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Das Hinweisschild zum Bahnhof Ebbsfleet International tauchte über der Straße auf. David betätigte den Blinker und verließ die M25. Er verlangsamte das Tempo in der Schleife, die auf die stark befahrene A2 führte. Nach der Abfahrt in Richtung der Bluewater Shopping Mall, die sich mit ihren futuristisch anmutenden Glastürmen aus einer Senke erhob, die einmal eine Kalkgrube gewesen war, ließ der Verkehr jedoch nach. David fuhr weiter, vorbei an einer Industriebrache, an Wiesen und vereinzelten Bäumen. Schließlich bog er auf einen Rastplatz ab. Er musste aussteigen, um eine Kette zu lösen, die die Zufahrt zu einem schmalen Feldweg versperrte.
Erika hatte gegen die Panik angekämpft, die ihr die Kehle zuschnürte – gegen das Grauen, zusammen mit einer Leiche eingesperrt zu sein, und gegen die Angst vor dem, was passieren würde, wenn sie ihr Ziel erreichten. Sie hatte sich gezwungen, den Körper neben ihr nach Lebenszeichen zu untersuchen, und so festgestellt, dass es sich um eine tote Frau mit langem Haar handelte. Neben dem Schloss hatte sie zwei winzige Lichtpunkte entdeckt. Langsam war sie mit den Fingern darübergefahren in der Hoffnung, eine Schwachstelle an dem fettigen Mechanismus zu entdecken, eine Möglichkeit, das Schloss zu öffnen. In einer Kurve war die Tote wieder gegen sie gerollt, woraufhin Erika in Panik geraten war, verzweifelt an dem Schloss herumgefingert und sich dabei zwei Fingernägel abgebrochen hatte. Der Schmerz hatte sie davor bewahrt durchzudrehen, und sie hatte sich gezwungen nachzudenken. Und ruhig zu bleiben.
Zu überleben.
In der Matte unter ihr hatte sie ein kleines Loch entdeckt, das dazu diente, sie herauszunehmen, wenn man an das darunterliegende Werkzeug und das Reserverad kommen wollte. Sie hatte sich auf die Tote legen müssen, um die Matte so weit anheben zu können, dass sie in den Hohlraum greifen konnte. Sie ertastete einen Schraubenschlüssel und zog ihn heraus. Ihre nass geschwitzten Hände schlossen sich um das kalte Metall. Der Wagen hielt an, und sie machte sich bereit. Eine Tür wurde geöffnet, das Auto schwankte leicht. Kurz darauf schwankte das Auto wieder, offenbar war David erst aus-, dann wieder eingestiegen. Die Tür wurde zugeschlagen, dann setzte der Wagen sich wieder in Bewegung und rumpelte über unebenen Boden. Erika spürte, wie die Tote von hinten gegen sie rollte. Sie schloss die Augen und versuchte nachzudenken, sich auf das zu konzentrieren, was sie tun würde.
David fuhr langsam über den holprigen Weg, der zu einem großen, stillgelegten Steinbruch führte, dessen Grund unter Wasser lag. Zwanzig Meter vor dem Steinbruch hielt er an, schaltete den Motor ab, stieg aus und ging bis an den Rand. Die Wände des Steinbruchs waren glatt, aus den Felsspalten wuchsen vereinzelte Grasbüschel und ein kleiner Baum. Fünfzehn Meter unter ihm lag die stille Wasseroberfläche. Die Stellen, die noch gefroren waren, schimmerten silbrig im Licht der Morgensonne. Zur Linken am Horizont war die Bluewater Shopping Mall zu erkennen; in der entgegengesetzten Richtung verließ gerade ein Hochgeschwindigkeitszug den Bahnhof Ebbsfleet und fuhr lautlos mit Ziel Paris in Richtung Eurotunnel.
David schaute auf seine Armbanduhr: Ihm blieb gerade noch genug Zeit. Er nahm seine Reisetasche aus dem Wagen und stellte sie auf dem Boden ab. Er öffnete die hintere Tür und vergewisserte sich, dass die Kindersicherung aktiviert war. Dann nahm er das schwere Lenkradschloss aus dem Fußraum vor dem Beifahrersitz und ging um den Wagen herum. Er lauschte kurz, packte das Lenkradschloss fest und öffnete mit der freien Hand den Kofferraum.
Ein fürchterlicher Gestank schlug ihm entgegen, der hier an der frischen Luft besonders widerlich war. Nichts rührte sich im Kofferraum. Er beugte sich vor, um Erika herauszuziehen, doch ein Arm schnellte ihm entgegen und traf ihn mit einem Schraubenschlüssel seitlich am Kopf.
