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Erika fuhr herum und sah sich David gegenüber. Er trug einen grünen Pullover, eine dunkle Daunenweste und Jeans. Er nahm die SIM-Karte aus ihrem Handy, brach sie in zwei Stücke, ließ das Handy auf den Boden fallen und zertrat es mit dem Absatz seines Stiefels.
Erika betrachtete Davids Gesicht, aus dem alle Jugendlichkeit und Zuversicht verschwunden war. Seine Nasenflügel bebten, seine Augen funkelten, und er spuckte Feuer. Er sah aus wie der Teufel persönlich. Mit einem Mal wurde ihr alles klar. Wie dumm sie gewesen war.
»Ich dachte, Sie wären weggefahren, David«, sagte sie.
»Ich werde auch wegfahren. Ein Junggesellenabschied …«
Erika betrachtete das Buch, das sie hatte auf den Boden fallen lassen. Es war an der Stelle aufgeschlagen, an der sich der Londoner Stadtplan befand.
»Es ist im Buch nicht eingezeichnet, aber Sie haben auch Andrea umgebracht, nicht wahr?«, sagte Erika ruhig.
»Ja. Hab ich. Eigentlich eine Schande. Mit ihr konnte man viel mehr Spaß haben als mit Linda«, sagte David. »Ich weiß, was Sie denken. Warum Andrea und nicht Linda?«
»Und ist es das, was Sie denken, David?«
»Nein. Linda hat sich als nützlich erwiesen. Ihr kann ich den Mord an Andrea in die Schuhe schieben. Kucerow wird wegen der Nutten verurteilt, schließlich waren das seine
Pferdchen. Und Ivy Norris – das Stück Dreck hatte nichts Besseres verdient.
«
»Können Sie sich selber reden hören?«
»Klar, kann ich«, schnaubte David verächtlich.
»Warum haben Sie es getan?«
David zuckte die Achseln.
»Sie tun es mit einem Achselzucken ab? Das kaufe ich Ihnen nicht ab«, sagte Erika.
»Sie können es ruhig glauben«, zischte er. »Wollen Sie mich analysieren? Um zu erklären, was ich getan hab? Ich hab’s getan, weil ich es KANN.«
»Sie irren sich David, Sie können es nicht. Sie werden nicht damit davonkommen. Sie werden die Konsequenzen zu spüren bekommen.«
»Sie wissen ja nicht, wie es ist, mit Macht und Privilegien aufzuwachsen. Es ist berauschend. Zu erleben, wie die Leute ehrerbietig mit einem umgehen, mit den Eltern. Macht dringt einem aus den Poren, und sie steckt die Menschen um einen herum an. Macht korrumpiert, sie verführt und fasziniert. Je mehr Macht mein Vater hat, umso mehr fürchtet er, sie zu verlieren.«
»Er weiß also, dass Sie Tatjana Iwanowa, Mirka Bratowa und Karolina Todorowa umgebracht haben?«
»Na klar … Natürlich war er nicht gerade begeistert, aber sie kamen schließlich aus dem Osten. Diese Weiber glauben alle, sie können sich nach oben ficken.«
»Und Andrea? Sie war doch Ihre Schwester! Das Lieblingskind Ihres Vaters.«
»Sie hat gedroht, meiner Mutter alles zu sagen. Sie wollte es sogar der Scheißpresse stecken! Dumme Ziege. Das oberste Gebot für ein Leben in der Oberschicht lautet: Halt die Klappe. Sonst sorgt einer dafür, dass du sie hältst, und zwar endgültig.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr Vater bereit war, den Mord an seiner geliebten Tochter zu vertuschen.«
»Sie haben ja keine Ahnung. Er fürchtet nichts mehr als den
gesellschaftlichen Absturz. Er fürchtet sich davor, dass die anderen Wölfe über ihn herfallen und ihn zerreißen könnten … Angst ist viel stärker als Liebe. Er stand vor der Wahl, Linda oder mich zu retten. Linda ist sowieso nicht ganz dicht in der Birne, und sie hat Andrea so sehr gehasst, sie hätte es wahrscheinlich auch getan, wenn sie es gekonnt hätte.«
»Linda hätte Andrea niemals umgebracht«, sagte Erika.
