeicomic. Ist DCI Sparks nicht auf die Idee gekommen, sich ein paar Hintergrundinformationen zu besorgen? Die Überwachungskamera in einem Zeitungsladen, Herrgott noch mal! Ach ja, und ich werde die Presse ebenfalls wissen lassen, dass dank Ihnen, DCI Sparks und dem Schlaufuchs Assistant Commissioner Oakley immer noch ein Mörder frei rumläuft.«
Marsh sah aus, als würde er gleich platzen. Erika hielt seinem Blick stand.
»Geben Sie mir den Fall zurück, und ich schnappe den Scheißkerl«, sagte sie.
Marsh stand auf, trat ans Fenster und betrachtete die trübe Januarlandschaft. Nach einer Weile drehte er sich um. »Also gut, verflucht noch mal. Aber ich halte Sie an der kurzen Leine, DCI Foster, ist das klar?«
Moss warf Erika einen triumphierenden Blick zu.
»Alles klar. Danke, Sir.«
Marsh setzte sich wieder. »Und jetzt erzählen Sie mir, was Sie rausgefunden haben.«
»Okay. Zunächst einmal: Wir gehen an die Öffentlichkeit. Wir rufen die Bevölkerung zur Mitarbeit auf, und falls Sie ein paar Beziehungen spielen lassen, damit wir eine Tatrekonstruktion im Fernsehen bringen können, wäre das großartig. Wegen Marco Frost werden wir eine Pressekonferenz abhalten, und bei der Gelegenheit müssen Sie die Presseheinis mit allem bombardieren, was wir tun, damit sie sich darauf konzentrieren und nicht auf das, was wir nicht getan haben.«
Marsh schaute Erika an. »Wir haben schon einmal verkündet, wir hätten den Mörder«, fuhr sie fort. »Das nächste Mal müssen wir uns ganz sicher sein, dass wir ihn auch tatsächlich haben. Also gehen wir in die Offensive. Konzentrieren wir uns auf George Mitchell. Sorgen wir dafür, dass das Foto von Andrea und ihm in jedem noch so kleinen Käseblatt abgedruckt wird … Außerdem brauchen wir einen Sündenbock. Die Presse wird verlangen, dass jemand für diesen Schlamassel bezahlt. Und ich weiß auch schon genau, wer das sein wird.«