Er wankte ein paar Schritte rückwärts und sah Sterne, aber als sie aus dem Kofferraum klettern wollte, fuhr er herum und erwischte sie mit dem Lenkradschloss am linken Knie. Stöhnend fiel sie zu Boden. Er ließ das Lenkradschloss auf ihr rechtes Knie niedersausen. Sie schrie auf. Er packte sie an den Armen, schleppte sie um das Auto herum zu der offenen hinteren Tür.
»Lassen Sie den Quatsch!«, fuhr er sie an.
»David, es muss nicht so enden«, keuchte sie mit schmerzverzerrter Miene. Sie konnte ihre Beine nicht bewegen, der Arm, auf dem sie gelegen hatte, war taub, und sie fühlte sich immer noch benommen von dem Schlag gegen ihren Kopf. Verzweifelt versuchte sie nachzudenken. Ihr Kopf krachte gegen den Türrahmen, als David sie auf die Rückbank wuchtete. Er knallte die Tür zu. Erika schaute sich um. Sie saß hinter dem Fahrersitz. Sie sah ihr Gesicht im Rückspiegel. Ihr blondes Haar war auf einer Seite blutverschmiert und klebte ihr am Kopf. Ein Auge war violett verfärbt und zugeschwollen. Sie rüttelte an der Tür, doch sie war verriegelt. Unter Schmerzen beugte sie sich zur anderen Tür hinüber, aber auch hier kam sie nicht raus.
Die Beifahrertür wurde aufgerissen, und Leichengestank breitete sich im Wagen aus. David schob die Tote ins Auto, die noch grauenvoller aussah, als Erika es sich vorgestellt hatte. Sie hatte langes, dunkles Haar, ihr Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit verfärbt und aufgedunsen und wies mehrere Schnittwunden auf. An den Schläfen waren ihr die Haare büschelweise ausgerissen worden. Erika schaute an sich hinunter und entdeckte Haarsträhnen der Toten an ihrer Jacke.
Nachdem David die Tote auf den Beifahrersitz geschoben hatte, fiel ihr Kopf zur Seite. Erika sah die milchig weißen Augen der Frau, der die geschwollene schwarze Zunge aus dem Mund hing.
»David, hören Sie. Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber Sie werden nicht damit davonkommen … Wenn Sie sich jetzt ergeben, kann ich …«
»Sie sind doch echt ein größenwahnsinniges Miststück«, höhnte er. »Sie hocken mit kaputten Knien in einem Auto mitten in der Pampa und glauben immer noch, ich würde mich Ihnen ergeben.«
»David!«
Er beugte sich vor und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht. Ihr Kopf wurde nach hinten geschleudert. Einen Moment lang war ihr schwarz vor Augen. Als sie wieder zu sich kam, spürte sie, wie ihr ein Sicherheitsgurt angelegt wurde, und hörte die Schnalle einrasten. Dann wurde die Tür neben ihr zugeschlagen. David beugte sich über den Fahrersitz und löste die Handbremse.
»Sieht so aus, als würde es heute Nacht wieder Frost geben«, sagte er. Er knallte die Fahrertür zu, und gleich darauf setzte der Wagen sich in Bewegung.
Der Wagen rollte immer schneller, während David ihn im Laufschritt anschob. Ein paar Meter vor dem Abgrund ließ er los, und der Wagen stürzte in die Tiefe .
Erika spürte, wie die Räder die Bodenhaftung verloren. Der Horizont schien nach oben zu schießen, und eine schwarze Fläche kam auf die Windschutzscheibe zugerast. David hatte sie und die Tote angeschnallt, trotzdem war der durch den Aufprall verursachte Peitscheneffekt unerträglich schmerzhaft. Einen Moment lang war der Wagen von Schwarz umgeben, dann richtete er sich aus und kam wieder an die Oberfläche. Das Wageninnere wurde von Tageslicht durchflutet. Erika suchte panisch nach der Schnalle des Sicherheitsgurts, doch sie ließ sich nicht lösen. David hatte die Fenster ein paar Zentimeter weit geöffnet, sodass nun eiskaltes Wasser in den Wagen drang, der sich schnell füllte. Erika hatte damit gerechnet, Zeit zum Reagieren zu haben. Verzweifelt versuchte sie, die Tür neben sich zu öffnen, aber die Kindersicherung war aktiviert. Innerhalb weniger Sekunden reichte ihr das hereinströmende Wasser bis zur Brust. Sie holte so viel Luft, wie sie konnte, dann verstummte das laute Rauschen, und sie befand sich unter Wasser. Das Auto sank entsetzlich schnell, und es wurde immer dunkler.
Als der Polizeihubschrauber über dem Steinbruch stand, sahen Moss und Peterson, wie Davids Wagen über den Rand rollte und in die Tiefe stürzte. Sie hatten Funkverbindung zur Einsatzzentrale in der Lewisham Row, und mehrere Streifenwagen sowie ein Krankenwagen waren unterwegs.