»Ach, Sie machen sich für sie stark? Meine Fresse. Wahrscheinlich haben die meisten Leute Mitleid mit ihr, wenn sie erst mal ihr Zimmer gesehen haben … Wenn meine Freunde früher bei mir übernachtet haben, haben wir ihre kleine Katze immer in eine der Geldkassetten im Arbeitszimmer meines Vaters gesperrt. Linda musste alles Mögliche für uns tun, um den Schlüssel zu kriegen.«
Erika zwang sich, den Blickkontakt mit David zu halten. »Boots. So hieß ihr Kater.«
»Ja, der süße kleine Boots … Linda hat immer Tobsuchtsanfälle gekriegt, wenn sie ihren Willen nicht durchsetzen konnte. Ich habe eine solche Gelegenheit genutzt, um Boots aus dem Weg zu schaffen … hab ihn erwürgt, falls es Sie interessiert. Haben Sie schon mal versucht, eine Katze zu erwürgen?«
»Nein.«
»Ein Karnickel getötet? Ihr Slowaken esst doch gern Karnickel, oder?«
»Nein.«
»Bei Katzen muss man sich vor den Krallen hüten. Die Biester drehen komplett durch. Faszinierend, wie die um ihr Leben kämpfen.«
»Ihre Eltern sind intelligente Menschen. Sie werden doch wissen, dass Sie die Katze getötet haben«, sagte Erika.
»Das ist das Problem, wenn man die Erziehung seiner Kinder delegiert. Wenn man Kindermädchen anheuert und selbst nur
eine Statistenrolle spielt. Man sieht die Kinder vor dem Schlafengehen, mal eine Stunde hier, mal eine Stunde da. Komm mir nicht zu nah, Liebes, ich bin schon zum Ausgehen fein gemacht
… Ihr Kind wird auf eine statistische Größe reduziert: Er hat eine Eins in Mathe, er kann auf dem Klavier Für Elise
spielen … Wollen wir ihm nicht ein Polopony kaufen, dann können wir uns unter die Poloszene mischen …«
Einen Moment lang hing David seinen Gedanken nach, dann sah er Erika wieder an. »Jedenfalls gehe ich davon aus, dass Ihre ganzen Verhöre ergebnislos geblieben sind, oder? Mein Vater hat Lindas Schweigen für sie sehr lukrativ gemacht. Und sie wird den Mord an Andrea gestehen, sie hat’s mir versprochen.«
»Warum hätte sie Ihnen das versprechen sollen?«
»Ich habe ihr gesagt, wenn sie es tut, kriegt sie wieder eine Katze und braucht nicht zu befürchten, dass ich ihren kleinen Liebling um die Ecke bringe.«
»Das ist nicht Ihr Ernst«, sagte Erika.
»Darauf können Sie wetten. Sie wird auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren und ein paar Jahre in irgendeiner teuren Psychoklinik absitzen müssen. Wahrscheinlich wird mein Vater irgendeinen Pfleger dafür bezahlen, dass er’s ihr ab und zu mal ordentlich besorgt … Vielleicht darf sie auch wieder eine Katze haben … Eine Muschi für die Muschi, ha ha.« David lachte. Ein schrilles, ausgeflipptes Lachen.
Erika nutzte die Gelegenheit und machte einen Satz in Richtung Zimmertür, aber David war schneller. Er packte sie am Hals und schleuderte sie so heftig gegen das Bücherregal, dass ihr die Luft wegblieb. Aber diesmal war sie auf seinen Angriff gefasst: Sie holte aus und versetzte ihm einen Hieb auf die Nase. Mit einem satten Knirschen brach sein Nasenbein, und sein Griff lockerte sich. Es gelang Erika, ihn von sich wegzustoßen und zur Tür zu stürzen, doch er erwischte sie am Arm, bevor sie draußen
war, und riss sie herum. Sie krachte gegen den Schreibtisch, und er warf sich wieder auf sie. Blut lief ihm übers Kinn, sein Gesicht war wutverzerrt. Erika trat und schlug um sich, während sie gleichzeitig nach Luft japste. Um sie unter Kontrolle zu bekommen, stieg David auf sie und schaffte es, einen ihrer Arme mit seinem Knie zu fixieren.
Mit ihrer freien Hand tastete sie den Schreibtisch ab, bis sie einen Briefbeschwerer zu packen bekam, den sie ihm gegen das Ohr schlug. Er ließ sie los, und es gelang ihr, sich aus seinem Griff zu befreien, doch ehe sie die Tür erreichte, hatte David sich schon wieder erholt, streckte eins seiner langen Beine aus und brachte sie zu Fall. Er beugte sich mit seinem blutigen Gesicht über sie und fletschte die Zähne zu einem triumphierenden Grinsen. Sie schlug und trat und kratzte und kämpfte wie ein Tier, um sich zu befreien, doch er presste sie auf den Boden. Dann holte er aus und schlug ihr ins Gesicht: einmal, zweimal. Beim dritten Schlag spürte Erika, wie ihr ein Zahn ausbrach und in den Rachen rutschte, dann wurde ihr schwarz vor Augen.