»Der Verdächtige flüchtet«, sagte Moss. Eine an der Unterseite des Hubschraubers montierte Rundumkamera sendete Bilder direkt in die Einsatzzentrale. »Höchste Alarmstufe. Der Verdächtige rennt nach Norden in Richtung Bahnhof Ebbsfleet.«
»Verdammt, was ist, wenn sie in dem Auto sitzt?«, fragte Peterson.
»Verstärkung trifft in vier bis fünf Minuten ein«, sagte Marsh über Funk .
»DCI Foster muss in dem Wagen sein. Runter, runter, runter!« Der Hubschrauber setzte zur Landung an. Weißer Staub aus dem Steinbruch wirbelte auf. Moss und Peterson sprangen aus dem Hubschrauber, duckten sich unter den Rotorblättern und hielten sich die Hände gegen den Staub vor die Augen. Die Sekunden verrannen, während unten im Wasser Luftblasen an die Oberfläche stiegen und sich in großen Kreisen verteilten.
»Sie dürfen von der Schusswaffe Gebrauch machen, aber ich will ihn lebend«, hörten sie Marsh übers Funkgerät sagen.
Peterson rannte zu einer Stelle, von wo ein Weg in den Steinbruch hinunterführte. Moss folgte ihm, während sie ins Funkgerät schrie.
»Wir gehen davon aus, dass eine Polizistin in dem Wagen sitzt, der ins Wasser gestürzt ist. Ich wiederhole, eine Polizistin ist in dem Auto unter Wasser gefangen.«
»Noch drei Minuten«, meldete sich eine Stimme aus dem Funkgerät.
»Verdammt, wir haben keine drei Minuten mehr!«, schrie Moss.
Der Hubschrauber hob ab, flog über die Steinbruchkante und ging in den Sinkflug, bis er sich direkt über der Wasseroberfläche befand. Peterson hatte jetzt das Ufer erreicht, riss sich ohne zu zögern die Jacke vom Leib, legte seine Waffe ab, watete ins Wasser und schwamm los. An der Stelle, wo das Auto untergegangen war, tauchte er.
Marshs Stimme war über Funk zu hören: »Sofort durchgeben. Der Verdächtige ist flüchtig. Haben wir Verstärkung am Bahnhof Ebbsfleet? Ich wiederhole: Haben wir Verstärkung? Wenn er in den verfluchten Zug steigt …«
»Verstärkung ist unterwegs, und der Bahnhof wird gerade abgeriegelt«, war eine Stimme zu hören.
»Moss, melden Sie sich. Auf unserem Bildschirm ist zu sehen, dass Peterson im Wasser ist. «
»Ja, Sir, DI Peterson ist getaucht. Ich wiederhole: DI Peterson ist getaucht«, sagte Moss, am Rand des Wassers stehend.
»Großer Gott!«, sagte Marsh.
Es herrschte Funkstille, während der Hubschrauber über dem Wasser schwebte und die Rotorblätter eine ovale Vertiefung in der Oberfläche erzeugten. Sekunden vergingen.
»Mach schon, verdammt! Mach schon!«, murmelte Moss. Sie wollte gerade hinter Peterson herwaten, als er aus dem eisigen Wasser auftauchte, die schlaffe Erika in den Armen.
Über ihnen ertönten plötzlich die Sirenen des Krankenwagens, mehrerer Streifenwagen und der Feuerwehr. Aus dem Hubschrauber wurde ein Rettungsseil herabgelassen, und es gelang Peterson, es um sich selbst und Erika zu legen. Er reckte den Daumen hoch, dann wurden sie aus dem Wasser gezogen und zu der Stelle geschleppt, wo Moss stand.
»DCI Foster scheint schwer verletzt zu sein, und sie ist bewusstlos«, sagte Moss in ihr Funkgerät. »Es gibt einen Weg runter links von dort, wo ihr reingekommen seid, wir sind am Wasser. Ich wiederhole, DCI Foster ist nicht bei Bewusstsein!«
Peterson und Erika wurden vom Hubschrauber abgesetzt. Vier Sanitäter kamen den Abhang heruntergerannt. Sie lösten Erika vom Rettungsseil und legten sie vorsichtig ab.
Peterson, der vor Kälte zitterte, wurde eine Foliendecke übergelegt. Die Sanitäter begannen mit ihren Wiederbelebungsmaßnahmen bei Erika. Ein paar Minuten lang herrschte angespannte Stille, während die Sanitäter wortlos arbeiteten. Endlich schnappte Erika nach Luft, hustete und spuckte Wasser.
»Okay, auf die Seite«, sagte einer der Sanitäter und half ihr in die stabile Seitenlage. Sie hustete immer noch, spuckte Wasser und sog keuchend Luft in ihre Lunge.
»DCI Foster ist aus dem Wasser geborgen, und sie lebt«, sagte Moss in ihr Funkgerät. »Verflucht, sie lebt.«